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Interview Sihem Ben Sedrine
Unermüdlich für die Menschenrechte



Sihem Bensedrine: Foto: Reporter ohne Grenzen
Sihem Bensedrine
Sihem Bensedrine, Journalistin und unermüdliche Kämpferin für die Menschenrechte: Sie ist Gründungsmitglied und gegenwärtige Sprecherin des "Nationalen Rats für Freiheiten" in Tunesien, der von der Regierung nicht anerkannt wird, Generalsekretärin der "Beobachter zur Verteidigung der Pressefreiheit" und Chefredakteurin der in Tunesien verbotenen Online-Zeitung "Kalima". Ihre unbeugsame und mutige Haltung brachten ihr Überwachung, Verfolgung, tätliche Übergriffe und einen Gefängnisaufenthalt ein. Deshalb war sie bis zum Sommer 2003 für ein Jahr auf Einladung der "Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte" in Deutschland. Im Herbst desselben Jahres kam sie ein zweites Mal, um den erstmalig verliehenen Johann-PhilippPalm-Preis für Meinungs- und Pressefreiheit entgegenzunehmen.

Frau Bensedrine, Sie sind jetzt zum zweiten Mal in Deutschland. Was haben Ihnen die Aufenthalte hier gebracht?

Sihem Bensedrine: Als ich letztes Jahr die Einladung von der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte erhielt, wollte ich zuerst ablehnen. Ich spreche die Sprache nicht und hatte Angst, dass meine Abreise nach Deutschland einem Exil gleichen könnte, bei dem ich mich nicht wohl fühle. Aber mein Mann hat mich dazu ermutigt zu gehen. Er sagte, wir könnten jederzeit in unsere Heimat zurückkehren. Nach Jahren des täglichen Kampfes, in denen es weder Urlaub noch Wochenende noch einen freien Abend gab, müsse man auch einmal inne halten und sich erholen, um neue Kräfte zu sammeln. Und ich habe Deutschland als sehr freundliches Land erlebt; die Menschen waren warmherzig, und mein Aufenthalt war sehr wohltuend und bereichernd für mich.

Was erwartet Sie und Ihre Familie nach Ihrer Rückkehr nach Tunesien? Wird sich dieser Aufenthalt auch in irgendeiner Form auf Ihr zukünftiges Leben auswirken?

Bensedrine: Meine Familie leidet natürlich mit. Wir haben alle Formen der Repression erlitten, und das wirkt sich auf die gesamte Familie aus: Verlust der Einnahmequellen (ihr Ehemann hat inzwischen ebenfalls seine Arbeit verloren; Anm. d. Verf.), Entzug der Bewegungsfreiheit, den Kindern ist es verboten, Freunde zu treffen etc. Aber das, was ich und meine Familie erleiden, ist nichts im Vergleich zu dem, was der Normalbürger zu erleiden hat.

Wenn ich etwas brauche, protestiere ich, und es gibt immer internationale Protestaktionen, die mich schützen. Aber die unbekannten Bürger haben keinerlei Rechte. Das Gesetz ist reiner Zierrat, man macht, was man will. Das Leben kann komplett zerstört werden, man kann im Gefängnis landen, nur weil man sich gegen die Beleidigung durch einen Polizisten gewehrt hat. Und wenn man dann fragt: "Warum beleidigst du mich?", landet man im Gefängnis, wird gefoltert, verliert die Arbeit, die Familie wird fertig gemacht, und das alles wegen nichts!

Wenn meine Kollegen und ich dann bei der betroffenen Person um Informationen nachzusuchen, um das Geschehene zu veröffentlichen, dann heißt es: "Nein, nein, nein, bitte nicht, sprecht nicht darüber, wir haben Angst, dass wir dann unter noch brutaleren Repressionen zu leiden haben." Man zieht es vor, den Mund zu halten und hofft, dass es vorbei geht.

Zu meiner Rückkehr: Tunesien ist eine "Softdiktatur". D.h. sie werden mich nicht ins Gefängnis stecken, das kommt sie zu teuer. Sie werden mir das Leben schwer machen. Wenn ich irgendwo arbeiten will, werden sie anderen verbieten, mit mir zu arbeiten; jedes Mal, wenn ich Freunde zu mir nach Hause einlade, werden sie Polizisten vors Haus stellen. Sie können auch meinen Pass einziehen, aber das sind Kleinigkeiten, an die ich mich gewöhnt habe.

Hatten sie damals in Deutschland den Eindruck, die Menschen hier sind über das Tunesien jenseits von Palmen und Strand informiert?

