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KOMMENTAR

Die SPD will vorwärts und dabei vergessen

Brigitte Fehrle

Frank-Walter Steinmeier will Oppositionsführer im Bundestag werden. Franz Müntefering will auf dem Parteitag im November wieder für den Parteivorsitz antreten. Als die beiden Spitzenmänner der SPD am Sonntagabend nach der dramatischen Niederlage der SPD im Bund und den Ländern im Willy-Brandt-Haus auftraten, war alles zu hören, nur keine Selbstkritik. Im Gegenteil. Müntefering redete, als ob die Sozialdemokratie ein Naturrecht auf Existenz als Volkspartei habe und deshalb gar nicht untergehen könne.

Was ist das? Hybris? Absolute Selbstüberschätzung? Realitätsverlust? Eine Art Schockstarre angesichts des desaströsen Ergebnisses? Wahrscheinlich von allem etwas. Die SPD sieht sich als Volkspartei mit Bestandsgarantie. Sie erlaubt sich bis heute den Gedanken nicht, es könne ein soziales Deutschland auch ohne starke SPD geben. Es scheint ihr unmöglich sich vorzustellen, sie könne ihre historische Mission beendet haben, ihr Erbe könne von anderen weitergeführt werden. Die Partei denkt und fühlt rückwärts und linear. Brüche kommen in ihrem Selbstbild nicht vor. Doch das Wahlergebnis vom Sonntag hat endgültig zu Tage gefördert, dass die deutsche Parteienlandschaft nicht mehr ist, wie sie mal war. Das Ergebnis jeder Partei ist historisch zu nennen. Das der SPD mit besonders negativem Ton. Wenn die Sozialdemokraten glauben, sie könnten diese Lage mit den üblichen Mechanismen von Parteiräson, Disziplin und Hinterzimmerdiplomatie managen, ist ihr nicht zu helfen.

Aber warum haben sich die Wähler in Scharen von der SPD abgewandt? Wie konnte sie innerhalb von vier Jahren sechs Millionen Stimmen verlieren? Unsoziale Politik kann man der SPD, betrachtet man die vergangenen vier Jahre große Koalition, nicht vorwerfen. Und wer den Deutschland-Plan von Steinmeier nimmt, der findet viel soziale, ökologische Politik. Realpolitik. Und vielleicht liegt darin ein Teil der Antwort. Die SPD ist eine Partei, von der man Pathos erwartet. Eine Idee, die weiter trägt als eine Legislaturperiode. Etwas Größeres, Besseres, wenn man so will, ein Heilsversprechen. Dieses Problem hat die Partei seit Gerhard Schröder die SPD auf die "Neue Mitte" orientierte. Und seit Rot-Grün mit der Agenda 2010 das Signal aussandte, die SPD stehe nicht mehr bedingungslos an der Seite der Schwachen. Beides waren Einschläge, die nicht nur in der Kernwählerschaft der SPD unvorhersehbar langfristige Schäden angerichtet haben. Sie haben das Image der SPD als Anwalt der kleinen Leute in den Augen weiter Teile der Bevölkerung zerstört. Alle Versuche, dies durch neues Personal (Müntefering, Beck, Steinmeier) oder soziale Politik (Mindestlöhne, Wohngeld) zu heilen, schlugen fehl, mussten in der Regierungszeit fehlschlagen.

Für die SPD geht es nach diesem dramatischen Wochenende nicht mehr um die Frage, wann und wie sie den Weg ebnet zu Koalitionen mit der Linkspartei, um neue Machtoptionen zu haben. Sie muss tiefer und gründlicher schürfen. Für die SPD geht es um die Existenz. Nicht um die Existenz als Partei, aber um die Existenz als Volkspartei. Die Sozialdemokraten werden sich, wenn man so will, radikalisieren müssen, um wieder wählbar zu werden. Radikalisieren, ohne in einen platten Überbietungswettbewerb mit der Linken zu geraten. Mit authentischen Leuten an der Spitze.

Ansätze dazu waren am Wahlabend nicht zu erkennen.