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Wahlkampf in der Schockstarre

Brigitte Fehrle

Es gab in diesem Land in den vergangenen Jahrzehnten kaum einen Wahlkampf, in dem man die Abwesenheit einer Wahlkampfstimmung vermisst hätte. Im Gegenteil, meist ging in den letzten Monaten vor dem Wahltag die Klage in die gegenteiligen Richtung: Alles nur Wahlkampf! hieß es da bei jeder pointierten Äußerung oder einer mehr oder minder populären inhaltlichen Zusage an die eigene Klientel.

In diesem Jahr nun ist alles anders. Und plötzlich vermissen wir etwas, woran wir jahrelang Überdruss empfunden haben. Nur, was ist das eigentlich, was uns fehlt? Die Themen? Nun ja. Es gäbe genug. Erst gestern haben die Arbeitgeber wieder eines in die Debatte geworfen: Sie verlangen die Aufweichung des Kündigungsschutzes. Die Grünen und der SPD-Umweltminister Sigmar Gabriel versuchen es mit der Atomkraft und verlangen das Ende vom Standort Gorleben als Endlager für radioaktiven Müll. Die Piratenpartei hat es immerhin geschafft, die Frage der Internetzensur in die Öffentlichkeit zu bringen, aber als Wahlkampfthema hat dies auch nicht reüssieren können. Man könnte die Liste beliebig verlängern - Gesundheit, Steuern, Pflege, Demografie. Keines der großen Themen der vergangenen Wahlkämpfe ist so gelöst, dass man sagen könnte: Darüber müssen wir nicht mehr reden. Und doch kommt bei keinem Thema eine öffentliche Kontroverse auf.

Liegt es also daran, dass es keine mitreißenden, angriffslustigen Wahlkämpfer gibt? Frank-Walter Steinmeier ist nicht gerade eine politische Springmaus. Und das Charisma von Guido Westerwelle entzündet nicht die Massen. Gregor Gysi steht im Schatten von Oskar Lafontaine, und bei den Grünen stehen sich die Kandidaten gegenseitig im Weg. Und offensichtlich gibt es ein Bedürfnis danach, bewundern zu können. Anders ist der märchenhafte Aufstieg eines Karl-Theodor zu Guttenberg nicht zu verstehen. Aber abgesehen davon: Auch andere Wahlkämpfe hatten durchschnittliche Kandidaten und waren gleichwohl hitzig und kontrovers.

Also ist die Kanzlerin schuld? Liegen die Langeweile und die trübe Stimmung und das Gefühl, es gebe gar nichts zu streiten, daran, dass sich Angela Merkel nicht streiten will? Auch das. Merkel hat eine Meisterschaft darin entwickelt, Angriffe an sich abprallen zu lassen. Sie ist keine Jägerin, sie ist eine Sammlerin. Sie nimmt an möglicher Zustimmung alles mit, was sich rechts und links ihres Weges finden lässt: die ehemaligen Kohl-Anhänger, die konservativen Vertriebenen, die traditionellen Sozialdemokraten, die bürgerlichen Grünen. Für alle hat Merkel eine Botschaft. Und die ist stets so allgemein, dass sie nie kontrovers wird. Also tut Merkel viel für die breitwürfige, unspezifische Stimmung dieses Wahlkampfes.

Aber taugen diese Phänomene wirklich, um die ganz und gar merkwürdige Wahlkampfstimmung dieses Herbstes zu erklären? Sicher nicht. Denn das Merkwürdigste dieses Wahlkampfes überhaupt ist, dass das wichtigste Thema des Jahres 2009 nicht vorkommt: die Krise. Die Krise ist da, sie fegt um die Welt, hat Banken in die Tiefe gerissen, lässt Absatzmärkte zusammenbrechen und bringt amerikanische Immobilienbesitzer um ihre Existenz. Doch so gewaltig sie ist, bleibt die Krise doch bei uns in zweifacher Weise abwesend. Weder haben das Land und seine Bürger das Gefühl, von diesem ökonomischen Tsunami persönlich erfasst worden zu sein. Noch entwickeln Politiker die Neigung über Ursachen und Wege aus der Krise zu streiten. Doch was sagt uns die Abwesenheit dieses einzigen, zentralen Themas, das die öffentliche Debatte seit der Pleite der Lehman-Bank in den USA am 15. September 2008 bestimmt hat?

Fast hat man den Eindruck, es liege eine Art Schockstarre über der Politik und den Bürgern. Keiner will sich bewegen, damit nichts aufgerührt wird, von dem man nicht weiß, wie oder wie heftig es sich dann anfühlt. Die Politik ist bei der Bewältigung der Krise ohne Gewissheiten, sie agiert auf schwankendem Grund, sie tastet sich voran. Die Politik hat ja in den vergangenen Monaten nicht mutig agiert. Im Gegenteil. Sie war ängstlich, vorsichtig. Die Regierung hat die Banken gerettet, ohne sie wirklich an die Leine zu legen, sie hat kein großes Konjunkturprogramm, sondern zwei kleine Paketchen beschlossen, war bislang glücklos bei der Rettung von Opel. Kurzum, sie hat auf Sicht regiert. Das ist nicht zu kritisieren. Die Krise ist einmalig, es gab keine Matrix, keine Handlungsanweisung. Doch dieser Stil hat Spuren hinterlassen bei den Bürgern, den Wählern. Es hat eben auch sie vorsichtig gemacht, ängstlich. Auch sie leben auf Sicht. Und die Aufregung um Dienstwagen und Abendessen im Kanzleramt passt absolut dazu. Man kann sie verbuchen als Triebabfuhr an unbedeutender Stelle.

Die unwirkliche Ruhe des Wahlkampfes passt auf die unwirkliche Stille, die dieser Krise anhaftet. Politik und Bürger sind im Gleichklang. Das wird sich auch bis zum 27. September nicht ändern. Da kann die Opposition, da kann die SPD strampeln, wie sie will.

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Das Merkwürdigste dieses Wahlkampfes überhaupt ist, dass das wichtigste Thema des Jahres 2009 nicht vorkommt: die Krise.