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„Wir fressen alle zuviel"

Ein Gespräch mit dem Psychiater Professor Peter Gathmann über die komplexe Problematik der Eßstörungen

Von Lisa Grotz

„W iener Zeitung": Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel „Der verwundete Arzt". Worum geht es darin?

Peter Gathmann: Es geht um die Psychologie und die Behandlung von Medizinern und Helfern. Die meisten Helfer haben ein Selbsthilfebegehren. Es gibt eine Berufung zum Beruf des Arztes, die aus dem
Schmerz einer persönlichen physischen oder psychischen Verwundung resultiert.

„W. Z.": Seit wann befassen Sie sich mit der Magersucht, der Bulimie, den Eßstörungen?

Gathmann: Seit 20 Jahren. Ich habe damals von Professor Ringel die Station übernommen. Mein Kollege und Freund Dr. Wiesnagrotzki und ich arbeiten gemeinsam auf dieser Station. Wir haben mehr und
mehr Eßstörungen zu sehen bekommen und mittlerweile einen Ruf in deren Behandlung.

„W. Z.": Wie definieren Sie die Eßstörung? Die renommierte Münchner Ärztin Monika Gerlinghoff meint, daß es noch immer keinen wirklichen Schlüssel zum Verständnis von Anorexie und Bulimie gibt,
daß das Krankheitsbild nach wie vor von einem Mythos besetzt sei. Nicht umsonst ging dem Begriff der Anorexia nervosa, dem nervösen Hunger, die Anorexia mirabilis, der wundersame Hunger voraus.

Gathmann: Für mich ist die Anorexie zunächt einmal überhaupt nichts Mystisches oder Mythisches. Für mich ist das eine Störung in der Haltung der Patientin zu ihrem eigenen Körper und zur
Regulierung der Dinge, die sie in sich aufnehmen möchte. Wir sagen zwar, keine Anorexie gleicht der anderen, aber es gibt doch einige gemeinsame Nenner, wie die gestörte Selbstwahrnehmhmung, die
Selbstisolierung, die Fixierung auf Nahrung als Lebensmittelpunkt. Natürlich ist auch etwas Erstaunen-Erzwingendes im Balanceakt der Magersüchtigen, die mit einem Minimalgewicht ungewöhnliche
körperliche und geistige Leistungen erreichen. Es ist etwas Wundersames, wie wenig Macht der Körper über den Geist haben kann.

„W. Z.": Würden Sie wie Monika Gerlinghoff von positiven, unterschätzten Aspekten der Krankheit sprechen?

Gathmann: Das würde ich unterschreiben, weil jede neurotische Erkrankung zur Zeit ihres Entstehens die bestmögliche Lösung zur Bewältigung eines Problems gewesen ist. Das heißt, ich sehe in der
Pubertätsaskese eine spirituelle Leistung, die unter unglücklichen Vorzeichen in eine Magersucht münden kann.

„W. Z.": Wenn Sie von einer spirituellen Leistung sprechen, klingt das für mich schon auch nach etwas Mystischem.

Gathmann: Für mich sind spirituelle Leistungen etwas unendlich Konkretes. In der Pubertät gibt es eine Geistigkeit, die auf Verzicht ausgerichtet ist, ein Nein zur Fülle, zum Leben, ein Ja zur
Askese. Die Botschaft der Magersüchtigen impliziert auch, daß wir alle falsche Vorstellungen zu unserem körperlichen Mechanismus haben: Wir fressen alle zuviel.

„W. Z.": Sehen Sie in diesem Ja zur Askese eine notwendige oder hilfreiche Erfahrung auf dem Weg ins Erwachsenenleben?

Gathmann: In der Pubertät geht es um ein Kontrollbewältigungsverhalten. Die animus-besetzte Neurotikerin · um die Jungianische Terminologie zu gebrauchen · ringt mit der aufkommenden sexuellen
Triebhaftigkeit. Magersüchtige sehen sich meist als Geistesmenschen, sie suchen nach Ordnungsmustern, wollen Unsicherheitsfaktoren in ihrem Leben ausklammern. Die Aufmerksamkeit, die sie ihrem Körper
entgegenbringen, steht symbolisch für eine ideale Paßform in einer Regelwelt. Und natürlich ist in einer Regelwelt kein Platz für die Entfaltung der Individualität. So entwickelt sich ein
masochistisches Bedürfnis nach Selbstauflösung. Die Maxime der Magersüchtigen lautet: „Je schlechter ich mich fühle, um so besser geht es mir." Es geht darum, daß die Magersüchtige den Weg zur
seelischen Dimension der Weiblichkeit findet · zur Anima.

