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Von Michael Castritius, ARD-Hörfunkstudio Mexiko Stadt, zurzeit Port-au-Prince
Haiti ist nicht tot:
Ich begegne nicht Leidenden, sondern Menschen, die leiden. Ich begegne nicht Armen, sondern Menschen, die arm sind. Menschen, die auch in der Katastrophe lächeln. Kinder, die auch auf den Plätzen und an den Straßenrändern spielen, wo sie jetzt wohnen. Menschen mit Bedürfnissen. Menschen mit Würde, mit Trauer, mit Gefühlen und Ehrgefühl. Sie versuchen, einen Alltag in dem Desaster zu leben.
Haiti ist kein Herd der Gewalt:
Es gibt Zwischenfälle, es gibt gravierende Zwischenfälle. Kriminelle, die - wie immer - Kapital schlagen aus dem Chaos. Männer, die es ausnutzen, dass die Frauen draußen übernachten und sie vergewaltigen. Es gibt aufgebrachte Hungrige, die sich um Nahrungsmittel prügeln, Diebe, die gelyncht werden. Aber all diese Grausamkeiten verüben nicht die Haitianer. Die Haitianer, die ich erlebe, stehen mit stoischer Disziplin Schlange vor Wassertankwagen, vor den wenigen offenen Geschäften, vor Tankstellen und vor der kanadischen Botschaft.
Haiti ist in der Tat kopflos:
Die Regierung ist machtlos. Sie hat Minister und viele Ministerien verloren, ein großer Teil ihrer Infrastruktur liegt in Schutt und Asche. Die Informationsministerin zieht sich nach einer Besprechung alleine unter einen Baum zurück - und beginnt zu weinen. "Wir müssen eine Zeit lang Protektorat werden", sagt der Chefredakteur des meinungsführenden Radio "Metropol" Richard Widmaier, "aus eigener Kraft schaffen wir das nicht".
Wer wirklich Haiti helfen will, der muss in der Tat mehr schicken als Wasser, Brot und Zelte. Wir müssen in die Zukunft denken. Das Herz des Landes, Port-au-Prince, schlägt nicht mehr. Ein Großteil der Stadt muss im wörtlichen und im übertragenen Sinne abgerissen und neu aufgebaut werden. Eine Herkulesaufgabe, die nur mit einer gemeinsamen Anstrengung bewältigt werden kann. Da stoßen mir Leitartikel übel auf, die darüber schwadronieren, ob nun die USA hier einmarschieren, ob die UN-Mission entmachtet wird oder ob die Brasilianer um ihre Führungsrolle in Lateinamerika kämpfen.
"Wer will denn überhaupt Haiti haben?", fragt mich eine Geschäftsfrau mit etwas Sarkasmus, aber durchaus treffend. Dieses überbevölkerte, ökologisch und wirtschaftlich schon vor dem Beben zerstörte Land, die schwärende Wunde Amerikas.
Vor dem letzten Dienstag hat man sich nur bei Katastrophen für diesen Teil der Insel Hispaniola interessiert und 80 Prozent der Bevölkerung im Dreck der Slums leben lassen. Warum sollte sich das nach diesem Naturdesaster ändern, wenn die zweifellos riesige Hilfsbereitschaft der Nothilfe-Zeit vorbei ist?
Wichtig sind jetzt Köpfe, die darüber hinausdenken. International, aber auch in Haiti selbst. Eine Beschränkung auf den Wiederaufbau würde bedeuten, das etwas geringere Elend der Vor-Beben-Zeit zurückzuholen. Haiti braucht einen Neuanfang, eine Stunde Null, einen Marshall-Plan. Denn der Staat Haiti ist vor einer Woche zwar eingestürzt, aber in den Trümmern leben zehn Millionen Menschen. Mit ihren Tränen, mit ihren Kindern, mit ihrem Alltag, mit ihren Hoffnungen.
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