Bensedrine: Leider nein. Wir alle wissen, dass die deutschen Touristen mit 1 Million Besucher in Tunesien an erster Stelle stehen. Die Tunesier kennen die Deutschen gut, aber die Deutschen kennen die Tunesier nicht. Es stimmt natürlich, dass nichts getan wird, um ihnen über die Realität in diesem großen Gefängnis die Augen zu öffnen. Ich sehe es auch als unsere Aufgabe an, Klarheit über die Wirklichkeit in diesem Lande zu schaffen, das sich den Touristen als heile Welt präsentiert.

Ist es für Sie, die Sie aus einem Land kommen, in dem es keine Meinungs- und Informationsfreiheit gibt, dann nicht frustrierend festzustellen, dass sich hier in Deutschland eigentlich jeder informieren könnte, diese Chance aber häufig gar nicht genutzt wird?

Bensedrine: Natürlich sind die Freiheit und die Rolle der Presse überall von zentraler Bedeutung. In Demokratien ist die Presse ein mächtiges Instrument zur Meinungsbildung. Seitens der Finanz- und Wirtschaftsgruppen gibt es die Tendenz, die Kontrolle über die Presse zu bekommen. Deshalb finden Fragen, die zwar von großem Interesse sind, die man aber lieber nicht aufklären möchte, keinen angemessenen Platz in den Medien.

In autoritären Ländern stehen die Medien sowieso unter Kontrolle und werden nur zu Propagandazwecken genutzt; damit werden sie ihrer ursprünglichen Funktion nicht gerecht. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Während meines langen Kampfes habe ich immer wieder festgestellt, dass, wie auch immer die uns auferlegten Beschränkungen sein mögen, man auch immer wieder Schlupflöcher finden kann. Und das ist etwas, was ich in Deutschland gefunden habe: mehrere Schlupflöcher. Deshalb will ich mich nicht beklagen, denn ich habe Hilfe und Solidarität unter deutschen Journalisten gefunden, die bei einflussreichen Medien beschäftigt sind. Sie haben es geschafft, in ihren Beiträgen auf unseren Kampf in Tunesien aufmerksam zu machen.

Welchen Stellenwert im Kampf um Meinungs- und Pressefreiheit hat Ihrer Meinung nach das Internet in Tunesien – trotz bestehender Zensur?

Bensedrine: Wissen Sie, ich bin für Gewaltfreiheit, ich glaube nicht, dass Krieg oder Gewalt Probleme lösen können. Meine einzige Waffe gegen die Diktatur ist die Bloßstellung der Diktatur. Wir tunesische Dissidenten versuchen, die Zwangsjacke zu zerreißen, in der die tunesischen Bürger gefangen sind. Unsere einzige Waffe besteht darin, die Verletzung der Menschenrechte, der politischen Rechte und persönlichen Freiheiten und des Gesetzes durch die Regierenden öffentlich bekannt zu machen.

Man muss wissen, dass es in Tunesien keine Versammlungsfreiheit, keine Pressefreiheit, keine einzige unabhängige Zeitung gibt, selbstverständlich auch kein freies Radio und Fernsehen. Die einzigen Lücken, die man finden kann, bietet das Internet. Nur dank des Internets und auch des Rückhalts von NGOs, die sich für Pressefreiheit und Menschenrechte einsetzen, wurde unsere Stimme auf internationaler Ebene gehört. Natürlich hat unsere Regierung nicht die Hände in den Schoß gelegt, nichts kann sie so irritieren wie etwas, das an ihrem guten Image kratzt. So haben sie die ATC, Agence Tunisienne de Communication Extérieure (Tunesische Agentur für die Kommunikation mit dem Ausland), gegründet. Das ist eine Propagandaagentur, die über ein enormes Budget im Ausland verfügt, um Journalisten zu kaufen, ausländische Journalisten und Entscheidungsträger nach Tunesien einzuladen und so zu versuchen, ihr Image aufzupolieren.

Im Land selbst haben sie natürlich mit Repression reagiert, alle Regimegegner werden verfolgt, es gibt Prozesse, Gefängnisstrafen, physische Agressionen durch die Polizisten, die uns permanent überwachen, Kündigungen etc.

Wie schätzen Sie unter diesen Umständen die Erfolgschancen ein, Ihre Internetzeitschrift Kalima weiterzuführen?

