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Moral nach Erfurt

Christian Bommarius

Längst wissen wir, wer Robert Steinhäuser gewesen ist. Die Psychologen verraten uns, dass er größenwahnsinnig war. Selbstverständlich - welcher Mörder wäre das nicht? Wir hören, er habe an einem gestörten Selbstwertgefühl, sozialer Ausgrenzung, Deprivation und psychosozialem Stress gelitten. So war es wohl - nur fragen wir uns dann, ob Robert Steinhäuser Arbeitsloser, Insasse einer Justizvollzugsanstalt oder Patient einer psychiatrischen Einrichtung war? Es heißt, imaginär durchgespielte Gewaltszenarien und Waffenbesitz dürften bei der Betrachtung Robert Steinhäusers nicht übersehen werden, auch seine Selbstdarstellungsambitionen, der Zwang, die Lust, der Druck, sein todkrankes Innerstes vor aller Weltöffentlichkeit nach außen zu kehren, hätten Bedeutung. Wir verstehen das - ohne Gewaltbereitschaft keine Gewalt, ohne Waffenbesitz kein Waffengebrauch und ohne Selbstdarstellungsambition kein öffentlicher Auftritt. Das alles verstehen und wissen wir - nur wissen und verstehen wir bis heute nicht, warum ausgerechnet der 19 Jahre alte, von der Schule geflogene Robert Steinhäuser am Morgen des 26. April im Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Schüler und Lehrer und anschließend sich selbst erschoss.

Der Bundestag hat gestern, zwei Monate nach den Morden, über Ursachen und mögliche Folgen des Erfurter Verbrechens debattiert. Es war eine enttäuschende Debatte für jeden, der sich vom Parlament das klärende Wort, eine griffige Losung, eine schlüssige Strategie, also das Unmögliche erwartet hatte. Es war klug von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD), gleich zu Beginn darauf zu bestehen, dass die Fragen, die das Massaker von Erfurt aufgeworfen hatte, nicht in Berlin beantwortet werden können: "Ich fürchte, wir müssen die Diskussion in dem Bewusstsein führen, dass Staat und Politik nur sehr begrenzt auf solche, manchmal schicksalhaften Ereignisse Einfluss nehmen können." Das war keine Kapitulationserklärung, sondern die Anerkennung der Wirklichkeit.

Am Morgen des Massenmords hatte der Bundestag das Waffenrecht - unter Berücksichtigung der Interessen der Waffenhersteller, der Sportschützen, der Jäger etc. - höflich verschärft. Zwei Monate nach dem Massaker hat er es - diesmal unter Berücksichtigung der Interessen potenzieller Opfer, des Gemeinwohls und des kranken Menschenverstands - abermals und diesmal tatsächlich verschärft. Noch kein Gesetz hat einen Menschen gehindert, zum Mörder zu werden, wie aber anders als mit dem Gesetz kann (und muss) der Gesetzgeber die Tat zu erschweren versuchen?

Grausamer als jede Fiktion der Gewalt ist die Realität jeder Gewalt, blutiger als jedes Massaker im Film ist jede körperliche und seelische Verletzung im Alltag. Gestern hat die Bundesforschungsministerin anlässlich der Debatte um Erfurt ein bundesweites Forschungsprojekt unter dem Titel "Gesellschaftliche Ausgrenzung, Angst und Gewalt" angekündigt, drei Jahre lang sollen 46 Wissenschaftler dem ursächlichen Zusammenhang von erlittener und erteilter Demütigung, von zugefügter und zurückgegebener Aggression, von erfahrener und verhängter Ausgrenzung nachspüren. Ausgestattet ist das Projekt mit 4,2 Millionen Euro - das macht etwas mehr als einen Euro auf jeden Arbeitslosen und nur ein paar Cent auf jeden Sitzenbleiber, jeden vereinsamten Alten, jedes Opfer eines Ehekrieges.

Unmittelbar nach Steinhäusers Tat wurde das Verbot des von ihm bevorzugten Videospiels "Counterstrike" verlangt. Die Antwort darauf hat nicht die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften gegeben, die die Indizierung des Spiels mit der Begründung verwarf, es schule auch strategisches Denken und Kommunikation. Unabweisbar war vielmehr die Reaktion der Kundschaft - binnen weniger Tage nach Robert Steinhäusers Verbrechen wurde Counterstrike zum Bestseller auf dem Video-Markt.

Denn die Gesellschaft, das sanfte Monster, schätzt die Moral so sehr, dass sie sie stets doppelt hält. Gelegentlich erschrickt sie - aber nicht zu sehr -, wenn ein unschönes Ereignis sie daran erinnert. Aber schnell ist sie wieder beruhigt, denn die Wirklichkeit wiederholt sich - hässlich, doch vertraut - wie das Fernsehprogramm. Ganz wie bei Bert Brecht: "Diesen, hör ich, sind wir losgeworden/Und er wird es nicht mehr weitertreiben/Er hat aufgehört, uns zu ermorden/Leider gibt es sonst nichts zu beschreiben./Diesen nämlich sind wir losgeworden/Aber viele weiß ich, die uns bleiben."

Die Gesellschaft, das sanfte Monster, schätzt die Moral so sehr, dass sie sie stets doppelt hält. Gelegentlich erschrickt sie darüber, aber schnell ist sie wieder beruhigt.