Konstitutionslehre: Von der Norm zum Individium

von Gunter Frank

Das Konzept der Ernährungsempfehlungen ist gescheitert. Sämtliche groß angelegten und prospektiven Studien haben bewiesen, dass die Ratschläge nichts nutzen. Egal ob es um Fett oder Salz, um Ballast- stoffe oder Vitamine ging: Nie kam für den Verbraucher ein Nettonutzen heraus. Allem Anschein nach hält sich der menschliche Organismus nicht an die Theorien der Wissenschaftler.
Schließlich hätten sich die Empfehlungen doch wenigstens da und dort bewähren müssen. Gescheitert sind jedoch nicht nur die allgemeinen Ratschläge, sondern auch die Empfehlungen für Stoffwechselkranke. Beispielhaft ist das Eingeständnis in der aktuellen Ausgabe der Ernährungsumschau, dass der Diabetiker „weitestgehend“ so zu ernähren sei wie der Gesunde. Wie viele Menschen aber haben an die wissenschaftlichen Gebote geglaubt und sich umsonst gequält? Und wie vielen mag es geschadet haben?

Zynische Berater

Es muss einem zu denken geben, dass die Empfehlungen zur Energiezufuhr von Mädchen im Alter von vier bis sieben Jahren von 1.300 Kilokalorien am Tag auf 1.000 gesenkt wurden. Offenbar waren bereits die Vorgaben für Säuglinge überhöht. Nirgendwo aber haben falsche Ernährungsratschläge gravierendere Folgen als hier. Denn die Hersteller von Babykost sind dazu angehalten, die DGE-Empfehlungen bei ihrer Dosierungsanleitung zu berücksichtigen. Und natürlich bemühen sich die verunsicherten Mütter, ihren Lieblingen die empfohlenen Mengen einzuflößen. Zynisch, wenn Ernährungsexperten anschließend Übergewicht bei Kindern beklagen, um dann wiederum mehr Beratung einzufordern.
Doch auch mit neuen Daten wird das fehlerhafte Konzept nicht aufgehen. Die Grundannahme, aus der die heutigen Empfehlungen abgeleitet werden, stellt sich mehr und mehr als falsch heraus. Der menschliche Organismus ist kein genormtes Riesenkalorimeter, dem einfach die zuvor kalkulierten Nahrungsmittelbestandteile einzutrichtern sind, um anschließend ein Gesundheitsergebnis mit Garantie zu erzielen.
Was den Beratern an wissenschaftlichen Fakten fehlte, glichen sie oft genug mit missionarischem Eifer aus. Etwa wenn David Kritchevsky, einer der profiliertesten US-Ernährungsexperten, ein Buch über Cholesterin mit den Worten einleitete: „Wir fürchten weder Gott noch die Kommunisten. Wir fürchten das Fett.“ Aber irgendwann geraten alle Dogmen ins Wanken. Als Lee Hooper und seine Kollegen (siehe Seite 21 in der Printausgabe) ihre Metaanalyse nach den Regeln der evidenzbasierten Medizin beendet hatten, blieb von der Furcht vor dem Fett nur noch blankes Entsetzen über die Fettforscher übrig. Von weltweit 17.000 Studien, die Ernährungsmediziner in den letzten 40 Jahren an ihren Patienten durchgeführt hatten, entsprachen nämlich nur 27 den wissenschaftlichen Mindestansprüchen an eine Untersuchung, die sich dem Nettonutzen einer fett-und cholesterinbewussten Ernährung widmet. Gegen dieses Ergebnis verblasst sogar das eigentliche Resultat der Metaanalyse. Die nämlich belegt, dass eine fettbewusste Ernährung das Leben der Menschen nicht verlängert.
Dabei sollte nicht unterschlagen werden, dass all diese Studien nur Durchschnittswerte ermitteln. Über den einzelnen Studienteilnehmer sagen sie wenig aus. So geht der Patient nicht ohne Grund lieber zum Arzt als zum Statistiker. Der Mensch ist einmalig, sowohl was seine genetische Ausstattung als auch was seine Lebensumstände betrifft. Und ärztliches Wissen auf Individuen zu übertragen ist das täglich Brot des Therapeuten. „Was den einen nährt, bringt den anderen um“, notierte der Römer Lukrez schon vor 2000 Jahren. Alle alten Kulturen beachteten die natürlichen Unterschiede und entwickelten daraus individuelle Typenlehren und Ernährungsratschläge. Niemand wäre in den vergangenen Jahrtausenden auf die Idee gekommen, alle Menschen mit einer Elle zu messen. Diese fabelhafte Fehlleistung blieb dem wissenschaftlichen Zeitalter vorbehalten

