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Datum:   05.01.1996
Ressort:   Politik
Autor:   Rolf Schneider Schriftsteller in Berlin

Schule der

Nashörner

Vor ein paar Jahren erhielt ich einen Brief. Er war in Kinderschrift verfaßt und hatte diesen Inhalt: "Lieber Rolf Schneider, bitte schreiben Sie uns einen Vierzeiler über das Nashorn. Zum Dank dafür lernen wir ihn auswendig. Abgemacht?" Unterzeichnet hatte die 2. Klasse einer Schule in Bremen.

Ich fand den Brief lustig und antwortete mit dieser Strophe: "Das Nashorn ist ein großes Tier,/ Hat Hörner zwei und Pfoten vier,/ Hat Magen, Lunge, Herz und Nier/ Und trinkt am liebsten Dosenbier." Darauf schickten mir die Kinder ein Buch, zusammengeheftet aus 60 DIN-A4-Blättern, und auf denen standen viele Nashorn-Gedichte. Die Verfasser hießen zum Beispiel Dieter Wellershoff und Herta Müller, Erich Hackl, Albert Drach, Karl Mickel, Elisabeth Plessen und Peter Zadek. Einer, Thomas Brasch, hatte seine Verse per Telegramm übermittelt. Daneben gab es Nashornlieder, in der Originalpartitur ihrer Komponisten, zum Beispiel von György Ligeti. Es gab außerdem Nashornbilder, zum Beispiel von Friedrich Karl Waechter, Michael Sowa und einem Altmeister der klassischen Moderne, Emil Schumacher. Es waren Texte und Fotos wiedergegeben, die von den Kindern der Schule und ihrer Arbeit erzählten, und auf der letzten Seite des Buches fand ich diesen Vermerk: ",Das Nashorn` dokumentiert die Ergebnisse des gemeinsamen Unterrichts der behinderten und nichtbehinderten Schüler der 2. Klasse." Ich begriff, daß es hier nicht nur um ein Dokument schulischer Phantasie und kindlichen Spielwitzes ging, sondern um ein beeindruckendes Projekt integrativer Erziehung.

Knapp zwei Jahre darauf erhielt ich abermals einen Brief aus Bremen: "Wir, die Kinder der 3. Klasse, arbeiten mit behinderten Kindern zusammen. Wir wollen auch nach der 4. Klasse noch mit unseren Freunden zusammenbleiben! Wir lassen nicht zu, daß unsere behinderten Mitschüler aus unserer Klasse herausgerissen werden! Dafür sammeln wir Unterschriften." Ich unterzeichnete den Protest. Ich machte auch sonst noch ein bißchen Lärm, und andere verfuhren wohl ebenso. Die Kinder selbst traten in eine Art von Leistungsstreik, indem sie nur noch schlechte Noten erzielten. Die Klasse blieb schließlich beieinander.

Soeben traf ein neuerlicher Brief aus Bremen ein, und der geht so: "Jetzt wollen die Politiker schon wieder unsere behinderten Mitschüler aus unserer Klasse rauswerfen - zum Ende der 6. Klasse. Und das, obwohl Bürgermeister Henning Scherf uns noch im Januar 1995 fest versprochen hat, daß wir und alle aus der Grundschule nachrückenden Kooperationsklassen bis zur 10. Klasse zusammenbleiben dürfen. Wir finden das eine Sauerei, daß sich die Politiker nicht an ihr Wort halten." Diesem Befund schließe ich mich vollinhaltlich an.

Ich selbst habe 40 Jahre in einer Gegend gewohnt, die, als sie DDR hieß, zwar unentwegt das Wort Humanismus im Munde führte, die aber täglich Inhumanität praktizierte, auch dadurch, daß körperliche Behinderungen ausgegrenzt wurden. Kinder mit schweren physischen Schäden fanden allenfalls Aufnahme in kirchlichen Einrichtungen. Manchmal argwöhnte ich, der relative Freiraum, den die Kirche in der späten DDR genoß, werde bloß gewährt, da man sie bei Laune halten müsse, denn sie war der einzige Ort, wo sich menschliche Pflegefälle abladen ließen.

Neidvoll beobachtete ich das schulische Experiment, an dem das Kind eines Westberliner Freundes in Steglitz teilnahm. Mehrere Eltern, alle aus der 68er Bewegung, hatten sich zu einem integrativen Kinderladenprojekt zusammengefunden. Gegen Behördenwiderstand setzen sie es durch, daß die Gruppe aus behinderten und nichtbehinderten Kindern gemeinsam durch die Klassen der allgemeinbildenden Schule geführt wurde. Aus den 68ern, zu denen auch der Bremer Bürgermeister Scherf gehört, sind ältere Herren geworden. Die schöne Zeit der großen und kleinen Utopien ist vorbei. Wir haben nun die staatliche Einheit, die uns viel Geld kostet. Wir haben Maastricht mit seinen strengen Kriterien, die uns zwingen, auf Rentabilität im Öffentlichen Dienst zu achten. Bremen wird heute von einer großen Koalition regiert. Herr der Kassen ist ein Christdemokrat, der vermutlich der verbreiteten Christenmeinung ist, die Bergpredigt gehöre nicht ins Rathaus.

Die kleinen Bremer Schüler entdeckten für sich ein altes achtundsechziger Modell. Sie wollen eine eigene Alternativanstalt gründen, die "Schule der Nashörner", untergebracht in besetzten Räumen, und sie fragen bei ihren Freunden an, darunter bei mir, ob diese dort unterrichten wollen. Natürlich habe ich zugesagt. Nebenher blättere ich in ihrem Büchlein und finde ein Gedicht des erwähnten Malers Emil Schumacher. Er ist vom Jahrgang 1912. Er wurde verfemt von den Nazis, die bekanntlich auch körperlich Behinderte verfolgten. Schumacher reimte: "Das Nashorn träumt auf Erden,/ Daß Mensch und Tiere Brüder werden./ Von kurzer Dauer ist der Traum -/ Ein Jäger lauert hinterm Baum." +++

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