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So voller Wut

Seine Helden sind besessen vom Kampf gegen Gewalt und Rassismus. Wie er selbst zu seinen Lebzeiten. Auf den Spuren des Thriller-Autors Stieg Larsson

Frank Junghänel

STOCKHOLM. Vielleicht würde Stieg Larsson noch leben, wenn damals der Fahrstuhl funktioniert hätte. Am Tag, als ihm der Tod bereits wie ein Schatten gefolgt war, musste er die Treppe nehmen, um die Redaktion der Zeitschrift Expo im siebenten Stock des Hauses in der St.Göransgatan 84 zu erreichen. Auf seinem Weg nach oben hat ihn der Tod eingeholt.

Es ist Dienstag, der 9. November 2004 in Stockholm. Zur Mittagszeit geht der Journalist Larsson, fünfzig Jahre alt, sechzig Zigaretten täglich, um die Ecke etwas essen. Das ist ungewöhnlich, in der Regel verbringt er den ganzen Tag in den Räumen von Expo. Stieg Larsson ist der Chefredakteur dieser antifaschistischen Zeitschrift mit großer Ambition und kleiner Auflage. Er kümmert sich um alles, Titel, Leitartikel, Fotos, da bleibt oft nur Zeit für einen Kaffee und Pizza aus der Pappe. Doch der Abend könnte noch lang werden, er ist mit seinem alten Freund Kurdo Baksi verabredet, einem kurdischen Aktivisten, der ihn zu einer Diskussionsrunde begleiten will. Es ist der Jahrestag der Pogromnacht.

Als Stieg Larsson nach der Mittagspause in die Redaktion zurückkehrt, wird ihm auf einmal schlecht. Seine Kollegen alarmieren den Notarzt, der ihn sofort in ein benachbartes Hospital bringen lässt. Doch dort kann ihm niemand mehr helfen. Am Abend stirbt Stieg Larsson an einem schweren Herzinfarkt.

So tragisch dieser frühe Tod, so unbemerkt wäre er außerhalb von Schweden geblieben, hätte Larsson nicht ein spektakuläres Erbe hinterlassen. Ein Erbe, um das ein bizarrer Streit entbrannt ist. Er war nicht nur der Herausgeber einer defizitären Zeitschrift, nebenher hat er drei Kriminalromane geschrieben, die postum zu Bestsellern wurden. Die so genannte Millennium-Trilogie ist das erfolgreichste Buchprojekt der letzten Jahre. Allein in Schweden wurden bisher dreieinhalb Millionen Exemplare des Thrillers verkauft, bei neun Millionen Einwohnern. Auch in Deutschland liegt die Auflage der drei ziegelsteindicken Bände längst jenseits der drei Millionen.

In Hollywood interessieren sich Quentin Tarantino, Brad Pitt und George Clooney für den Stoff. Am Donnerstag kommt aber erst einmal die schwedische Version in die deutschen Kinos. Der erste Teil der Trilogie trägt hier den Titel "Verblendung".

Kurdo Baksi war damals der erste, der Stieg Larsson am Totenbett besuchte. "Er sah endlich glücklich aus", sagt er. "Sie müssen wissen, Stieg war ein Pessimist, ein pessimistischer Workoholic, der um sich herum nur das Böse gesehen hat. Er war oft so voller Wut. Das macht den Menschen krank." Baksi ist 44 Jahre alt und kommt aus einer kurdischen Familie, die vor fast dreißig Jahren aus der Türkei nach Schweden emigriert ist. Der kleine Mann mit dem eisgrauen Haarkranz hat mit sich und seiner Umgebung weniger Probleme. Selbst Publizist und Journalist, scheint Kurdo Baksi ein eher optimistischer Workoholic zu sein. 1999 wurde er für sein Engagement in Immigrationsfragen mit dem Olof-Palme-Friedenspreis geehrt. Für das Gespräch über Stieg Larsson hat er ein Café in der Nähe der Expo-Redaktion vorgeschlagen.

An den Tischen sitzen Männer mit Laptops, daneben Mütter, die ihre Kinderwagen schaukeln, Einheimische und Einwanderer. Sie sprechen englisch miteinander. Ein Bild, das dem Klischee vom modernen Schweden entspricht. Larsson empfand diese schwedische Art von Modernität als Trugbild, das er kraft seiner Worte zerschlagen wollte. Es war besonders die Gewalt gegen Frauen, die ihn empört hat. "Jedes Jahr werden bei uns 35 Frauen von ihren Partnern umgebracht", sagt Baksi. "Die Vergewaltigungsrate in diesem Land zählt zu den höchsten in Europa." Larsson sei ein männlicher Feminist gewesen. Kommentare in einem Blatt mit 1 500 Abonnenten hätten ihm schließlich nicht mehr genügt. "In diesem Café", sagt Baksi, "hat mir Stieg zum ersten Mal von seinem Roman erzählt."

