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Irland, Familie, Liebe und Tod

Enright, Anne: Das Familientreffen

Anne Enright bei der Verleihung des Booker-Preises.Foto: EPA/Daniel Deme

Anne Enright bei der Verleihung des Booker-Preises.Foto: EPA/Daniel Deme

Dublin: Enrights Geburtsort und Roman-Schauplatz.Foto: Wikimedia

Dublin: Enrights Geburtsort und Roman-Schauplatz.Foto: Wikimedia

Von Jeannette Villachica

Die Dubliner Schriftstellerin Anne Enright setzt auf Frauenfiguren, um existenzielle Fragen zu behandeln.

Draußen rüttelt der Wind an den Bäumen. Anne Enright ist gerade von einem Fototermin in ihr Hamburger Hotel zurückgekehrt. Ihr burschikos geschnittenes Haar ist zerzaust, ihr Gesicht wirkt ungeschminkt. Die warmen, großen, dunklen Augen stehen in irritierendem Kontrast zum winzigen Mund und der rauen, kräftigen Stimme. Ein unkomplizierter, uneitler Mensch voller Energie, eine ehrliche Haut: so der erste Eindruck. Man kann sich gut vorstellen, wie Anne Enright am Strand von Bray etwas südlich von Dublin spazieren geht, wo sie seit sechs Jahren mit ihrem Mann, einem Theaterregisseur und -intendanten, und ihren zwei Kindern lebt. Nur der weite Ausschnitt von Enrights schwarzem Pullover passt irgendwie nicht in dieses Bild.

Anne wirkt von Anfang des Interviews an skeptisch. Auch wenn sie im letzten Jahr "professioneller" geworden sei, wie sie sagt, und "die Dinge, die über mich oder meine Bücher geschrieben werden, nicht mehr so persönlich" nehme – auf Fragen zu ihrer Person und zum neuen Ruhm reagiert die Mittvierzigerin eher widerwillig. Seit ihr Roman "Familientreffen" 2007 mit dem renommierten Booker-Preis ausgezeichnet wurde, ist es mit dem ruhigen Leben der gebürtigen Dublinerin, die, anders als die meisten Iren, keine Auswanderer beziehungsweise Rückkehrer in der Familie aufzuweisen hat, vorbei.

In den letzten Monaten wurde Anne Enright unter anderem in Kolumbien, Paris, den USA, Shanghai, Hongkong und Mailand und auch häufig am Telefon interviewt, und musste dabei immer wieder abwehren: Nein, sie selbst sei nicht in so einer riesigen Familie aufgewachsen, wie Veronica Hegarty, die Erzählerin im "Familientreffen". Ja, sie und ihre vier Geschwister würden sich gut verstehen. "Niemand schreit, niemand weint, niemand sagt böse Dinge", stellt Enright mit einer Mischung aus Wut, Ironie und Ungeduld unmissverständlich klar.

Komplexe Familienbande

Jeder in ihrer Familie wüsste, dass ein Roman fiktiv sei. Und "daher nimmt es mir niemand übel, dass ich über so schwierige Familienbande wie die der Hegartys schreibe." Im übrigen hasst sowieso jeder seine eigene Familie, glaubt sie. "Eine Freundin von mir hat gesagt, sie könne ihre Familie nicht mehr sehen, sie würden zu heftig streiten. Aber wer tut das nicht? Wir verbringen viel Zeit damit, unsere Familie zu hassen. Was nicht bedeutet, dass wir sie nicht trotzdem lieben." Auch Veronica könne Liam, der als Kindihr Lieblingsbruder war, erst voll und ganz lieben, als er tot ist. "Die fünfzehn Jahre davor hat sie ihn nicht einmal gemocht."