„W. Z.": Was löst die Beschäftigung von Anorektikerinnen bei Ihnen aus?

Gathmann: Sie hat mir nicht den Appetit verdorben. Ich bin ein großer Vielfraß vor dem Herrn.

„W. Z.": Keine Wut oder Aggression?

Gathmann: Um Gottes willen, dann könnte ich sie ja nicht behandeln. Wut ist für mich die Ohnmacht des Ungeduldigen, der noch nicht genug versteht, wie es Alfred Adler formuliert hat. Allerdings
demonstriert die Magersüchtige durch die eingeübte Kontrolle über ihr Eßverhalten Macht und fordert so den Arzt unter Umständen ebenfalls zur Demonstration von Macht auf. Als Arzt bin ich jedoch der
Güte verpflichtet.

„W. Z.": Wie sieht die Therapie im AKH aus?

Gathmann: Wir reden nicht über Essen.

„W. Z.": Ist das ein Tabu?

Gathmann: Nein. Wir verfallen nur nicht in den Fehler der bisherigen Umgebung der Magersüchtigen, die sich nur auf dieses Verhalten konzentriert und meint, daß der Patientin durch gutes Zureden
geholfen werde.

Die private Logik

„W. Z.": Ist für Sie die Anorexie eine Ideologie?

Gathmann: Ich würde das ein wenig anders nennen. Adler hat den sehr treffenden Ausdruck geprägt von einer privaten Logik, die Dinge zu sehen. Wenn es einen kontinuierlichen Übergang gibt von
der Pubertätsaskese zur Erkrankung, dann ist das natürlich die Ideologie des Pubertierenden, die sich vordergründig in der Nahrungsverweigerung und eigentlich in der Nichtakzeptanz seiner sexuellen
Identität ausdrückt.

Die Gesellschaftskritik, die in der Anorexie enthalten ist, ist ja ganz offensichtlich: So gibt es in der Dritten Welt keine Anorexien, und in den Gegenden von zivilisatorischer und pekuniärer Fülle
nehmen Eßstörungen weiterhin zu. Ich meine auch, daß die Schichttheorien nicht zutreffen. Unsere Patientinnen kommen schon lange nicht mehr ausschließlich aus gut situierten Familien.

„W. Z.": Wie sieht die medizinische Betreuung bei Ihnen aus?

Gathmann: Sie besteht aus Psychotherapie, und die Patienten haben mit uns einen Vertrag, der folgendes besagt: Es wird ein Limit zum Normalgewicht errechnet, aus dem hervorgeht, daß die Patientin,
die unter dieses Limit gelangt, ein kleines

„Beauty-case" bekommt, das sie mit sich herumträgt, und eine Nasensonde.

„W. Z.": Warum sprechen Sie von einem „Beauty-case"?

Gathmann: Um die Größe zu veranschaulichen und wie sich das trägt. Ich bin mir schon bewußt, daß darin eine gute Portion Schönmalerei enthalten ist, wenn ich das so nenne.

„W. Z.": Man könnte es auch ironisch deuten.

Gathmann: An der Ironie ist mir eigentlich nicht gelegen. Es ist ein Euphemismus. Es handelt sich um eine kleine Nährmaschine. Ich gebrauche diesen Euphemismus, weil ich mir der penetrierenden
Vergewaltigung bewußt bin, die der Sterbenden Leben einflößt. Vielleicht ist es ein Akt der Selbstschonung, zu beschönigen. Zu Beginn meiner ärztlichen Praxis hat mich die Durchführung dieses
Eingriffs regelrecht fertiggemacht.

„W. Z.": Was ist in der kleinen Nährmaschine enthalten? Glukose, Vitamine?

Gathmann: Eine ausbalancierte, hochkalorische Nährflüssigkeit.

„W. Z.": Es gibt in der Medizin ein gezielt unterdrücktes Wissen über einen somato-psychischen Ansatz zur Behandlung von Eßstörungen und anderen psychopathogenen Erkrankungen: die gezielte
Einnahme von hochdosierten Vitaminen und Spurenelementen, wie sie die sogenannte orthomolekulare Medizin praktiziert. Demnach ist Magersucht auch eine subklinische Form von Pellagra und mit den
entsprechenden Botenstoffen zu behandeln.