Die Geschichte um den aufrechten Journalisten Mikael Blomkvist und seine ebenso geniale wie verstörte Assistentin Lisbeth Salander handelt von Mord, Missbrauch und Vergewaltigung. Getrieben werden all diese Scheußlichkeiten von einer nazistischen Unterströmung in der Gesellschaft, die aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart reicht.

Blomkvist ist der Chefredakteur eines kleinen investigativen Magazins, das den Titel "Millennium" trägt, seine Kombattantin Salander eine autistische, bisexuelle, punkige Computerhackerin, deren Rachefeldzug gegen "Männer, die Frauen hassen", wie der Roman im Original heißt, bisweilen kamikazehafte Züge trägt. Bei seinen Recherchen in Politik und Wirtschaft kommt das Duo einer monströsen Verschwörung auf die Spur, die naturgemäß erst im Finale dieses auf zehn Teile angelegten Gesellschaftsromans aufgelöst werden sollte. Nun ist nach drei Teilen Schluss, und alle Welt fragt sich, wie es eigentlich weitergehen sollte.

Ach, sagt Baksi. Vermutlich hat er die Frage jetzt ein Mal zu oft gehört. Die Antwort darauf könne nur Larssons Lebensgefährtin Eva Gabrielsson geben. Wäre er so nett, ihre Telefonnummer zu nennen, die er sicher in seinem Handy gespeichert hat, das vor ihm auf dem Tisch liegt? Es tue ihm furchtbar leid, aber das ginge nicht. Er habe das einmal getan, worüber Frau Gabrielsson sehr verärgert gewesen sei. Sie spricht nicht mehr mit Journalisten, weil sie ihnen eben diese eine Frage, die alle stellen, nicht beantworten will. Was ist mit dem vierten Buch?

Um eine Erklärung für ihre Ressentiments gegenüber Journalisten finden zu können, muss man weit in das Leben ihres Gefährten und die gemeinsamen Jahre zurückblicken. Wie so oft ist der Grund aller Verletzlichkeiten in den Mustern der Kindheit zu suchen. Stieg Larsson wurde 1954 in Umeå geboren, einer Universitätsstadt im Norden. Seine Eltern waren Teenager, als er zur Welt kam. Selbst in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, konnten sie den Sohn kaum ernähren. So kam Stieg Larsson, als er ein Jahr alt war, zu seinen Großeltern. Der Opa, überzeugter Antifaschist, weckte in dem Jungen den Hass auf die Nazis, von denen es in Schweden mehr gab, als es viele Schweden wahrhaben wollen. Erst mit acht durfte Stieg zu seinen Eltern zurück. Da war jetzt ein Bruder, Joakim.

Mit vierzehn wünschte sich Stieg Larsson eine Schreibmaschine. "Er hat dann begonnen, Geschichten zu schreiben", erzählt Baksi. "Ich habe ein paar gefunden, aber die meisten sind bei seinem Bruder." Was waren das für Texte? "Soweit ich das sehe, eine Mischung aus Science-Fiction und Politik, utopische Sachen." Die Welt, wie Stieg Larsson sie sah, rief nach Verbesserung. Von Jugend an war er politisch aktiv, bei einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg hat er 1972 Eva Gabrielsson kennengelernt, die heute als Stadtplanerin arbeitet.

"Er wollte unbedingt Journalist werden", sagt Kurdo Baksi, "aber sie haben ihn nicht genommen." Larsson wurde an der Universität abgelehnt. "Das hat er nie akzeptiert. Wenn er Journalist geworden wäre, hätten wir heute nicht diese Bücher. Es war seine spezielle Art, für die Kränkung Rache zu nehmen."

Ende der siebziger Jahre verliert sich Larssons Lebensweg am Horn von Afrika. Er soll dort im Dienst einer trotzkistischen Gruppe Aufständische in Eritrea militärisch ausgebildet haben. Seine internationalistische Phase führte ihn auch auf die revolutionäre Karibikinsel Grenada, wo er Kontakt zu dem linken Premier Maurice Bishop knüpfte, der 1983 ermordet wurde.

Zu dieser Zeit arbeitete Larsson bereits in Stockholm bei der Nachrichtenagentur TT - als Grafiker. Seinen ersten Artikel dort durfte er nach vierzehn Jahren schreiben.