Das Ende der Vorwissenschaft

Die Ernährungswissenschaft also eine Irrlehre des 20. und 21. Jahrhunderts? Nicht unbedingt. Der Erkenntnisgewinn ist die eine Sache, die Ergebnisse zu werten und daraus Ratschläge für die Allgemeinheit abzuleiten eine andere. Hierfür gibt es Regeln, beispielsweise die Maßstäbe der evidenzbasierten Medizin. Legt man diese an, dann hat die Elite der Ernährungsexperten
Schlussfolgerungen gezogen, von denen sie aufgrund ihres Erkenntnisstandes noch weit entfernt war. Es mag sein, dass die Gesellschaft die Wissenschaft um Ratschläge bittet und diese sogar einfordert. Das aber rechtfertigt noch keine vorschnellen Empfehlungen. Was spricht eigentlich dagegen, diese ebenso rigoros zu überprüfen wie die Wirkung eines Medikamentes oder die Statik eines Hauses?
Wo Schatten ist, findet sich auch Licht. Zu den Lichtblicken gehört sicherlich folgendes Urteil von Hans-Konrad Biesalski, seines Zeichens Professor am Institut für Biologische Chemie und Ernährungs- wissenschaft an der Universität Hohenheim: „Die meisten Aussagen [der Ernährungswissenschaft] können lediglich als vorwissenschaftliche Erkenntnis angesehen werden.“ Die Ökotrophologie bezeichnet Biesalski als „subjektiv, regional und inkohärent“ - eine diplomatische Formel für unwissenschaftlich, provinziell und widersprüchlich. Aus seiner Sicht wird künftig der Einfluss der menschlichen Gene auf die Ernährung im Mittelpunkt stehen. Ob dieser Quantensprung gelingt und ob er den einzigen Weg darstellt, um das Fach zu erneuern, sei dahingestellt.
Schließlich sind Gesundheit und Ernährung weit mehr als Genetik. Der Anstoß der Ernährungsgenetiker könnte aber zumindest dazu beitragen, dass nicht mehr alle Menschen über einen Kamm geschoren werden. Und damit wäre schon viel gewonnen.

Ausgabe Eulenspiegel 2-3/2002
Schwerpunkt: Konstitutionslehre

Von der Norm zum Individium

Inhalt der Ausgabe

Schwerpunkt
konstitutionslehre
- Von der Norm zum
  Individium

- Konstitutionelles
  Denken
- Konstitution:
  durch dick und dünn
- D`Adamo:
  Blutgruppendiät

- Blutgruppe und
  Konstitution
- Nutrigenomics
  auf gute Gene hoffen
- Zeit für evidenz-
  basierte Ernährungs    -medizin
Nährstoffe
- Fette Flops
Gentechnik aktuell
- Hormonelle Eska-
  paden
Functional Foods
- Lebensmittel mit
   Idee
Deklaration
- Nahrungsergän-
  zungsmittel und
  Health Claims

Facts und Artefacts
- Diabetes durch
  Karotten
- Wildschweinereien
- Sportlernahrung:
  australisches
  Roulette
- Epilepsie durch
  Aromatherapie
- Fruchtfliegen
  scharf auf Aroma
- Flughunde lösen
  Ernährungsrätsel
- Wenn Schwangeren
  übel wird...
- Neotame: eine
  neuer Süßstoff
- Leberzirrhose durch
  Bienenhonig
- Vaterschaftstest
  für Wein
- Genistein als Risiko
  für Brustkrebs?
- Von Darmkrebs
  und Ballaststoffen
- Aufatmen bei
  Brauern und
  Winzern
- Angriff der Herings-
  würmer
- Schleierhafte Amin-
  Gehalte
- Risiko durch
  Vitamin A

- Vitamin E fördert
  Grippe
- Mit Vitaminen zum
  Weltfrieden
- Pestizid-Ver-
  giftungen
- Vitamin C: nichts
  für Sportler
- Menüplanung bei
  Affen
- Chlorequat: Alt-
  lasten im Obst-
  garten
- Epilepsie: Fett statt
  Pillen
- Ataxie nach Weizen
- Fromme Keime
- Dämpfer für
  Zöliakie

In aller Kürze
- Mozart: Tod durch
  Schnitzelbrot
- Neue Zielgruppe für
  Ernährungsberater
- Weniger Fluor -
  weniger Karies
- Nicht totzukriegen:
  EHEC im Salat
- Unfallursache
  Toxoplasmose
- PCB: dumm
  gelaufen
- Kussverbot für>
  Erdnüsse
- Biodiversität:
  Holland
- Bidodiversität:
  Holland
- Biodiversität
  Global
- Geschmack durch
  Begasung
- Pressehaftung bei
  Schlankheits-
  werbung
- Benzypren im
  Ziegeltee
- CLA: mageres
  Ergebnis

Die besondere Erkenntnis
- Herzenssachen

Impressum

Sumo
EU.L.E.n-SPIEGEL

EU ropäisches Institut für

  L ebensmittel- und    

  E rnährungswissenschaften e.V.

EULE41