Gathmann: Ich bin da kein Sektierer. Ich kann nicht gleichzeitig ganzheitlich denken und in meinen Vorlesungen verkünden, daß diese Einflüsse vom Körper auf die Seele und umgekehrt in einem
Kreisprozeß verlaufen und die Nase rümpfen über einen somatischen Zugang zur Anorexie. Wenn Sie mich nach diesem Zugang fragen, sage ich Ihnen aus meiner Erfahrung: Sollte sich eine sogenannte
Anorexie auf diesen Zugang reduzieren lassen, so war es entweder keine oder es sind Parallelen zu diesen somatischen Vorgängen unberücksichtigt geblieben in der Fragestellung und dem, was die Heilung
bewirkt hat.

„W. Z.": Ich meinte, daß heutzutage mit dem Schlagwort „psychosomatisch" leichtfertig umgegangen wird. Man spielt mit der Manipulierbarkeit der menschlichen Seele auch durch die vorschnelle Gabe
von Psychopharmaka, anstatt sich mit dem Konzept einer orthomolekularen Behandlungsmethode intensiv zu befassen. Als ich vor Jahren einer Psychiaterin ein Buch zeigte, das sich mit dieser
Behandlungsmethode befaßt, meinte sie, das sei hochinteressant, aber zu umständlich.

Gathmann: Ich würde ein so ausweichendes Verhalten anprangern. Ich fordere von meinen Studenten vor der Äußerung einer Diagnose „psychosomatisch" eine ganz genaue Krankengeschichtserhebung.

„W. Z.": Ein befreundeter Arzt hat mir vor Jahren gesagt, daß seiner Meinung nach 80 Pozent aller Magersüchtigen Inzestopfer seien.

Gathmann: Von der klassischen Einteilung her gehören die Eßstörungen zu der Gruppe der Süchte, für mich sind sie allerdings psychosomatischen Ursprungs. Jemand, der die Tiefe der Psyche
untersucht, findet bei den Eßstörungen fast immer eine Familienstörung enthalten. Das Mädchen wird sehr häufig maskulinisiert, es wird wie ein Bub behandelt. Reale inzestuöse Aktionen sind allerdings
viel seltener als bei den Bulimikerinnen.

„W. Z.": Der offensive Vorwurf, zum Opfer gemacht worden zu sein, erscheint eher selten unter jungen, magersüchtigen Autorinnen. Führt der Weg der Heilung über eine persönliche Akzeptanz der
Opferrolle, die vielleicht auch beinhaltet, daß es sinnlos ist, um Verständnis und innere Anteilnahme einer angepaßten Außenwelt zu buhlen?

Gathmann: Die Psychotherapie von Magersüchtigen enthält die Wahrnehmung ihrer biographischen Verwundung. In dem Augenblick, in dem ich lerne, diese Verwundung wahrzunehmen, hört auch die Automatik
auf, mit der ich mich gegen den Prozeß der Heilung wehre.

Heilen durch Liebe?

„W. Z.": Ich erinnere mich an einen Filmbericht über eine kanadische Klinik zur Behandlung Magersüchtiger, deren leitende Ärztin sich ausschließlich dem Motto „Heilen durch Liebe" verschrieben
hatte. Es gibt dort keine Zwangsernährung, statt dessen ein Diätkonzept, das auf gesunden, naturbelassenen Lebensmitteln beruht und die Zufuhr hochkalorischer Genußmittel dem Wunsch der Mädchen
überläßt, der sich in der Regel nach einiger Zeit von selbst einstellt. Was mich an dieser Klinik und ihrer sehr hohen Heilungsquote beeindruckt hat, waren die Zeit und der Raum, die den Patientinnen
zugestanden wurden, um ihre Verletzungen emotionell auszuagieren. Ist das in einer Einrichtung wie dem AKH überhaupt möglich?

Gathmann: Das ist Routine in der Einzel- und in der Gruppentherapie: die Ermutigung, die Provokation zu dem möglichst vollständigen Ausdruck aller Gefühle. Wir bedauern, daß das AKH
architektonisch für den Turmbau zu Babel steht: Es werden verschiedene Sprachen gesprochen.

