Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Portal zum ouml;esterreichischen EU-Vorsitz 2006 Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon   Glossen    Bücher    Musik 

Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Die Vermüllung der Welt

Die Erzeugnisse der Industriegesellschaft sind auch auf der Halde noch unverwüstlich
Unverzichtbar, aber meist unbedankt: die Arbeit des Müllmannes.

Unverzichtbar, aber meist unbedankt: die Arbeit des Müllmannes.

Zuweilen entwickelt der Abfall auch eine Poesie eigener Art. Fotos: Robert Bressani

Zuweilen entwickelt der Abfall auch eine Poesie eigener Art. Fotos: Robert Bressani

Von Ingeborg Waldinger

Wo sich der Mensch herumtreibt, lässt er Müll zurück. Manch irdische Schöpfung regnet gar als himmlischer Schrott, als Weltraummüll auf die Erde hernieder. Die terminologische Unterscheidung zwischen Müll und Abfall orientiert sich primär am Kriterium der Verwertbarkeit des Ausrangierten und Abgesonderten. Demnach bezeichnet der Begriff "Müll" Güter, die nicht mehr gebraucht und weggeworfen werden. Sie lassen sich mit entsprechender Technik erneut dem Produktionsprozess zuführen. Die Kategorie "Abfall" umfasst hingegen die unbrauchbaren, schmutzigen Überreste der Zivilisation. Sie entziehen sich im Allgemeinen der weiteren Verwertung. Ausnahmen bestätigen die Regel: Schlachtabfälle landen im Tierfutter, Mist (noch immer) auf den Feldern.

Das endgültige "Aus-der-Welt-Bringen" von Gütern und Stoffen hat indes seine Tücken. Die Halbwertszeit radioaktiven Abfalls etwa erreicht – mit dem deutschen Kulturkritiker Bazon Brock gesprochen – den Ewigkeitsanspruch von Göttern: "Wenn der strahlende Müll unsere Zukunft wesentlich vorherbestimmt, müssen wir die Theologie der Zerstörung um die der Vermüllung ergänzen."

Entsorgungsfragen

Die Erzeugnisse der Industriegesellschaft erweisen ihre Unverwüstlichkeit weniger im Nutzungsprozess als auf der Halde. Begeistert schafft der Homo faber seine Welt der Polymere: "Plastik" ist billig und praktisch, leicht und robust. Doch wie wird man das Zeug wieder los? Der Schaumstoff Polystyrol zum Beispiel, besser bekannt unter dem Markennamen Styropor, verrottet einfach nicht. Dieses Faktum erregte 1989 den Unmut eines amerikanischen Teenagers namens Tanya Vogt. Von ihrem Lehrer ökologisch wach geküsst, zog die Schülerin gegen den teuflischen Kunststoff zu Felde. Ihre Initiative gegen Becher und Warmhalteverpackungen aus dem FCKW-haltigen Ozonkiller zeitigte bald Erfolge. Schul-Cafeterias ersetzten Styroporverpackungen durch Pappteller und -becher, ja selbst McDonald‘s gab dem wachsenden öffentlichen Druck nach und packte seine Macs fortan in Tüten aus Umweltpapier.

Altpapier hat einen erheblichen Anteil an der Gesamtmüllmenge. Zu Verpackungs- oder Dämmstoffen recycelt, kehrt es auf den Markt zurück. Altglas liefert wertvollen Rohstoff für die Glasproduktion, und Schrott gilt als begehrte Zutat beim Stahlkochen. Recycling hat also viele Gesichter. Im Jahr 1974 wurde in Richmond/Virginia ein sonderbares Haus errichtet. 124.000 Einweg-Glasflaschen wurden zu Bausteinen gepresst, 200.000 Aluminiumdosen zu Dachbalken und Fensterrahmen verarbeitet. Alte Autoreifen lieferten das Material für die Hauszufahrt. Das Experiment "Recycling-Haus" sollte Absatzmärkte für Materialien erschließen, die aus Müll gewonnen werden.

