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Ansturm der Schmetterlinge

Dieser Tage sind in Deutschland ungewöhnlich viele Distelfalter unterwegs. Manche kommen aus Afrika und fliegen weiter bis nach Nordschweden

Kerstin Viering

So einen Flugverkehr wie in den vergangenen Wochen hat Reinart Feldmann noch nicht erlebt. Heerscharen orangefarbener Schmetterlinge mit weißen und schwarzen Flecken flatterten durch Leipzig. Zeitweise zählte der Biologe, der dort am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) arbeitet, bis zu zehn Tiere pro Minute. Ähnliche Rekorde melden Schmetterlingsbeobachter auch aus vielen anderen Regionen Deutschlands. Mancherorts wurden an einem einzigen Tag mehr als Tausend Distelfalter gesichtet, die zielstrebig in die gleiche Richtung flogen. "Diese Massenwanderung ist ein Jahrhundertereignis", sagt Feldmann.

Dabei ist es keineswegs ungewöhnlich, dass im Mai oder Juni plötzlich Distelfalter in Mitteleuropa auftauchen. Es sind sonst nur nicht so viele. Die fünf bis sechs Zentimeter großen Insekten mit dem wissenschaftlichen Namen Vanessa cardui sind als flatternde Fernreisende bekannt. Denn Raupen, Puppen und erwachsene Tiere haben keine Chance, die strengen mitteleuropäischen Winter zu überleben. Im Sommer hingegen bieten die Blüten der Trockenrasen, Felder und Gärten nördlich der Alpen attraktive Lebensräume für die Art. In Nordafrika und im Mittelmeerraum geschlüpfte Distelfalter machen sich deshalb in jedem Frühling auf den Weg nach Norden.

Im flotten Tempo von 25 bis 30 Kilometern pro Stunde fliegen sie meistens einen oder zwei Meter über dem Boden, vor Hindernissen steigen sie senkrecht in die Höhe. "Distelfalter sind exzellente Flieger, die sogar die Alpen problemlos überqueren", sagt Feldmann. Etliche Tausend Kilometer legen manche Insekten zurück, bis sie ihr Ziel in Mitteleuropa, Großbritannien oder Irland erreicht haben. Manche lassen sich von günstigen Winden sogar bis nach Nordschweden und Finnland tragen.

Die Zahl der flatternden Fernreisenden unterscheidet sich von Jahr zu Jahr. In Deutschland kann man das sehr deutlich an den schwankenden Ergebnissen einer bundesweiten Bestandsaufnahme ablesen, die Feldmann und seine Kollegen koordinieren. Seit 2005 laufen ehrenamtliche Helfer jedes Jahr im Wochenabstand genau festgelegte Strecken ab und notieren sämtliche tagaktiven Schmetterlinge, denen sie unterwegs begegnen. "Im vergangenen Jahr haben wir kaum Distelfalter beobachtet", berichtet Feldmann. Der Grund dafür war vermutlich das sehr trockene und warme Wetter im Mittelmeerraum und Nordafrika, das Disteln und andere Futterpflanzen der Raupen verwelken ließ. Der Schmetterlingsnachwuchs fand nicht genug zu fressen, so dass sich nur wenige Tiere auf den Weg nach Norden machen konnten.

"In diesem Frühling aber hat es an den Küsten Frankreichs, Italiens und Kroatiens mehr geregnet, die Bedingungen für die Raupen waren perfekt", sagt Feldmann. Hinzu kamen günstige Winde, die den Insekten das Reisen erleichterten. Am 7. Mai erreichten die ersten Falter Bayern und Baden-Württemberg; von dort rollt die Schmetterlingswelle nun nach Norden und Osten.

Um die Details des Massenansturms näher analysieren zu können, hoffen Reinart Feldmann und seine Kollegen auf die Unterstützung der Bevölkerung. Wer Distelfalter sieht, kann seine Beobachtungen bei der Deutschen Forschungszentrale für Schmetterlingswanderungen unter www.science4you.org melden.

Neben Datum, geschätzter Anzahl und Reiserichtung der Tiere ist auch der Zustand der einzelnen Falter interessant. "Wenn man sie entdeckt, sollte man sich ihre Flügel genau anschauen", sagt Feldmann. Verblasste Farben und ausgefranste Ränder bezeugen, dass die Insekten besonders lange unterwegs waren und sie liefern Hinweise darauf, woher die Tiere stammen.

Auch die Rückreise der Tiere in den Süden würden Reinart Feldmann und seine Kollegen im Herbst gern dokumentieren. Zwar wird keiner der jetzt angekommenen Falter den Weg über die Alpen ein zweites Mal schaffen. Ihr in Deutschland geschlüpfter Nachwuchs aber kann Nordafrika mit etwas Glück erreichen und dort wieder eine neue Generation von Fernreisenden begründen.

Informationen zum Tagfalter-Monitoring in Deutschland: www.tagfalter-monitoring.de

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Foto: Die Flügel der Distelfalter haben eine Spannweite von maximal sechs Zentimetern. Damit können die Tiere Tausende Kilometer weit fliegen.