Anne Enrights vierter Roman, das preisgekrönte "Familientreffen", spielt im Dublin der Gegenwart; das alte Irland ist jedoch allgegenwärtig. Die 39-jährige Veronica ist die Verlässliche in ihrer Familie. Sie hat zwei liebe Töchter und ein Haus in einer guten Gegend. Die Probleme mit ihrem Mann hat sie mehr oder weniger erfolgreich verdrängt. Dann aber bricht der Tod ihres gebrochenen, vom Alkohol ausgelaugten Bruders über sie herein. In einem dunklen, sprachlich schillernd ausgearbeiteten Bewusstseinsstrom schwimmt Veronica fortan durch verschiedene Realitäts- und Zeitebenen. Wer sich dem rauen Charme dieser Familientragödie hingibt, wird durchgeschüttelt, geohrfeigt, erlebt aber auch, wie Trauer und Glück, Liebe und Hass ineinander verschmelzen.

Nachts, wenn Veronica nicht schlafen kann, versucht sie Liams saubere weiße Knochen gefällig zu arrangieren. Denn ihr Bruder liebte Vögel und "wie alle Jungen liebte er die Knochen toter Tiere", schreibt Enright. Darum, und weil Knochen etwas Handfestes sind, anders als das, was Veronica sonst von ihrem Lieblingsbruder geblieben ist, hält sie kurz inne, wenn sie am Strand oder im Wald auf ein kleines Tierskelett stößt. Dann sieht sie Liam vor sich, wie er den "feinen Knochenbau bewunderte, die alten Arme einer Elster, die aus dem struppigen Federkleid ragten; kurz und hell und sauber". Ihren Töchtern sagt sie, sie sollen sich vom toten Finken fernhalten, der an der Gartenmauer verwest. "Ich weiß nicht einmal, warum."

Vielleicht weil Veronicas Töchter zu einem anderen Menschenschlag gehören: "Sie sind noch nie allein die Straße hinuntergegangen und haben sich noch nie ein Bett geteilt. Sie scheinen aus Zweigen und Blüten gemacht zu sein und nicht aus Fleisch."

Rebecca und Emily wachsen nicht in einer wuchernden Familie auf, mit einer durch zwölf Geburten und sieben Fehlgeburten ständig schonungsbedürftigen, "nebelhaft ungreifbaren" Mutter, einem um sich schlagenden Vater und überforderten älteren Geschwistern. Veronicas Töchter würden nie zeitweise zur Oma ausgelagert werden, wie Veronica, als sie acht Jahre alt war, gemeinsam mit Ian und ihrer Schwester Kitty.

Seit Ians Selbstmord wird Veronica von Szenen eingeholt, die sich damals in der Garage ihrer Großmutter abspielten. Dabei kann sie nicht mit Gewissheit sagen, ob sie wirklich geschehen sind. Vielleicht sind sie auch Teil ihrer durch Trauer, Schlafmangel und Schuldgefühle befeuerten Hirngespinste. Denn neben den noch lebenden Geschwistern versammeln sich auch die Toten, Verlorenen und Verrückten der Familie im Haus von Veronicas alter, vergesslicher Mutter.

Trotz ihrer Trauer verbietet Veronica sich und den anderen Familienmitgliedern jegliche Sentimentalität: "Ita hat ihren Dienst bei der Leiche angetreten. Als ich an der guten Stube vorbeikomme, lehnt sie am Türpfosten, ein Glas mit zähflüssigem Wasser in der Hand. Sie weint. Vielleicht ist sie auch nur undicht." Veronicas Erzählung steckt voller Ironie, Sarkasmus und Wut auf ihre Sippschaft, auf "die ganze ermüdende Litanei", vor allem auf ihre Mutter, dieses "zeitlose Mädchen".

Irische Mütter seien "auch in der Literatur so wichtig, dass sie oft tot oder zumindest abwesend sind", sagt Anne Enright lächelnd. "Vor allem, wenn Männer über sie schreiben." Sie selbst sieht sich in der Tradition unbequemer irischer Literaten wie James Joyce oder John McGahern – "heute wegen seiner subversiven, manchmal obszönen, damals als gefährlich eingestuften Prosa eine Art Heiliger".

Auch Enrights Blick auf ihre Figuren ist gnadenlos, ihre Sprache einmal zart, voller Wärme oder aufrichtig sinnlich, dann wieder so spröde oder drastisch, dass man sich fast dagegen sträubt von den poetischen, überraschenden Bildern, die sie zeichnet, entzückt zu sein.

Inhaltlich ist Enrights Prosa allerdings weniger revolutionär. Teil ihres Projekts sei es, über unterschiedliche Frauen zu schreiben: "Ich will ihnen ganz normale Probleme und Ängste geben", erklärt sie und verzieht sogleich das Gesicht, als nähme sie diesen Satz lieber wieder zurück.

Drastische Mutterbilder

Banalitäten sind freilich sonst eher nicht Enrights Sache, vor allem nicht solche sprachlicher oder literarischer Natur. Während einige ihrer irischen Geschlechtsgenossinnen mit leichter Unterhaltungsliteratur, auch ChickLit genannt, seit Jahren Millionen verdienen, beackerte sie meist von Männern behandelte Themen wie Vergangenheitsbewältigung, die Modernisierung Irlands, Familienverhältnisse, Liebe, Tod, aber auch Sexualität und Mutterschaft aus weiblicher Sicht

Über die Mutterschaft ist ein Buch entstanden, das aus der Reihe fällt: "Ein Geschenk des Himmels – Erlebnisse einer Mutter" enthält ob seiner Ehrlichkeit – wie immer bei Enright – drastische, aber auch überaus amüsante Essays übers Mutterdasein. Das Buch habe sie verfasst, um der Angst entgegen zu wirken, dass ihr nach der Geburt ihrer Kinder das Schreiben nicht mehr wichtig sei, erzählt die Autorin, und bedeckt plötzlich ihr Decolleté mit einem dicken Wollschal.

Natürlich ist die Autorin froh, dass ihr Werk endlich breite Anerkennung findet. Nach dem Studium der Anglistik und Philosophie am Trinity College in Dublin studierte sie Creative Writing an der renommierten University of East Anglia im englischen Norwich. Sechs Jahre lang arbeitete sie als Produzentin beim irischen Fernsehen und schrieb nur an den Wochenenden. Für ihren ersten Erzählungsband, "Die tragbare Jungfrau", erhielt sie 1991 den Rooney Prize for Irish Literature. Es folgen weitere Auszeichnungen, dennoch verkauften sich ihre Bücher bis zum Booker-Preis nicht besonders gut.

Eigentlich sei sie vor ihrem Durchbruch stolzer auf sich gewesen als jetzt, meint Enright. Weil sie nämlich durchhielt, weiterhin die Bücher schrieb, in denen auch sie selbst Unerwartetes fand. Beim "Familientreffen" sei es ihr ursprünglich um jene Stellen gegangen, "wo Fantasie auf Erinnerung trifft, wo Erinnerung zu Tatsachen und über Jahrhunderte hinweg zu Geschichte wird". Die Familiengeschichte der Hegartys habe sich dagegen ganz natürlich ergeben. Veronica als Protagonistin sei jedoch ein Glücksgriff gewesen, meint ihre Schöpferin. "Um existentielle Fragen zu behandeln, sind Frauenfiguren eine gute Wahl."

Für Veronica eröffnet sich schließlich die Aussicht auf Erlösung, auch wenn Anne Enright uns eine simple Lösung verwehrt. "Für mich ist das Traurigste an der Geschichte", so die Autorin, "dass Veronica am Ende immer noch leer ist, keine Bedürfnisse und Wünsche mehr hat. Sie denkt dauernd an Sex und Körperlichkeit, aber es ist nicht ihr Sex und ihr Körper. Ihr Denken befindet sich fast immer außerhalb ihrer selbst."

Darin bestehe für sie die "ruhigere Traurigkeit dieses Buches. "Nicht, dass es auch sonst traurig genug wäre", sagt Enright und lacht. "Immerhin kann Veronica ihr altes Leben wieder aufgreifen. Ich finde, das muss genügen. Für mich ist dieses Ende 'happy enough'."

Die Autorin

Jeannette Villachica, geboren 1970, lebt als Kultur- und Reisejournalistin in Hamburg.

Anne Enright: Das Familientreffen. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008, 344 Seiten, 20,60 Euro

Printausgabe vom Samstag, 07. März 2009

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