Bensedrine: Unsere Zeitschrift wird von einem Team in Tunesien produziert. Aber wir haben in Tunesien eine Informationspolizei, die beauftragt ist, den Zugang zu allen Internetseiten von Dissidenten zu sperren. Wir können also nicht die Neuausgabe unserer Zeitung von Tunesien aus in die Website einspeisen. In letzter Zeit habe ich, sobald der neue Inhalt fertig war, das Land verlassen und die Texte gut versteckt auf einer CD-Rom mitgenommen, um sie dann von Deutschland aus auf unsere Website zu stellen. Wenn ich wieder zurück bin, werden wir erneut vor diesem Problem stehen und müssen dann andere Wege finden. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass man selbst in den aussichtslosesten Situationen immer auch eine Lösung findet.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, durch den tunesisch-europäischen Kooperationsvertrag Druck auf die tunesische Regierung auszuüben?

Bensedrine: Abgesehen von den Auswirkungen auf die europäischen Medien gab es eine Stellungnahme vom Europäischen Parlament. In den Jahren 2000 und 2001 wurden drei Resolutionen verabschiedet, die die Verletzungen der Menschenrechte durch das tunesische Regime verurteilten. Dasselbe gab es seitens der Vereinten Nationen durch drei Sonderberichterstatter: den für Folter, den für die Meinungsfreiheit und den für die Unabhängigkeit der Justiz. In ihren Berichten haben sie die tunesische Regierung für die von ihr begangenen Verletzungen verurteilt. Leider sind all diese Stimmen nach dem 11. September 2001 verstummt.

Während also damals der Druck auf die tunesische Regierung Früchte zu tragen begann, sind heute alle Vereinigungen, zu denen wir gehören, verboten. Seit diesem Datum fühlt sich die tunesische Regierung, die gleichzeitig der UNO, dem Europäischen Parlament und den Amerikanern versprochen hatte, die Dinge zum Guten zu ändern, sämtlichen Verpflichtungen entbunden und frei, ihre Unterdrückung fortzusetzen. Es gab keinerlei Veränderungen, weil jetzt weder Europa noch Amerika noch die Vereinten Nationen, überhaupt niemand mehr von den Verletzungen der Freiheit in Tunesien spricht. Stattdessen spricht man vom Antiterrorkampf, und die Regierung Ben Ali präsentiert sich als dessen Vorkämpfer.

Gibt es eine verbindliche Grundlage, auf deren Basis die EU von Tunesien die Einhaltung der Menschenrechte fordern könnte?

Bensedrine: Tunesien hat mit Europa ein Assoziationsabkommen geschlossen. Dieses sieht in Artikel 2 vor, dass Europa und Tunesien zwingend Demokratie und Menschenrechte respektieren müssen. Zahlreiche Berichte von tunesischen und internationalen NGOs erreichen regelmäßig die europäische Kommission, wir schicken Berichte über Verletzungen des Abkommens an den Europarat. Europa hält sich nicht an Artikel 2 des Abkommens von Barcelona, denn sonst würde es Rechenschaft über diese Verletzungen verlangen.

Am 30. September 2002 fand ein tunesisch-europäisches Treffen zu diesem Assoziationsabkommen statt, um eine Bilanz der Partnerschaft zu ziehen. Wir haben eine Delegation zum Europaparlament geschickt, um dort vor dem Treffen die Situation darzulegen, so dass man wenigstens im Rahmen dieses Treffens Protest einlegt. Am 30. September haben sie sich getroffen und ein Communiqué verabschiedet. Ich kann es Ihnen zeigen: Alles sei in Ordnung, keinerlei Vorwürfe an die tunesische Regierung!

Noch eine abschließende Frage: Die Iranerin Shirin Ebadi hat den Friedensnobelpreis bekommen. Inwieweit glauben Sie, dass solche Auszeichnungen Signalwirkung haben können, gerade auch für Frauen in islamischen Ländern, die ja in vielen Ländern an vorderster Front für die Einhaltung der Menschenrechte kämpfen?

Bensedrine: Dieser Nobelpreis für Shirin Ebadi war ein sehr starkes Signal für alle Frauen islamischen Glaubens, die für die Menschenrechte kämpfen. Um klar zu machen, dass diese Werte universelle Werte sind und keine Werte des Westens, die von dort in den Orient kommen. Für uns ist es deshalb ein sehr wichtiges Signal, das helfen wird bei einer Aussöhnung von Süd und Nord, islamischer Welt und jüdisch-christlicher Welt, ein Instrument des solidarischen Kampfes.

Interview: Silvia Kuske

© Qantara.de 2003


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