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STADTBILD

Der blinde Fleck

Martin Klesmann

MARTIN KLESMANN wüsste gerne mehr über die radikale Vergangenheit mancher West-Berliner.

Wer mitten im Wahlkampf mit Stasi-Akten auf profilierte Personen der gegnerischen Seite wirft, dem ist nicht in erster Linie an Aufklärung gelegen. Vielmehr geht es um Stimmungsmache. Das scheint auch bei den jüngsten Vorwürfen gegen Bruno Osuch, den Vorsitzenden des Humanistischen Verbandes Berlin, ein grundlegendes Motiv zu sein. Osuch ist einer der Hauptgegner der Volksinitiative Pro Reli. Zwei Wochen vor dem Volksentscheid tauchen nun Stasi-Akten auf, wonach er vor gut 30 Jahren Mitglied einer kommunistischen, von Ost-Berlin gesteuerten Guerillagruppe in der Bundesrepublik gewesen sein soll. Er bestreitet das, und sein Verband richtet zu Recht eine unabhängige Untersuchungskommission ein.

Der Kern des Problems aber ist, dass von den Ost-Deutschen in den vergangenen 20 Jahren erwartet wurde, sich weitgehend schonungslos mit ihrer Verstrickung in die realsozialistische DDR-Diktatur auseinanderzusetzen. Mit dem Thema Stasi vorneweg. Dagegen wurden viele gelernte West-Berliner, die zumindest in jungen Jahren notorisch linksradikal, prokommunistisch waren und die DDR für den besseren deutschen Staat hielten, nicht auch nur ansatzweise in ähnlicher Weise hinterfragt. Dabei gehört auch das zu einer differenzierten Aufarbeitung der Vergangenheit. Und wenn dann doch einmal darüber gesprochen wurde, war schnell die Rede von Jugendsünden oder von widerständiger Haltung gegen die nazi-treue Elterngeneration. Später dann traten manche dieser jungen Linken in die SPD ein, wie Bruno Osuch auch.

Nach der Wende waren es übrigens nicht selten jene West-Berliner Linken, im politischen Spektrum plötzlich deutlich nach rechts gewandert, die sich über die DDR sowie ihre Bürger mokierten und Ratschläge erteilten. Auch darüber wird zu reden sein. Aber besser nach dem Volksentscheid. Seite 30