Wiederverwertungsverfahren sind keine Erfindung der Moderne. Das Umschmelzen von Altmetall zu neuen Utensilien hat in vielen Kulturen Tradition, desgleichen das Kompostieren von Abfällen zu Humus. Selbst der Fleckerlteppich aus Alttextilien wurde nicht erst von Designern eines schwedischen Möbelhauses erdacht. Auch das Verbrennen von Überresten ist nicht neu. Was einzelne Verwertungs- oder Entsorgungsmethoden heute in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückt, sind deren Folgen für die Umwelt. Denn der immer komplexer werdende Müllmix hinterlässt unerbittliche Spuren. So erzeugt Müllverbrennung wohl nützliche Energie, setzt aber gleichzeitig Schadstoffe frei. Kläranlagen reinigen Abwasser, produzieren aber auch Klärschlamm, der nur dann als Bodendünger Verwendung findet, wenn sein Schadstoffanteil gering ist. Andernfalls gilt dieser Rückstand als Sondermüll und bedarf einer ähnlich fachgerechten Entsorgung wie giftige Chemikalien und leicht entflammbare, infektiöse oder radioaktive Substanzen. Was so plausibel klingt, beschreibt ein Ideal, aber nicht die Realität. Denn Umweltschutz – und dazu gehören auch die sachgemäße Beförderung, Lagerung und Wiederverwertung von Müll – ist sowohl eine Frage der Leistbarkeit als auch des politischen Willens. Während die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Dritten Welt wenig Raum für ökologische Themen lassen, gefährden westliche Industrienationen ihre Standards durch den Handel mit Verschmutzungsrechten. Und in einer großen Grauzone gedeiht das Schattengewächs der Umweltkriminalität.

Die Müllberge dieser Welt wachsen also weiter, ob als kontrollierte Deponie oder wilde Kippe. Sie wachsen mit der Weltbevölkerung, der Produktivität und dem Konsum. Dieser Prozess ist nicht aufzuhalten, nur einzudämmen. Somit kommt der Müllvermeidung größte Bedeutung zu. Verpackungsverordnungen zwingen die Industrie, ihre Konsumartikel in alternative Hüllen zu stecken.

Die äußerst langlebigen Säcke aus Polyäthylen sollten nicht länger unsere Lebenswelt bedrohen. Sie wurden sogar schon Meeresbewohnern zum Verhängnis. Schildkröten hatten die in Ozeanen treibenden Plastiksäcke für Quallen gehalten und waren an dem vermeintlichen Futter kläglich erstickt. Mittlerweile liefern Fasern aus Jute und Hanf, aber auch Maisstärke und Milchsäure biologisch abbaubare Rohstoffe für Tüten und Taschen.

Neben derlei "Bioplastik" eroberten Recycling-Fasern aus "echtem" Plastik den Markt. In den 1990er Jahren landeten zerschredderte und zu Fasern verschmolzene PET-Flaschen als "Eco-Spun"-Textilien im Handel. Das Öko-Präfix verlieh den eher verschmähten Synthetics eine Aura politischer Korrektheit.

Konsum hält das westliche Wirtschaftssystem in Schwung, doch die permanente Beschleunigung der Verbrauchszyklen bedingt auch eine rasante Entwertung der Dinge. Jedes neue Modell, das auf den Markt drängt, lässt das Vorgängerprodukt "alt" aussehen. Die heroische, patriarchalisch-hauswirtschaftliche Periode des "Vom-Mund-Absparens" ist passé. Längst hat der Verbrauch von Gütern Vorrang vor deren Anhäufung und Bewahrung. Der schnelle Wechsel von Moden bringt selbst eine neue Form des Feudalismus hervor, die Kreditwirtschaft. Denn der moderne Verbraucher konsumiert nicht nach Maßgabe seiner Mittel. Er kauft zuerst und arbeitet dann das Erworbene ab, wie der französische Soziologe Jean Baudrillard schon in seinem 1968 erschienenen Essay "Das System der Dinge" festgehalten hat.

Objekte, an denen der Konsument seinen Spaß verliert, entsorgt er unbeschwert. Ähnlich verfährt er mit geistigen Inhalten, die ihn nicht mehr zu fesseln vermögen. Gedrucktes landet im Altpapier-Container, elektronische Dateien und "Spam" werden gelöscht. Der virtuelle Papierkorb dient als Zwischenlager. Dem "Informationsmüll" hatte schon Heinrich Bölls "Wegwerfer" in der gleichnamigen Satire (1958) den Kampf angesagt: Er entwarf eine ausgeklügelte Wegwerftheorie, um Firmen von unnötigen Drucksachen zu entlasten.

