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Karsten Gundermann spricht über seine Pekingoper „Yeying“

„Sind wir inzwischen chinesischer als wir glauben?“

Der Dresdner Komponist Karsten Gundermann schrieb mit 16 Jahren ein Libretto zu einer chinesischen Pekingoper auf Andersens Märchen „Die Nachtigall“. Zehn Jahre später wurde er als erster Ausländer zum Studium an der Nationalakademie für Theaterkünste in Peking zugelassen. 1993 wurde seine Pekingoper Yeying uraufgeführt. Am 14. und 15. November ist sie im Bayer Erholungshaus in Leverkusen zu sehen.
Karsten Gundermanns Pekingoper Yeying
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Karsten Gundermanns Pekingoper „Yeying“
Herr Gundermann, Ihr Gastspiel in Leverkusen ist das einzige in Deutschland.
Die Akzeptanz meines Projekts ist sehr abhängig vom jeweiligen China-Bild, das durch die aktuelle Politik und die Resonanz in den Medien bestimmt wird. Es gibt in Deutschland deutliche Vorbehalte, die zum Ausfall ganzer Tourneen geführt haben. Umso mehr freut es mich, dass sich die Bayer Kulturabteilung mit ihrem hervorragenden Angebot auch für mein Projekt entschieden hat.

Die grausame Realität des chinesischen Kommunismus machte auch vor der Pekingoper nicht Halt. Lange Zeit war sie verboten.

Die Anfänge der Pekingoper liegen im Jahr 1797. Damals kamen Schauspieltruppen aus den verschiedenen Provinzen anlässlich des Geburtstags der Kaisers Qianlong in die Haupststadt. Sie waren so erfolgreich, dass sie die Sichuan-Oper verdrängten, die bis dahin Peking dominiert hatte. Die Kritik an der Pekingoper ist so alt wie ihre Geschichte. Während der Kulturrevolution war es jedoch das erste Mal, dass sie im ganzen Land verboten wurde. Im kommunistischen China sollten nur noch Revolutionsopern gegeben werden. Aber die Pekingoper hat auch das überlebt und es stellt sich inzwischen eher die Frage, ob sie dem Ansturm der westlichen Massenmedien standhalten wird.

Ist die Pekingoper zu konservativ, um gegen die bunte Medienwelt zu halten?

Die Pekingoper war immer sehr experimentierfreudig und hat bislang auf alle künstlerischen, politischen und Publikumsgeschmacksfragen reagiert. Inzwischen ist sie jedoch staatlich anerkannt und gilt als erstrangiges Kulturgut. Diese Anerkennung ist jedoch genauso gefährlich wie ein Verbot, denn sie macht träge.

Wie reagiert der Staat auf dieses Dilemma?

Es gibt unterschiedlichste Projekte, die von „seichten Seifen- Pekingopern“ bis hin zu Schulkampagnen reichen. Im Moment laufen regionale Versuche, in denen Schüler im Laufe ihrer Ausbildung mindestens zehn Arien aus Pekingopern auswendig lernen sollen. Solche Ansätze sind auch für unsere Kulturbildung interessant.

Wieviel hat die Welt der Pekingoper mit ihren Hofbeamten und Konkubinen noch mit dem postrevolutionären China zu tun?

Wenn eine Kunstgattung sich auf ein bestimmtes Genre oder Milieu spezialisiert, kann sie schnell den Anschluss an die Geschichte verpassen. Deswegen haben auch viele Schauspieler begeistert bei den Revolutionsopern mitgewirkt. Sie wollten zeitgemäß sein. Inzwischen ist die Revolutionsoper nicht mehr zeitgemäß, obwohl sie witzigerweise gerade eine Renaissance erlebt. Das liegt vor allem daran, dass China touristischer wird und Revolutionsopern als Teil des China-Klischees vom Markt gefordert werden.

Chinesische Ostalgie! Wie kommt es, dass ein Deutscher mit 16 ein Libretto zu einer chinesischen Oper schreibt?

Das kam über die Vorlage. Die Nachtigall ist ein Märchen von Andersen, das sich als Chinoiserie bezeichnen ließe. Da war es für mich naheliegend, mich mit chinesischer Musik auseinanderzusetzen. Als ich zum ersten Mal in Ost-Berlin über den sozialistischen Kulturaustausch eine Pekingoper hören konnte, war ich fasziniert und wollte herausfinden, wie weit man als Nichtchinese in diese komplexe Opernwelt eindringen kann.

Das Projekt beschäftigte Sie elf Jahre und führte sie 1992 als ersten Ausländer an die Chinesische Theaterakademie in Peking.

Dort habe ich in enger Zusammenarbeit mit den Professoren meine Kenntnisse vertieft und meine Oper vollendet. Mein Lehrer hat auch meine Prosadichtung in chinesische Reime übertragen, wobei er behutsam die Diktion des Ausländers bewahrt hat. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Für alle, die nicht Chinesisch sprechen, gibt es jedoch Untertitel während der Aufführung.

Wie lange dauert Ihre Nachtigall? Pekingopern haben oft Wagnerdimensionen.

Wir sind mit 1 Stunde und 40 Minuten kürzer. Ich wollte bewusst die Hörgewohnheiten von Nichtchinesen berücksichtigen. Das gilt auch für die melodische Stilistik, die immer darauf achtet, dass Ausländer noch mitkommen. Trotzdem habe ich mich an der Blütezeit der Pekingoper, den 1920er und 30er Jahren orientiert. Ich verstehe mein Werk als eine Art Tür zur Pekingoper.

Ein Konzept, das überraschenderweise auch für junge Chinesen funktioniert. „Yeying“ wurde zur erfolgreichsten Pekingoper der letzten Jahrzehnte.

Das habe ich nicht vorausgesehen und bin immer noch überwältigt davon. Ich wollte vor allem die Pekingoper für Ausländer erschließen und habe nicht berechnet, dass ich damit auch einen Weg eröffnet habe, über den Chinesen ihre alte Kunstform wiederentdecken können.

Sie leben bewusst in Deutschland. Wo liegen die kulturellen Unterschiede zwischen beiden Ländern?

Ich schätze die Offenheit und kulturelle Fruchtbarkeit in Deutschland. In China ist man damit beschäftigt, den Westen nachzuahmen. Wer damit besonders erfolgreich ist, kann sehr viel Geld verdienen. Und wer den Westen übertrifft, kann sogar in den Westen reisen und dort dazuverdienen. Das Motto heißt: Gut nachmachen!

Sind die Chinesen auf das Ausland fixiert?

Wenn man in China traditionelle Kleidung kaufen will, findet man fast nichts mehr. Die Verkäuferinnen tragen englische Vornamen und strahlen einem ihr „How can I help you?“ entgegen, wenn man ins Geschäft kommt. China richtet sich vollkommen auf den Westen aus. Aber das betrifft auch uns direkt. Seit circa zehn Jahren werden fast alle unsere Waren in China produziert. Inzwischen wird aber auch das Design dort gestaltet. Was ist also noch westlich und was chinesisch? Sind wir inzwischen chinesischer als wir glauben?
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