Als sich Mitte der neunziger Jahren in Schweden rechtsradikale Verbrechen mehrten und allein 1995 sieben Menschen von Nazis umgebracht wurden, beschloss Larsson, unter dem Namen Expo eine eigene Stiftung und ein Magazin zu gründen. Sein Ziel war es, rassistische und totalitäre Tendenzen in der Gesellschaft zu bekämpfen. In der Folge wurde Stieg Larsson wiederholt von Skinheads bedroht. Er fand seinen Namen auf einer Todesliste und musste sich verstecken. Um seine Lebensgefährtin Eva nicht in Gefahr zu bringen, führte das Paar nach außen ein getrenntes Leben. Es gab keine gemeinsamen Konten, keine Wohnung, keine Versicherung, die auf eine Lebensgemeinschaft hinweisen konnten. Ein Testament hat Larsson nie aufgesetzt.

So kommt es, dass Eva Gabrielsson, obwohl sie von Anfang an in das Millennium-Projekt eingebunden war, heute keinerlei Ansprüche geltend machen kann. Da das Paar keine Kinder hat, gehen alle Erlöse aus dem Buchverkauf an Larssons Eltern und seinen jüngeren Bruder Joakim. Die Familie hält auch die Rechte an allen weiteren Veröffentlichungen. Doch dazu wird es nicht kommen, solange man sich nicht einigt. Denn das Fragment eines vierten Bandes ist auf Larssons Laptop gespeichert, den Eva Gabrielsson an einem sicheren Ort verwahrt. Der Text, obgleich ihn bisher noch kein Verleger gelesen hat, ist Millionen wert. Und das im Namen Larssons, der Zeit seines Lebens nur Schulden kannte.

"Er hatte die Idee, ich das Geld", sagt Kurdo Baksi über die Gründung von Expo. In den neunziger Jahren hatte er ein eigenes Blatt herausgebracht, Svartvitt, Schwarz-Weiß, das sich ebenfalls dem antirassistischen Kampf widmete. Ab 1996 erschienen beide Hefte in einer gemeinsamen Ausgabe. Im dritten Band der Millennium-Trilogie bekommt Baksi auf Seite 283 seinen Auftritt: "Mikael Blomkvist kannte Kurdo Baksi seit den 80er-Jahren. Damals hatte Blomkvist zu den Leuten gehört, die Baksi mit praktischer Hilfe zur Seite standen, als er die Zeitung Svartvitt gründete", ist dort zu lesen. "Seitdem waren Mikael Blomkvist und Kurdo Baksi befreundet."

Da sich Literatur und Realität in diesem Fall tatsächlich spiegeln, also genau seitenverkehrt erscheinen, fühlt sich Baksi dazu ermuntert, anzunehmen, seine Person liefere überhaupt die Vorlage für die Romanfigur Blomkvist. Und nicht, wie viele annehmen, Larsson selbst. "Stieg war als Journalist wenig erfolgreich", sagt Baksi. "Die Öffentlichkeit hat ihn kaum wahrgenommen." Larsson sei schüchtern und introvertiert gewesen, niemals ein Draufgänger. "Stieg war eifersüchtig auf Mikael Blomkvist", sagt Kurdo Baksi. "Der ist beliebt, hat oft Sex. Immer wenn ich das Buch lese, sehe ich ein bisschen mich selbst. Ich liebe die Frauen, gehe aus, alles so was. Eigentlich bin ich eher Blomkvist als Stieg."

Fragt sich nur noch, wer das Vorbild für Lisbeth Salander abgibt. "Salander ist ein Mix aus drei Leuten, die mal bei Expo gearbeitet haben", sagt Kurdo Baksi. Die famosen Computerkenntnisse stammten von einem jungen Kollegen, Larsson selbst habe wenig Ahnung von diesen Dingen gehabt. "Er war groß im Googeln." Die Piercings im Gesicht habe er sich bei einer finnischen Praktikantin abgeschaut und die Physiognomie seiner Heldin bei einer anderen Mitarbeiterin.

Doch im Grunde ihres Herzens sind Mikael "Kalle" Blomkvist und Lisbeth "Langstrumpf" Salander bei Astrid Lindgren zu Hause.

Und bei einem Dutzend Detektiven der Weltliteratur. "Stieg hat jeden Kriminalroman gelesen, der in den letzten zweihundert Jahren erschienen ist", erzählt Kurdo Baksi. "Ob Indien, Südafrika, Lateinamerika, USA, er kannte alles, die Engländer sowieso." Das ist seinem Thriller anzumerken. "Im Sommer 2003 hat er mir gesagt, ich habe drei wunderbare Bücher und möchte, dass Du sie liest. Ich habe gesagt, nein, ich will das nicht. Du hast als Reporter nie besonders gut geschrieben, warum solltest Du gute Bücher schreiben." Larssons Artikel seien immer viel zu umständlich gewesen.

