Die Brandenbürger

Der chinesische Traum

Yvonne Sehmisch startet drei Mal bei den Paralympics in Peking - mit ihrem Rollstuhl

Jens Blankennagel

Herzberg - Ihre Arme sind kräftig. So kräftig, dass sich sicherlich manche Sportler freuen würden, wenn sie solch starke Beine hätten. Yvonne Sehmisch öffnet die Autotür und schwingt sich vom Fahrersitz auf die Armlehnen des Rollstuhls, der neben dem Wagen steht. Wie eine Turnerin hält sie ihren Körper mit durchgedrückten Ellenbogen kurz in der Luft, dann lässt sie sich in den äußerst schmalen Rollstuhl fallen. "Es ist ein Wettkampfrollstuhl, maßgeschneidert", sagt Torsten Sehmisch, der Bruder der 34-Jährigen aus Herzberg (Elbe-Elster). "Er muss fest am Körper anliegen. Es ist wie bei einem Laufschuh." Der 41-Jährige ist im Hauptberuf Polizist, nebenbei trainiert er seine Schwester. "Und los", sagt sie und rollt auf die Tartanbahn im Stadion: Zwei Stunden Training stehen an. So wie fast jeden Tag.

Yvonne Sehmisch ist eine Ausnahmesportlerin im doppelten Sinne. Sie ist von Geburt an querschnittsgelähmt und kann nicht laufen. Gleichzeitig ist sie eine der besten Rollstuhlfahrerinnen der Welt. Bei den am Sonnabend in Peking beginnenden Paralympics ist sie eine der 170 deutschen Sportler - nur fünf kommen aus Brandenburg. Yvonne Sehmisch wird über 100, 200 und 400 Meter starten. Auf den Sprintstrecken hat sie seit 2001 etliche Medaillen bei Welt- und Europameisterschaften gesammelt und ist seit 2005 Europameisterin über die 100-Meter-Distanz. Sie scheut aber auch die langen Strecken nicht und hat bereits den Berlin-Marathon gewonnen.

Yvonne Sehmisch rollt sich vier Runden im Stadion in Falkenberg warm. Der Sportplatz ist zehn Kilometer vom Heimatort entfernt. Nur hier im Stadionrund kann sie die Starts für die Wettkämpfe üben. Sie steht an der Startlinie. Ihr Oberkörper ist so weit nach vorn gebeugt, dass ihr Rückgrat eine Parallele zum Boden bildet. Sie trägt gepolsterte Handschuhe. Die Fäuste liegen an den Greifringen, die außen an den Rädern angebracht sind. Startsignal - mit schnellen Faustschlägen gegen die Greifringe treibt sie den Rollstuhl vorwärts. Sie soll erstmal nur die maximale Beschleunigung nach dem Start üben. Bei 17,50 Sekunden rollt sie durchs Ziel. Ihre Bestzeit liegt bei 16,96 Sekunden. So geht es weiter, zwölf Mal über 100 Meter.

Angefangen hat alles, als sie mit 18 Jahren im Fernsehen ein Behindertenrennen sah. Sie war begeistert von den Wettkampfrollstühlen. "So einen wollte ich auch", sagt sie. Doch die Krankenkasse zahlt nur Alltagsrollstühle. Sie brauchte 5 000 Mark, ihre Eltern halfen und nach zwei Jahre hatte sie den Rennstuhl.

Schon als Kind besuchte sie eine Schule für Körperbehinderte und war nur an Wochenenden und in den Ferien bei den Eltern. "Einerseits war es hart, weil die sozialen Kontakte zu Hause auf der Strecke blieben. Aber so habe ich schon als Kind gelernt, auf eigenen Beinen zu stehen", sagt sie und lacht.

Sie analysiert oft Vor- und Nachteile. So sagt sie, dass es besser war, von Geburt an behindert zu sein, als durch einen Unfall. "Ich kenne es nicht anders. Nur in der Pubertät war es nicht so einfach. Da hieß es: Friss es oder lass es." Sie hat es "gefressen". Gewann bei Kinder-Spartakiaden erste Medaillen, machte nach der Wende eine Lehre zur Bürokauffrau und wurde eine Leistungssportlerin, die mit ihrer Familie fast alles selbst finanzieren muss. "Bei meiner ersten Deutschen Meisterschaft wurde ich erste von hinten", sagt sie. "Das hat mich angespornt." Zwei Jahre später holte sie den Meistertitel. Auch wegen ihrer Erfolge bekam sie einen Job als Sachbearbeiterin bei der Bundeswehr. Jede Woche fährt sie 120 Trainingskilometer und hat sich für Peking qualifiziert. Ihr Traum.

Sie ärgert sich über den Imageverlust des Sports durch die Dopingskandale. Sie ärgert sich, dass Sportler nicht mehr automatisch Vorbilder für Kinder sind - nicht mehr sein können. "Doping macht auch vor dem Behindertensport nicht halt", sagt sie. Auch da geht es um hundertstel Sekunden, Rekorde oder eine 200 000-Dollar-Siegprämie beim Boston-Marathon. "Ich kann nur garantieren, dass ich sauber bin", sagt sie. Ihr Ziel für die Paralympics ist einfach. "In Peking will ich einfach nur persönliche Bestzeit fahren. Vielleicht bringt das eine Medaille, vielleicht nur den sechsten Platz."

Egal, welchen Platz sie belegt: Die Startnummern aus Peking wird sie hinten an die Rückenlehne ihres Alltagsrollstuhls heften. Das macht sie mit allen Nummern, mit denen sie startet. Derzeit hängt dort obenauf die "18" vom Halbmarathon im April in Lissabon. Sie wurde Vize-Weltmeisterin. Vielleicht ein gutes Omen für Peking.

Berliner Zeitung, 01.09.2008