Die Brandenbürger

Hans Waal Foto: Andreas Labes
Hans Waal auf dem einstigen "Russenflugplatz" Alt Daber. Hier fand er kyrillische Buchstaben an den Wänden einer Flugzeughalle - und Hakenkreuze.

Die Geiselname des Dorfpfarrers

Hans Waal hat einen Roman über Nazis geschrieben - inspiriert auch von seiner Wochenendheimat

Jens Blankennagel

WITTSTOCK. An diesem friedlichen Ort ist also das Unglaubliche passiert: Im März 2004 nahmen vier SS-Männer - alle knapp 80 Jahre alt - den Dorfpfarrer als Geisel. Eigentlich wollten sie nur mal wieder in eine Kirche. Denn sie hatten seit April 1945 in einem Nazi-Bunker unter dem Bombenabwurfplatz bei Wittstock ausgeharrt. Der Pfarrer hatte am Vortag beim Ostermarsch noch gegen das Bombodrom protestiert. Eine Sondereinheit der Polizei will ihn befreien, doch die Nazis entwischen. Die Jagd durch Brandenburg beginnt.

Genauso ist es gewesen. Zwar nicht in der Realität, aber im Roman "Die Nachhut" von Hans Waal - einer Satire. Die Handlungsorte sind real. Der Autor, in Jeans und abgewetztem Parka, steht vor der Kirche von Dossow bei Wittstock (Ostprignitz-Ruppin). Der Ort bietet an dem Tag alle Zutaten für einen kitschigen Werbefilm: Die Sonne strahlt, riesige Bäume spenden Schatten. Ein Hund bellt. Die Kirchenglocke läutet zehn Minuten. Drei Reiter traben übers Kopfsteinpflaster. Doch die Idylle trügt. Die Betonpfeiler des Zauns bröckeln, die Kirche ist verschlossen, ebenso das benachbarte Pfarrhaus. Waal hat vor Jahren in der Kirche geheiratet. "Deshalb hat sie sich wohl in den Roman geschlichen", sagt der 39-Jährige mit ruhiger Stimme. Kaum hörbar schleicht sich ab und an ein leicht sächsisch gefärbtes Wort ein.

Als der Leipziger sein Buch vor einigen Jahren begann, lebte er im Nachbardorf Goldbeck. Er ärgerte sich über die Pläne der Bundeswehr, das Bombodrom zu reaktivieren. Er ärgerte sich auch über alte und neue Nazis. "Irgendwie kam alles zusammen", sagt Waal, der im Alltag für eine bekannte Zeitschrift arbeitet. "Sonst darf ich immer nur schreiben, was wahr ist." Den Roman hat er unter dem Pseudonym Hans Waal veröffentlicht. "Ich will die journalistische Arbeit klar von der Schriftstellerei trennen." Als Journalist hat er oft über Neonazis recherchiert. "Ich war immer erschüttert, wie unwissend die Jungs sind, wie sie den Krieg und die Verbrechen schönreden, ohne Ahnung zu haben", sagt Waal. "Es sind gefährliche Schläger, aber politisch-intellektuell sind sie meist viel zu naiv und blöd."

Waal lebt wieder in Leipzig, ist nur noch Wochenendbrandenburger und hat in einem rustikalen Anwesen in Goldbeck ein Zimmer zur Untermiete. Dass Wittstock zum Handlungsort wurde, ist eher Zufall und soll den Ort nicht abstempeln. "Die Geschichte hätte auch in Sachsen oder Hessen spielen können, Neonazis gibt es überall", sagt er.

Doch seine Zweitheimat ist voller historischer und aktueller Bezüge. An einem Haus mitten im Dorf erinnert eine Tafel an den Todesmarsch des KZ Sachsenhausen im April 1945, bei dem die SS insgesamt 6 000 Häftlinge ermordete. Bei der Fahrt übers Land zeigt Waal kurz vor Wittstock auf einen große, bunkerhafte Garage und sagt: "Da treffen sich die jungen Nazis." Vor zwei Jahren gab es in der Stadt einen Laden, der verkaufte die bei Rechtsextremisten beliebten Thor-Steinar-Klamotten, der Inhaber gab dann aber auf. Waal zeigt auf eine einstige "Irrenanstalt", die am Euthanasieprogramm der Nazis beteiligt war. "Hier ist überall Geschichte", sagt er. "Es ist ein ewiges Thema."

Das Thema Vergangenheitsbewältigung hat ihn in der brandenburgischen Einsamkeit umgetrieben. "Vieles, was in den 20 Jahren nach dem Krieg vergessen und verdrängt wurde, ist in den folgenden 40 Jahren fast übertrieben bearbeitet worden." Oft hörte er Jugendliche sagen, das Thema öde sie an. Deshalb erzählt er im Roman aus der Sicht verschiedener Generationen. Auch aus der eines Jugendlichen, der nichts mit den Verbrechen zu tun hat und doch wegen der Historie handeln muss.

Waal fährt zum einstigen "Russenflugplatz" Alt Daber bei Wittstock. Er weist auf eine zerfallene Flugzeughalle. An den Wänden fand er vor Jahren kyrillische Buchstaben sowjetischer Soldaten, aber auch Hakenkreuz-Schmierereien deutscher Jugendlicher. Im Buch glauben deshalb die SS-Männer, dass der Krieg noch immer tobt. In der Realität hat inzwischen jemand große silberne Buchstaben an den Eingang der Halle gesprüht: "Gegen Nazis." Waal lächelt und sagt: "Es gibt Hoffnung. Es tut sich etwas. Wenn auch nur ein bisschen."

------------------------------

Ausgeharrt im Bunker - Das Buch

Kommen vier alte Nazis nach 40 Jahren aus dem Bunker - so könnte ein Witz beginnen. Die skurrile Idee kann aber auch einen Roman tragen. Das beweist Hans Waal in seinem Debüt "Die Nachhut". Josef, Otto, Konrad und Fritz wurden blutjung zur SS eingezogen und halten seit April 1945 einen geheimen Bunker bei Wittstock warm. Als nach 60 Jahren ihr letzter Büchsenöffner abbricht, wagen sie den Ausstieg. Eher zufällig fallen Schüsse, ein Bus mit US-Schülern wird getroffen. Die Polizei fahndet nun mit einem Großaufgebot nach ihnen.

Geschickt wechseln die Perspektiven. Die SS-Männer treffen Neonazis und halten die wegen der kurzen Haare für Russen. Die Altnazis glauben, dass die Jugend noch immer für Hitler stirbt, weil überall Kreuze am Straßenrand an Tote erinnern. Dazu werden reale Fakten eingewoben. Etwa, dass Coca Cola ein beliebtes Getränk der Hitlerjugend war. Der Autor hat einen politischen Anspruch. Er fragt lieber, statt Antworten zu geben. Wer hat recht im Kampf gegen den Nazi-Ungeist? Die Verteufler, die Vertuscher, die Ignoranten? Absurd, böse, witzig und klug ist dieser Roman. Weder politisch korrekt noch belehrend, dafür moralisch ehrlich. (bla.)

Berliner Zeitung, 21.07.2008