Kurdo Baksi hat die Trilogie seines Freundes erst nach dessen Tod gelesen. "Ich wünschte, ich hätte ihm noch sagen können, dass ich mich in ihm geirrt habe."

Im Frühjahr 2004 hatte Larsson einen Kontrakt über drei Bände abgeschlossen, jedes Manuskript etwa 800 Seiten stark. Der dritte Teil war noch nicht komplett lektoriert, als er starb. Was einige Ungereimtheiten im Text erklären könnte.

"Zum Schluss war Stieg ganz entspannt", sagt Baksi. "Einen Tag vor seinem Tod hat er mir am Telefon erzählt, er sei überzeugt davon, dass er den besten schwedischen Krimi aller Zeiten geschrieben hat."

Und was ist nun mit Teil vier?

"Ich erzähle ihnen jetzt mal was. Es gibt kein viertes Buch, sondern ein fünftes." Kurdo Baksi genießt kurz den Effekt seiner Enthüllung. Stieg Larsson hat an fünf Büchern zugleich geschrieben. Er malt jetzt ein Schema auf die Serviette. Fünf Balken, wie bei der Wahl. Vielleicht sollte man sich das Papier aufheben, womöglich ist es auch mal Millionen wert. "Er kam mit Teil vier nicht zurecht und ist gleich zu Teil fünf übergegangen." Etwa 270 Seiten habe er geschafft. Dies sei das legendäre Fragment im Laptop. Die Geschichte spiele im kanadischen Norden, in dem Ort Sachs Harbour, wo neben 40 000 Moschusochsen nur eine Handvoll Menschen lebt.

Das ist nun Larssons Erbe? Ein paar Seiten über Moschusochsen?

Daniel Poohl interessiert das alles nicht so sehr. Er ist kein großer Krimi-Fan, aber er ist seit drei Jahren Chefredakteur von Expo. Die Zeitschrift gibt es immer noch, und das ist für ihn Stieg Larssons eigentliches Vermächtnis. Die Familie in Umeå hat dem Magazin eine halbe Million Euro gespendet, damit ist dessen Existenz auf Jahre gesichert.

Daniel Poohl ist 28 Jahre alt, trägt Wollpullover, Dreitagebart und Hornbrille und sieht somit exakt so aus, wie man sich den Chef eines schwedischen linken Politmagazins vorstellt. Er hat vor acht Jahren als freier Mitarbeiter bei Expo angefangen und als erstes für Stieg Larsson einen Wallraff-Job erledigt, wie er das nennt. Sein Auftrag war es, eine Neonazi-Organisation zu unterwandern. "Ich erinnere mich an Nächte mit Stieg, in denen wir viel diskutiert und viel geraucht haben", sagt Poohl. "Er war sehr offen, speziell zu jüngeren Leuten, das ist bei uns in Schweden nicht so üblich."

Die Redaktion liegt direkt unter dem Dach des Hauses. Der Großraum in der Mitte hat weiß getünchte schräge Wände. An diesem Nachmittag ist kaum jemand da, das aktuelle Heft hatte gerade Redaktionsschluss und ist jetzt in der Druckerei. Die Titelgeschichte beschäftigt sich mit den Anfeindungen, denen sich antirassistische Gruppen ausgesetzt sehen. Hat sich in Schweden gar nichts zum Besseren gewandelt, seit Stieg Larsson gestorben ist? Daniel Poohl überlegt nicht lange. "Bei uns wird im nächsten Jahr gewählt, und zum ersten Mal haben die Rechtsradikalen eine reelle Chance, ins Parlament einzuziehen." Dies zu verhindern, ist eine große Aufgabe für ein kleines Magazin.

Auf dem Klingelbrett am Eingang zur St.Görangatan 84 steht in der siebenten Etage nur ein einziger Name: Larsson, in Messing graviert. Stieg Larsson lebt hier nicht mehr, aber er ist immer noch gegenwärtig.

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"Er war sehr freundlich und offen, speziell zu jüngeren Leuten, das ist bei uns in Schweden nicht so üblich." Daniel Poohl, sein Kollege

"Stieg war ein Pessimist, ein pessimistischer Workoholic, der um sich herum nur das Böse gesehen hat." Kurdo Baksi, sein Freund

Foto: Stieg Larsson 1987 in einem Wagen der Transsibirischen Eisenbahn. Auf seiner Reise in den Fernen Osten machte er damals auch Abstecher nach Peking und Hongkong.

Foto: Lisbeth Salander wird in den Filmen der Millennium-Trilogie von der schwedischen Schauspielerin Noomi Rapace verkörpert. Heute kommt der erste Teil, "Verblendung", in die deutschen Kinos.