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Gefährliche Zeiten?

Im Mittelalter war eine Fahrt mit dem Pferdewagen zum nächsten Dorf gefährlicher als heute jeder Transatlantikflug... Foto: Bilderbox

Im Mittelalter war eine Fahrt mit dem Pferdewagen zum nächsten Dorf gefährlicher als heute jeder Transatlantikflug... Foto: Bilderbox

Von Franz M. Wuketits

Sicherheit ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Ein übersteigertes Sicherheitsbedürfnis im privaten und öffentlichen Leben lässt aber pathologische Züge erkennen.

Ich passiere die Kontrollen am Flughafen Frankfurt am Main. Da ich dort in den letzten Jahren praktisch immer Unannehmlichkeiten erlebt habe – einmal musste ich sogar die Schuhe ausziehen –, rechne ich auch dieses Mal mit Problemen und beginne, mich prophylaktisch zu ärgern. Ich lege mein Handgepäck auf das Förderband. In diesem Augenblick dreht sich der zuständige Sicherheitsbeamte, statt auf dem Bildschirm den Inhalt meines Gepäcks aufmerksam zu betrachten, ein wenig zur Seite, gähnt und schließt dabei – reflexartig – kurz die Augen. Meine Tasche und die Tasche des Fluggastes hinter mir passieren unkontrolliert.

Sicher um jeden Preis?

Diese kleine Episode ereignete sich im September des Vorjahres. Seit dem verhinderten Terroranschlag in einer Maschine kurz vor der Landung in Detroit am 25. Dezember 2009 reißen die Debatten um die Sicherheit von Flugzeugen und Flughäfen nicht ab; und werden durch verschiedene Sicherheitspannen auf mehreren Flughäfen zusätzlich angeheizt. Der Einsatz von "Nacktscannern" oder "Ganzkörperscannern" – man nenne die Geräte, wie man will – wird auch in einigen Ländern der Europäischen Union ernsthaft in Erwägung gezogen. Sicherheit um jeden Preis? Sehen wir einmal davon ab, dass diese Scanner einen veritablen Eingriff in die Intimsphäre jedes Passagiers bedeuten und das Schamgefühl mancher Menschen verletzen würden: auch sie können keine absolute Sicherheit garantieren.

Jede noch so raffinierte Technologie neigt hin und wieder zu Fehlfunktionen. Niemand kann ausschließen, dass einmal ein müder Sicherheitsbeamter einen vom Scanner angezeigten verdächtigen Gegenstand übersehen wird.

Außerdem beschränkt sich die Terrorgefahr ja nicht auf die Luftfahrt. Bekanntlich waren auch Eisenbahnzüge schon Zielscheiben für terroristische Anschläge – mit verheerenden Folgen. Gewiss, aus psychologischen Gründen fühlen wir Erdenbürger uns in der Luft im Allgemeinen etwas unsicherer als auf festem Boden. Von Menschen mit ausgesprochener Flugangst einmal abgesehen. Aber nüchtern betrachtet macht es natürlich keinen Unterschied, ob jemand in der Luft oder auf der Erde in Stücke gerissen wird. Terroristen können sich verschiedene Ziele aussuchen – Bahnhöfe, Einkaufszentren, Autobusse; und das alles ist ja auch schon passiert.

Versicherungen

Also müsste man, konsequenterweise, letztlich auch jedem Fahrgast in der Eisenbahn und in einem Autobus sowie jedem Besucher eines Einkaufszentrums vorsorglich "auf den Leib rücken" (im buchstäblichen Sinn des Wortes). Und auch bei Sport- und anderen Massenveranstaltungen müsste man jeden Besucher scannen. Zu Ende gedacht, würde das früher oder später zu einer Erlahmung des öffentlichen Lebens führen – aber ohne dass jeder mögliche Unsicherheitsfaktor wirklich beseitigt wäre.

Sicherheit ist ein menschliches Grundbedürfnis. Wir wollen uns in unseren Wohnungen sicher fühlen, unser jeweiliges Reiseziel sicher erreichen, unser Geld sicher angelegt wissen und überhaupt sicher durchs Leben kommen. Dass uns am Ende der sichere Tod erwartet, ist uns freilich keinesfalls angenehm. Da den meisten von uns der gesunde Menschenverstand aber sagt, dass sich nicht jede Gefahr vermeiden und jedes Risiko ausschließen lässt, haben wir die Möglichkeit gefunden, uns versichern zu lassen. "Durch die Versicherung", so ist im "Neuen Brockhaus" aus dem Jahr 1939 nachzulesen, "kann der einzelne . . . sich gegen die Wechselfälle des Lebens decken, indem er das Risiko eines zukünftigen schädigenden Ereignisses von sich abwälzt". Als ob man ein Risiko so einfach "von sich abwälzen" könnte! Dass sich diese Aussage ausgerechnet in einem 1939 (!) erschienenen Lexikon findet, ist zusätzlich bemerkenswert. Aber versichern beruhigte schon immer – vor allem die Versicherungsgesellschaften, die fette Versicherungsbeiträge kassieren.