„W. Z.": Wie sind die Heilungsquoten bei Ihnen?

Gathmann: Gott sei Dank besser als die schreckliche Eindrittelregel, die besagt, daß bei einem Drittel der Erkrankten eine Besserung eintritt, daß die Erkrankung bei einem weiteren Drittel
stagniert und daß die Todesrate das verbliebene Drittel ausmacht. Wir haben 60 Prozent · plus/minus 3 Prozent · Heilungen: Heilungen unter Anführungszeichen, möchte ich sagen. Allein die körperlichen
Parameter zu normalisieren, das ist für mich als Arzt noch keine Leistung. Es muß sich sozusagen etwas in der Inter-Aktion und in der Intra-Aktion geändert haben, dann bin ich zufrieden.

Die Therapie ablehnen

„W. Z.": Eine meiner Freundinnen hat sich mit 28 kg bei einer Größe von 1,65 m freiwillig in eine Klinik begeben. Sie hat dort · ohne künstliche Ernährung · innerhalb von zwei Wochen 7 kg
zugenommen, dann allerdings die ihr ambulant angebotene Therapie abgelehnt. So wurde sie sehr bald rückfällig.

Gathmann: Einer Frau mit diesem Untergewicht würde am AKH das Angebot freiwilliger Ernährung nicht mehr zur Verfügung stehen. Die Freiwilligkeit hört für mich als Mediziner dort auf, wo die
Selbstschädigung eine existentielle Gefährlichkeit angenommen hat. Gerade dort, wo die Selbstschädigung so sehr außerhalb des Wahrnehmungsbereiches der Patientin selbst liegt, fühle ich mich als
behandelnder Arzt veranlaßt, die Entscheidung zu übernehmen. Ich nehme an, daß Ihre Freundin die Klinik entmutigt verlassen hat, und wenn man in ihr das Gefühl geweckt hat, sie könne es alleine
schaffen, halte ich das für fatal.

„W. Z.": Sie vertreten die Auffassung, die Anorexia nervosa verkörpere bei magersüchtigen jungen Männern etwas völlig anderes als bei jungen Frauen. Dies verwundert mich im Zeitalter einer
androgynen Annäherung der Geschlechter.

Gathmann: Es handelt sich um zwei verschiedene Krankheitsbilder. Gemeinsam sind die gestörte Beziehung zum eigenen Körper und zur Identitätsfindung. Verschieden sind und bleiben die Geschlechter,
und damit spreche ich jetzt auch als Mann. Der Gedanke vom androgynen Menschen drängt sich mir als Horrorvision auf. Der Hang zur Homophilie bei vielen jungen männlichen Anorektikern ist gegeben.
Dennoch sehe ich in ihnen keine künftigen Homosexuellen.

„W. Z.": Hinter der demonstrativen Abmagerung bis hin zum Skelett verbirgt sich die provokative Forderung: „Erklärt mir Leben". Worin liegen hier die Chancen des Arztes, zurückgeworfen auf die
Sinnfrage in einer funktionalisierten, sinnentleerten Welt, in der die Gottesfrage nicht mehr relevant erscheint?

Gathmann: Die Chance des Arztes liegt in seiner Gegenübertragung: Wo hat die Anorektikerin, die Bulimikerin recht, wo kann ich ihr helfen in ihrer Andersartigkeit? Unser Gottesbild ist durch
Neurosen verstellt. Die Sinnfrage wird heute kaum mehr mit der Gottesfrage in Zusammenhang gebracht. Das jedenfalls ist unsere Erfahrung in der Behandlung eßgestörter junger Menschen.

„W. Z.": In Ihrem eingangs erwähnten Buch zitieren Sie den Therapeuten Scott Peck mit den Worten, Kultiviertheit habe viel mit Verletzlichkeit und schmerzlicher Authentizität zu tun. Was hat sie
veranlaßt, die Auseinandersetzung mit dem Schmerz zu Ihrem Beruf zu machen?

Gathmann: Verwundet sind wir alle. Wir gehen den Weg der Kompensation, projizieren unsere kranken Anteile in die Welt und auf andere Menschen. Der Weg der Heilung aber geht weg von der Projektion
hin zur Integration. Nicht die Welt, andere Menschen, die Eltern mit ihren Neurosen sind krank · nein, ich bin verletzt und verwundet.

Samstag, 28. November 1998

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