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Die unsichtbare Gewalt

Wunderbar: "Das weiße Band" von Michael Haneke gewinnt die Goldene Palme von Cannes

Anke Westphal

Jedes Filmfestival produziert Gerüchte, und Cannes hatte ein besonders hübsches zu bieten. Dass es so auffallend viel Gewalt gab in den Filmen des Wettbewerbs - das liege daran, so hieß es, dass der Programmchef Thierry Frémaux den schwarzen Gürtel habe im Kampfsport. Selbstredend besteht da kein Zusammenhang; was sollte man sonst von der Berlinale des Vegetariers Dieter Kosslick halten? Unwidersprochen bleibt indes, dass die 62. Filmfestspiele von Cannes, die gestern Abend mit der Verleihung der Preise zu Ende gingen, Spiele des Mordens und Sterbens waren, aber auch der Geister, Wiedergänger, Untoten. Selten sah man bei einer kinematografischen Leistungsschau Frauen auf so schreckliche Weise leiden. Das kann man missbilligen, was indes nichts daran ändert, dass das Kino mehr oder weniger metaphorisch auch Wirklichkeit repräsentiert. Gewalt sei keine Option, sondern Realität, hat Martin Scorsese mal gesagt.

Doch was sagen die Bilder aus, die dafür gefunden werden? Die Goldene Palme ging an einen Film, der sich solcher Visualisierungsfragen klarer bewusst ist. Und der brutaler wirkt als alle anderen im Wettbewerb, gerade weil in ihm kein Blut fließt. Michael Haneke erzählt in "Das weiße Band" davon, was geschieht, bevor es zu einer Gewalttat kommt: Sein in Schwarz-Weiß-Bildern gehaltener Film spielt um 1913/14, ist aber eine zeitübergreifende Studie der Zurichtung junger Menschen in einem geschlossenen autoritären System. Die Jury-Präsidentin Isabelle Huppert dürfte entscheidenden Anteil an dieser Palmen-Entscheidung gehabt haben, die wohl auch das Lebenswerk Hanekes mitbedenkt. Wenn jemand die Arbeit des österreichischen Regisseurs versteht, dann ist es die Huppert; mehrfach hat sie in seinen Filmen die Hauptrolle gespielt. "Das weiße Band" erhielt auch den Preis der Fipresci.

Den Regie-Preis für den Wettbewerbsfavoriten "Un Prophète" kann man dann als salomonische Entscheidung verstehen: Jacques Audiards Geschichte einer kriminellen Karriere im Knast ist brillant gearbeitet, gibt aber nicht zu erkennen, wem das nun dient. Bei Tarantino ist das weniger die Frage - was man kaum zu hoffen wagte, wurde wahr: Der in Österreich geborene Schauspieler Christoph Waltz wurde nur zu verdient als Bester Darsteller ausgezeichnet für seine Rolle in "Inglourious Basterds", wo er einen Star wie Brad Pitt schlichtweg an die Wand spielt. Den Preis als Beste Darstellerin gönnt man Charlotte Gainsbourg allein schon für die unerhörte Ernsthaftigkeit, mit der sie sich von Lars von Trier ausbeuten ließ. Am Ende wurde also doch noch alles gut.

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Die Preisträger

Goldene Palme für den besten Film im Wettbewerb: "Das weiße Band" von Michael Haneke (Österreich/D)

Großer Preis der Jury: "Un Prophète" von Jacques Audiard (Frankr.)

Preis der Jury zu gleichen Teilen: "Fish Tank" von Andrea Arnold (Großbritannien); "Thirst" (Durst) von Park Chan-wook (Südkorea)

Bestes Drehbuch: "Spring Fever" von Lou Ye (China)

Beste Regie: "Kinatay" von Brillante Mendoza (Philippinen)

Spezialpreis (Ausnahmepreis) der Jury: Alain Resnais für "Les herbes folles" (Frankreich)

Bester Schauspieler: Christoph Waltz für "Inglourious Basterds" von Quentin Tarantino

Beste Schauspielerin: Charlotte Gainsbourg für "Antichrist" von Lars von Trier

Caméra d'or für den besten Debütfilm: "Samson und Delilah" von Warwick Thornton (Australien)

Hauptpreis der Nebenreihe "Un certain regard": "Kynodontas" von Yorgos Lanthimos (Griechenland)

Jury-Preis "Un certain regard": "Politist, Adjectiv", von Corneliu Porumboiu (Rumänien)

Preis der Nebenreihe "Quinzaine des réalisateurs": "I Killed My Mother" von Xaviers Dolan (Kanada)

Preis der ökumenischen Jury: "Looking for Eric" von Ken Loach (Großbritannien)

Weitere Preisträger unter

www.festival-cannes.com

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Foto: Der Regisseur Michael Haneke (neben Isabelle Huppert) hat endlich bekommen, was er schon lange verdient.

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Foto: Beste Darstellerin: die unerschrockene Charlotte Gainsbourg.

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Foto: Bester Darsteller: der wirklich brillante Christoph Waltz.

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Foto: Der französische Regisseur Jacques Audiard kann zufrieden sein mit dem Großen Preis der Jury für sein Knast-Drama "Un Prophète".