Risiko-Kalkulation

Das Leben an sich ist ja ein Risiko. Eine triviale Erkenntnis. Es ist ziemlich gleichgültig, was wir tun oder zu tun unterlassen – jederzeit kann uns ein Ziegelstein oder, falls wir uns vorsichtshalber nur noch in unseren eigenen vier Wänden aufhalten, die Decke (buchstäblich) auf den Kopf fallen. Wir haben ein merkwürdiges Verhältnis zum Risiko. Wir kalkulieren viele Risiken falsch, schätzen die Gefahr vieler Situationen schlecht ein – und fürchten uns oft auch vor Ereignissen, deren Eintreten höchst unwahrscheinlich ist. Klar, in der komplexen Welt, in der wir leben, pocht auch das Unwahrscheinliche auf sein Recht. Aber was ist, unserem subjektiven Empfinden gemäß (!), wahrscheinlich oder unwahrscheinlich, was gefährlich oder ungefährlich?

Dazu ein kleines Beispiel. Jährlich werden weltweit im Durchschnitt hundert Angriffe von Haien auf Menschen gemeldet, von denen fünf bis zehn für die Angegriffenen tödlich verlaufen. Zum Vergleich: Allein in Österreich sind zwischen Jänner und August 2007 fünf Menschen bei Reitunfällen ums Leben gekommen. Natürlich ist ein Haiangriff spektakulärer als ein Reitunfall. Haie gelten denn auch nach wie vor als gefährliche Bestien, obwohl sie für den Menschen eine weit geringere Gefahr darstellen als dieser für sie. Das Reiten auf dem Rücken eines Pferdes erscheint den meisten Menschen wohl kaum als lebensgefährlich. Sowohl Haiangriffe als auch Reitunfälle lassen sich freilich vermeiden; niemand ist gezwungen, in einem Gewässer zu schwimmen, in dem nachweislich Haie leben, und niemand braucht auf einem Pferd zu reiten. Schutz vor Naturkatastrophen gibt es allerdings nicht. Einem Unwetter kann man nicht ausweichen (und wenn die Kapriolen der Natur einmal bestimmte Dimensionen erreichen, nützt auch eine Versicherung dagegen herzlich wenig).

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Die meisten Unfälle passieren nicht im Straßenverkehr, sondern in den eigenen vier Wänden. Foto: Bilderbox

Im Übrigen passieren die meisten Unfälle bekanntlich im Haushalt. Nach einem Bericht der "Süddeutschen Zeitung" vom 8. Februar 2008 sind in Deutschland im Jahr 2006 nicht weniger als 6455 Menschen zu Hause ums Leben gekommen. Bei Verkehrsunfällen im gleichen Zeitraum starben "nur" 5174 Menschen, während wohl kein einziger Deutscher einem Terroranschlag zum Opfer gefallen ist. Terroristen erzeugen Angst und Schrecken (darin besteht ja gleichsam das Wesen des Terrors) – aber niemand fürchtet sich vor dem Gasherd in seiner Küche, und es scheint (bemerkenswerterweise) kaum jemanden zu geben, der durch den Bericht über eine Gasexplosion in Panik versetzt würde.

"Patendlösungen"

Paul Watzlawick (1921–2007) prägte den treffenden Ausdruck Patendlösung für jede "patente" Lösung eines Problems, die nicht nur dieses selbst, sondern zugleich auch alles mit ihm Zusammenhängende aus der Welt schafft. Sie beruht auf unserer – irrationalen – Überzeugung, dass mehr von etwas Gutem automatisch besser sein müsse. Wenn also zum Beispiel bei Kopfschmerzen eine Tablette lindernde Wirkung erzielt, müssen zwei Tabletten die Wirkung doch verdoppeln, drei verdreifachen und so weiter. Am Ende sind dann jedoch nicht nur die Kopfschmerzen weg, sondern womöglich der Patient tot.

Jeder gute Arzt weiß um die Bedeutung moderater Dosierung von Medikamenten. Da wir derzeit nicht nur von Terroristen bedroht werden, sondern uns auch vor gewöhnlichen Banditen in Acht nehmen müssen, ist es durchaus ratsam, sich abzusichern. Um sich vor Einbrechern zu schützen, bietet sich ein Sicherheitsschloss an. Sicherer sind aber zwei solcher Schlösser, noch sicherer drei und so weiter. Irgendwann freilich wird dabei die Sicherheit selbst zur Gefahr. Spätestens dann, wenn jemand seine Wohnungstür von innen mit so vielen Sicherheitsschlössern versperrt, dass er etwa im Falle eines Wohnungsbrandes viel zu lange braucht, um die Tür zu öffnen und sich ins Freie zu retten. Watzlawick hatte recht: Sicherheit ist "des Menschen Erbfeind jederzeit".