Kunst aus Müll

Müll gehört zur Ordnung unseres Systems, mag er auch dessen Kehrseite darstellen. Dennoch gilt es, den Blick aufs Ganze nicht zu verlieren. Die Kunst kommt diesem Auftrag nach. Seit den 1960er Jahren gräbt sie den Müll wieder aus, formt ihn zu Kunstobjekten und weckt so ein Bewusstsein für das Abseitige, Schmutzige. Müllkunst wandelt Unwertes in Erhabenes, Chaos in Ordnung. Robert Rauschenbergs Abfall-Assemblagen etwa "fallen" ebenso in diese Kategorie wie Jean Tinguelys wundersame Schrottmaschinerien oder Daniel Spoerris zu Tafelbildern erstarrte Geschirrstücke und Essensreste. Die österreichische Gruppe Gelatin lockte Ausstellungsbesucher in ein neodadaistisches Meer aus PET-Flaschen. Die menschlichen Körper wurden Teil einer beklemmenden Installation. Der Kölner Aktionskünstler HA Shult stellt Regimenter lebensgroßer "Müll-Figuren" auf die schönsten Plätze dieser Welt. Eintausend Stück umfasst sein Mahnmal "Trash-People."

In zynischer Vermarktung von Müll übt sich offenbar die Designer-Bewegung des "Up-Cycling". Das Schweizer Duo Markus und Daniel Freitag bastelt Taschen aus ausrangierten Lastwagenplanen, Sicherheitsgurten oder Fahrradschläuchen. Die Kreationen gelten als begehrtes Szene-Attribut der Lifestyler und genießen Kult-Status. Denn das arbeitsaufwendige Recycling-Design kommt nur in kleinen Serien oder in Unikaten auf den Markt. Ungewöhnliches hat natürlich seinen Preis. Dem einträglichem Geschäft wollte sich auch der Sportschuh-Hersteller Puma nicht verschließen. Er fabrizierte exklusive Turnschuhe aus Alttextilien, – in limitierter Auflage (510 Stück). Jedes Exemplar wurde mit Zertifikat und einem Foto des Ausgangsmaterials versehen. Die rasch ausverkaufte Serie wurde mit dem Slogan "Shoes with souls" beworben. Gebrauchte Dinge besitzen eben eine eigene Geschichte, eine "Seele". Zeichnet sich da eine Flucht aus der unterkühlten Postmoderne in eine ramschige "Kompostmoderne" ab?

Mülltheorien

Der zeitgenössische amerikanische Autor Don DeLillo bietet in seinem Roman "Unterwelt" ein Sittenbild der modernen (US-)Gesellschaft. Darin weist er Repräsentanten der Abfallkultur eine zentrale Rolle zu: Nick Shay managt ein Müllentsorgungsunternehmen, Jesse Detwiler verbreitet abstruse Mülltheorien und Konzeptkünstlerin Klara Sax bemalt abgetakelte B52-Bomber. Das Coverfoto des Romans zeigt das World Trade Center und einen Vogel, der auf die Türme zusteuert. Davor erhebt sich eine bauliche Struktur mit einem riesenhaften Kreuz. DeLillos "Unterwelt" erschien übrigens im Jahr 1997.

Der Mensch verursacht Müll, der Müll verursacht Kosten und Schuldgefühle. Tausende "Müllmenschen" durchkämmen die Abfallhalden der Dritten Welt nach Nahrung und anderem noch Verwertbarem. Erschütternde Bilder gehen um den Erdball und verblassen wieder. Die Überfluss- und Wegwerfgesellschaft schafft keine gerechtere Welt, dafür eine problematische Entsorgungsphilosophie. Wer oder was keinen wirtschaftlichen oder sozialen Nutzen hat, landet im Abseits, auf der "Müllhalde der Geschichte."

Literaturhinweise:

Don DeLillo: Unterwelt. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Verlag Kiepenhauer & Witsch, Köln 1998.

Michael Thompson: Mülltheorie. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten. Klartext-Verlag, Essen 2003.

Ingeborg Waldinger , geboren 1956, lebt als freie Journalistin in Wien.

Freitag, 13. Jänner 2006

Aktuell

Blicke aufs Häusermeer
Erhöhte Aussichtspunkte haben schon immer Schaulustige angelockt
Wer übernimmt die Führung?
Die kommenden Probleme und Entwicklungen der Weltwirtschaft – Ein Panorama
In Millionendimensionen
Grundlegende Befunde über den allseits sichtbaren Wandel Chinas

1 2 3

Lexikon



Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum