Textarchiv

Was zur Wahl steht

Brigitte Fehrle

Versetzen wir uns einmal kurz zurück in die Tage und Wochen vor der Bundestagswahl 2005. Damals hätte keiner gesagt, der Wahlkampf sei langweilig oder spannungslos, wie das heute oft zu hören ist. Gerade die letzten Wochen waren angespannt und hart. Unversöhnlich standen sich die Lager gegenüber: Rot-Grün auf der einen Seite. Rot-Grün, die sieben Jahre Regierungspolitik zu verteidigen hatten. Und auf der anderen Seite eine Union, die Seite an Seite mit der FDP mit radikalen Steuerkonzepten, Kopfpauschalen für den Gesundheitssektor und der Forderung nach Abschaffung des Kündigungsschutzes Front machte gegen Schröder. Das Land war in Wechselstimmung. Nicht unbedingt Richtung Schwarz-Gelb. Nicht unbedingt für eine Kanzlerin Angela Merkel. Aber gegen Rot-Grün. Das Land fühlte sich in der Krise. Die Demonstrationen gegen das Arbeitslosengeld II rissen nicht ab. Sie trieben die Leute in die Arme der Linkspartei. Und die SPD hatte irgendwie den Kopf verloren. Die Wähler hatten die Wahl. Sie wussten auch welche und warum. Sie wussten: Es geht um viel.

Die Stimmung der frühen 2000er-Jahre scheint aus heutiger Sicht unbegreiflich. Angesichts der Weltwirtschaftskrise, angesichts der Finanzkrise, angesichts der dramatischen Zuspitzung der Klimakrise, ist es im Jahr 2009 erstaunlich ruhig. Demonstrationen? Aufruhr? Hitzige, zugespitzte Debatten? Die Empörung gegen Hartz IV hat sich von der Straße in die Sozialgerichte verlagert, wo die Betroffenen erbarmungslos um jeden Cent prozessieren. Die gesellschaftlichen Streitpunkte von damals haben sich individualisiert. Und die großen Krisen des Jahres 2009 haben die Deutschen nur abstrakt erreicht. Die große Koalition federt mit immensem Aufwand alle Auswirkungen ab. Opel wird gerettet, Kurzarbeit massenhaft ausgeweitet, Konjunkturpakete aufgelegt. Die Regierung tut alles, damit die Krise nicht bei den Bürgern ankommt. Sie hat einen riesigen Rettungsschirm nicht nur über die Banken, sie hat ihn über das ganze Land gespannt. Offenbar leben die Bürger in dem Gefühl, es sei alles doch noch mal gutgegangen. Deutschland im Weichzeichner.

Und es hat den Anschein, als seien die Leute froh, nicht klar sehen zu müssen. Sie leben ohne Protest in Watte gepackt und gepampert. Sie akzeptieren, ohne viel zu fragen, die Milliarden für Opel, die Milliarden für die Kurzarbeit, die Milliarden für die Konjunkturpakete. Die meisten schreien nicht nach Wahrheiten. Sie schauen nicht über ihren eigenen Tellerrand, solange noch Suppe drin ist.

Die Wahl des Jahres 2009 ist eine Wahl im Scheinland. Die Bürger werden von den Parteien in dem Glauben gelassen, es könne so weitergehen wie bisher. Aber erinnern wir uns an das Jahr 2005. Da lagen hinter Gerhard Schröder und den Grünen sieben Jahre, in denen sie versuchten, der Arbeitslosigkeit Herr zu werden und den Staatshaushalt in Ordnung zu bringen. Damals waren die Schulden nicht annähernd so hoch, wie sie es jetzt, nach oder in der Finanzkrise sind. Damals waren wir noch Exportweltmeister, damals hatte uns China noch nicht überholt in der Solartechnologie, damals waren die USA noch Konjunkturmotor. Damals lebten noch weniger Kinder in Armut, und die Zahl der ungesicherten Arbeitsplätze war spürbar niedriger.

Man braucht nicht lange nachdenken, um zu wissen, dass das nicht gutgehen kann, nicht gutgehen im Sinne von: Wir werden von der Krise nichts merken, sie wird lediglich wie ein kühler Hauch an uns vorbeiziehen. Und weil das so nicht sein wird, geht es bei dieser Wahl um viel. Die nächste Bundesregierung wird von vorn beginnen müssen, den Haushalt zu sanieren, ohne die inzwischen größere Masse von Armen noch ärmer zu machen. Sie wird eine Politik machen müssen, die Arbeitsplätze schafft, ohne in den Verdacht zu kommen, nur die Reichen und die Unternehmen zu entlasten. Sie wird daran arbeiten müssen, dass wir wieder näher zusammenrücken. Sozial, materiell und in unserer individuellen Verantwortung füreinander. Sie wird sich der Realität stellen müssen, dass die Länder Asiens, Lateinamerikas und Arabiens uns in Know-how und Technologie beginnen zu überholen, weil sie die Kinder zumindest ihrer Eliten besser bilden, als wir das tun. Die nächste Regierung wird also unser Selbstbild einer Nation, die ein Besser-Sein-Gen besitzt, korrigieren müssen, ohne in Selbstmitleid zu verfallen. Und sie muss unser Verhältnis zum Krieg, unserer Beteiligung an den Kriegen in der Welt klären. Schlicht gesagt: Die nächste Bundesregierung wird uns sagen müssen, dass wir uns anstrengen müssen. Im Denken und im Handeln. Jeder an seinem Platz und jeder wie er kann.

Welche Regierung soll das schaffen? Für uns Wähler ist das die falsche Frage. Wir können nur versuchen, die Partei stark zu machen, der wir am ehesten zutrauen, dass sie den Problemen ins Auge sieht: klug, mutig, konsequent und mit einem großen Herz für die Schwachen.

------------------------------

Die Wahl des Jahres 2009 ist eine Wahl im Scheinland. Die Bürger werden von den Parteien in dem Glauben gelassen, es könne so weitergehen wie bisher.