Das Bedürfnis des Menschen nach Sicherheit lässt sich, wie jedes seiner Bedürfnisse, künstlich hochschrauben. Wie es nicht besonders schwer ist, jemandem Schuldgefühle einzupflanzen, so ist es auch ziemlich leicht, ein Gefühl der Unsicherheit zu erzeugen. Man muss dabei nur einschlägige Beispiele zur Hand haben und diese oft genug dem Einzelnen vor Augen führen. Und man braucht nicht sehr tief in die psychologische Trickkiste zu greifen, um einem bereits ein wenig verunsicherten Menschen deutlich zu machen, dass noch weit Schlimmeres geschehen könnte, wenn er nicht im Interesse der Sicherheit drastische Maßnahmen ergreife. Schließlich kann man das Nichteintreffen eines gefährlichen Ereignisses mit dem Hinweis "erklären", dass ja viele Sicherheitsmaßnahmen bereits getroffen worden seien – und man mit weiteren Sicherheitsvorkehrungen noch Schrecklicheres verhindern könne. Auf diese Weise lässt sich die "Sicherheitsspirale" geradezu ins Absurde hochschrauben.

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Auch Überwachungskameras und andere technische Geräte garantieren keine absolute Sicherheit. Foto: Bilderbox

Massenmedial verstärkt, schüren Politiker heute den Wunsch nach gesteigertem Sicherheitsbedürfnis, was allmählich pathologische Ausmaße annimmt und in einer nie dagewesenen Regulierungswut seinen Niederschlag findet. Mit dem menschlichen Grundbedürfnis nach Sicherheit und den damit verbundenen Ängsten lässt sich nicht nur ein gutes Geschäft machen, sondern auch die totale Entmündigung des Bürgers rechtfertigen. Jede Überwachungsmaßnahme und deren Verstärkung dient ja angeblich nur seiner Sicherheit, und daher werden wir – nach dem von Watzlawick beschriebenen Prinzip – in Zukunft wohl immer mehr Überwachsungskameras, Sicherheitsschlösser, Rauchmelder, Sicherheitsberater, Kontrolleure und öffentliche sowie private Wachorgane benötigen.

Die "Patendlösung" könnte also bereits in nicht allzu ferner Zukunft eintreten. Sie würde jede spontane kreative Regung des Einzelnen im Keim ersticken und eine Normierung nicht nur des öffentlichen, sondern auch des privaten Lebens bewirken. "Freiheit" hat ihren Preis, Sicherheit aber auch. Der "freie Mensch" nimmt gewisse Risiken in Kauf, der "sichere" kann allerdings nicht jedes Risiko ausschließen – und lebt obendrein "unfrei". Man will uns heute, wie es scheint, deutlich machen, dass wir in einer besonders gefährlichen Epoche leben, die am 11. September 2001 begonnen hat. Es kommt jedenfalls nicht von ungefähr, dass dieses Datum immer wieder erwähnt wird. Die schrecklichen Ereignisse jenes Tages haben in unserem Gedächtnis Spuren hinterlassen, sollten aber als Legitimierung politischer Aktionen auf Kosten der Freiheit und Mündigkeit des Einzelnen nicht akzeptiert werden.

Mehr Gelassenheit

Ist denn die heutige Zeit wirklich um so viel gefährlicher als es frühere Zeiten waren? Nein, das Gegenteil ist der Fall! Im Mittelalter war eine Fahrt mit dem Pferdewagen zum nächsten Dorf gefährlicher als heute jeder Transatlantikflug, und die Kriminalität in europäischen Großstädten war im 18. und 19. Jahrhundert höher als heute. Wir haben also – was in Ermangelung der historischen Perspektive gern übersehen wird – bereits ein sehr hohes Maß an Sicherheit gewonnen. Die verbleibenden Unsicherheiten und Risiken sollte man uns also getrost lassen.

Damit will ich nicht zur Leichtfertigkeit aufrufen. Aber etwas mehr Gelassenheit wäre durchaus angebracht. Glaubt man den um unsere Sicherheit ach so besorgten Politikern und Massenmedien, könnte man fast den Eindruck gewinnen, dass heutzutage überall Terroristen lauern. Dass dem nicht so ist, bedarf wohl keiner eigenen Begründung. Der mündige Bürger wird daher nur jenes Maß an staatlich diktierter Sicherheit akzeptieren, das der Integrität seiner Person zuträglich ist. Diese Integrität zu definieren, darf nicht jenen überlassen werden, die ein Mehr an Sicherheit in den Dienst ihrer eigenen Machtgelüste stellen. Wer jedoch im Ernst meint, sämtliche Risiken ließen sich vermeiden, wäre besser erst gar nicht geboren worden.

Franz M. Wuketits lehrt in Wien Wissenschaftstheorie mit besonderer Berücksichtigung der Biowissenschaften und ist Vorstandsmitglied des Konrad Lorenz-Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung. Zu seinen zahlreichen Büchern zählen "Lob der Feigheit" (Hirzel, Stuttgart 2008) und "Darwins Kosmos – Sinnvolles Leben in einer sinnlosen Welt" (Alibri, Aschaffenburg 2009).

Printausgabe vom Samstag, 13. Februar 2010
Online seit: Freitag, 12. Februar 2010 14:49:00

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