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Zimmer, Kuchl, Kabinett

Wohnen in Wien -einst und heute
Von Ingeborg Waldinger

Ein Haus im Querschnitt: Das Erdgeschoss trägt Grau, denn hier fristet der Tandler "Schlucker" samt Großfamilie sein Dasein. Der erste Stock aber erstrahlt im Reichtum des Spekulanten "von Goldfuchs". Unten die darbende Zunft, oben das prassende Kapital. Durch eine wundersame Fügung kehren sich die Verhältnisse um, und die Parteien wechseln die Stockwerke. Johann Nestroys 1835 uraufgeführte Posse "Zu ebener Erde und erster Stock oder Die Launen des Glücks" zeigt an den vertikalen Wohnverhältnissen eines Hauses die soziale Teilung der Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts. Schon in Adolf Bäuerles Posse "Die Bürger von Wien" (1813) prallen Kleinbürger und Spekulant aufeinander.

Die Lokalposse hat ihre beste Zeit zwischen dem Wiener Kongress und der Gründerzeit. Sie thematisiert die Befremdung und Verunsicherung der kleinbürgerlichen Mittelschicht angesichts sozialer Umwälzungen, die die Kapitalisierung und Industrialisierung mit sich bringen. Handwerker, Kaufleute und Dienstleister sind Gegenstand der Stücke und Publikum in einem. Sie suchen Zuflucht in einem Theater, dessen Komik vom Druck der Umwälzungen befreit.

Nestroy musste die soziale Zweiteilung seines Hauses in "ebene Erd und ersten Stock" nicht erst erfinden. Wie die Raumforscherin Elisabeth Lichtenberger ausführt, zählt diese Art vertikaler Differenzierung von Gesellschaft und Nutzung zu den ererbten Grundstrukturen des europäischen Städtewesens. ("Die Stadt. Von der Polis zur Metropolis", 2002). Die vertikale Trennung von Wohn- und Arbeitsbereich beginnt mit dem mittelalterlichen Gewerbebürgerhaus. Werkstätten und Läden lagen im Erdgeschoss, gewohnt wurde im ersten Stock.

Das Handwerkerhaus prägte den Stadtkern, das Ackerbürgerhaus die Vorstadt. Letzteres verfügte über eine Einfahrt von der Straße in den Hof. Ab dem 18. Jahrhundert verlor die agrarische Nutzung an Bedeutung, die Seitenflügel wurden für Gewerbezwecke adaptiert. Im Vordertrakt der nunmehrigen "Manufakturhäuser" befand sich die Wohnung des Manufakturisten, seine Gehilfen waren in Kammern neben den Werkstätten untergebracht. Wo kein Gewerbebetrieb Einzug hielt, wurden die Seitentrakte in Kleinwohnungen für ärmere Bevölkerungsschichten umgewandelt.

Der Adel urbanisiert sich ab der Renaissance; das Barock kann als Blütezeit feudaler Stadtarchitektur gelten. Ab der Frühindustrialisierung dienen die Adelspalais mit ihren prunkvollen Fassaden, Repräsentationsräumen und Zimmerfluchten als Vorlage für das großbürgerliche Stadthaus. Das Patrizierhaus der Gründerzeit entfaltet besonderen Pomp.

Stadt-Klassiker Mietshaus

In Frankreich und Österreich nimmt unterdessen ein Stadt-Klassiker Konturen an, dessen bescheidener Vorläufer seit Beginn der Neuzeit bekannt ist: das Mietshaus. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts legen betuchte Vertreter des Handels, Gewerbes und Bankenwesens ihr Kapital - sicher und rentabel - in Stein an. Mit der Industrialisierung setzt ein starker Zuzug in die Städte ein. Scharen von Billigarbeitskräften aus den Kronländern der Donaumonarchie drängen nach Wien. Der Wohnraum wird knapp, Arbeits- und Wohnstätte werden getrennt. Neben den bürgerlichen Mietshäusern entstehen zahlreiche Arbeitermietshäuser. Ihre bourgeoisen Fassaden führen in die Irre, dahinter verbergen sich kleine Wohnungen ohne Standard (Bassenawohnungen); hohe Mieten führen zu Überbelag. In Ottakring entstehen 1898, anlässlich des 50-jährigen Regierungsjubiläums von Kaiser Franz Joseph, 28 Häuser mit besser ausgestatteten Volkswohnungen. Doch im damals bevölkerungsreichsten Bezirk Wiens gab es auch Barackenelend, etwa im so genannten "Negerdörfl". 1910 erreichte Wien mit 2,031.000 Einwohnern seinen Bevölkerungshöchststand.

Concierge als soziale Instanz

Die Bodenpreise explodieren. Die Mietshäuser der Gründerzeit wachsen immer höher in den Himmel. Erst sind es vier, dann fünf Geschosse. Lifte gibt es ab den 1880er Jahren. Noch immer gilt die Etagenhierarchie: Im Erdgeschoss befinden sich Geschäfte, teils mit angeschlossener Kleinwohnung, und vor allem das "Ministerium des Inneren . . ., die allgemeine Auskunftskanzlei [des] Major domus" (Sylvester Wagner). Damit tauchen wir in das Milieu der Conciergen ein, jener sozialen Instanz, welche nicht nur in Wien zu literarischem Ruhm gelangte. Ein Zug ins Bacchantische wurde ihnen nachgesagt, vor allem aber ein entfesselter Spionagetrieb. Josef Weinheber widmete der Hausbesorgerin ein Gedicht: "Wenn sie beginnt das Stiegenhaus zu meistern, / hat sie bereits ihr Viertel Rum im Leibe./ Der Schrecken geht einher vor

diesem Weibe, / der wüste Spuk von sieben Geistern."

Heimito von Doderer hob in seinem Aufsatz "Die enteren Gründ'" die olfaktorische Komponente der Branche hervor, den "foetor conciergicus". Dieser erkläre sich wesentlich aus der unbeschreibbaren Hausmeisterküche und gehöre zu den Grundtönen der Aura eines Wiener Vorstadthauses: "Der Hausmeistergeruch begleitet . . . dich auf die Straße, er begrüßt dich, wenn du wiederkehrst. Tief dringt die Verhausmeisterung (conciergificatio) in dein Leben, tiefer, als du es wahrhaben möchtest." In zwei Städten, so Doderer, habe diese "Tyrannis. . ., die Schrecklichkeit dieser Menschenrasse" ihre höchste Entfaltung erreicht: in Wien und in Paris: ". . . es sind conciergificierte Städte."

Doch Doderer ist mit den Hausmeistern noch nicht fertig. Die Erzählung "Untergang einer Hausmeisterfamilie zu Wien im Jahre 1857" endet in einem wahren Fanal. Die Hybris (und der foetor) des Hausbesorgers Wallautschek erreichen ein solches Ausmaß, dass die Wohnungstüren dem Druck des Ingrimms der dahinter sitzenden Hausparteien nicht mehr standhalten. Die Türen "bauchen" sich nach außen, immer stärker, bis sie splittern. Hierauf ergießt sich ein Strom von Mietern die Treppen hinab und setzt zum Sturm auf die Hausmeisterwohnung an: ". . . die Wallautscheks mussten aus dem Hause . . . (So etwas war damals noch möglich.)" Was Doderer hier andeutet, hat eine juristische Grundlage: das Hausbesorgergesetz aus dem Jahre 1922. Wiens Hausbesorger hatten eine mächtige Standesvertretung; ein Hausbesorger-Dienstverhältnis war so gut wie unkündbar. Seit 2002 ist das Hausbesorgergesetz Geschichte. Der Concierge stirbt aus, Hausbetreuung heißt heute Facility-Management. Reinigungsfirmen übernehmen das Stiegenputzen.

Noch lange vor dem Hausbesorger absentiert sich der Hauseigentümer aus dem Mietshaus. Seine im ersten Stock, der Beletage, gelegene Großwohnung wird zur begehrten Büroadresse, besonders wenn das Mietshaus in einer Hauptgeschäftsstraße liegt. Auch die Wohnungen im zweiten Stock sind als Geschäftsflächen attraktiv. In den höheren Stockwerken mehrt sich die Anzahl der Wohnungen, hingegen verkleinert sich deren Fläche. "Die Wohnung besteht aus Zimmer, Küche, Kabinett im vierten Stock eines Hauses der Josefstädter Straße dicht am Gürtel. Das Ehepaar Fiala schläft im Kabinett, Klara, Frau Fialas Schwester, hat einen Strohsack in der Küche . . ., und Franzl darf sich im Zimmer auf dem Wachstuchsofa betten." So wohnt Franz Werfels Magazinaufseher, ehe ihn "Der Tod des Kleinbürgers" ereilt.

Der Hauseigentümer der Gründerzeit ist vielleicht an die Peripherie gezogen, in eines der neuen Villenviertel. Viele Künstler und Schauspieler haben dort ihr Domizil. Auch die Schriftsteller siedeln sich - und ihre literarischen Protagonisten - gerne im Cottage an.

Im Jahre 1917 beginnen die Renditen aus privatem Hausbesitz rapide zu sinken. Die Einführung des Mieterschutzes setzt der Willkür vieler Hausbesitzer bei der Zinsgestaltung - und auch bei Kündigungen - ein Ende. So bekommt die Redensart "'s san scho' Hausherrn g'sturbn" eine ganz spezielle Bedeutung.

Kommunaler Wohnbau

Erst nach dem Ersten Weltkrieg verbessert sich mit den "kommunalen Wohnhöfen des Munizipal-Sozialismus" (Lichtenberger) die Wohnsituation der ärmeren Bevölkerung merkbar. Der kapitalistische Wohnungsmarkt ist zusammengebrochen, die öffentliche Hand errichtet Großwohnanlagen mit Klein- und Mittelwohnungen guten Standards und beispielhaften Wohlfahrtseinrichtungen. Der Zweite Weltkrieg zerstört viel Wohnsubstanz; jüdische Mitbürger gehen bereits 1939 ihres Mietrechts verlustig. Wenige von ihnen können ihre Wohnungen behalten, müssen dafür andere jüdische Familien bei sich aufnehmen, ehe sie allesamt ins Gas geschickt wurden.

Die Mittel für den Wiederaufbau sind knapp, für Ästhetik gibt es keinen Spielraum. Viele Gründerzeithäuser verlieren ihr Gesicht.

Ab den 1960er und 1970er Jahren entstehen am Stadtrand neue

kommunale Großblocksiedlungen. Heute ist die Stadt Wien Eigentümerin von 220.000 Wohnungen und damit einer der größten

Hauseigentümer der Welt. Im privaten Wohnungssektor haben teils anonyme Gesellschaften die Nachfolge des Hausherrn angetreten. Knapp die Hälfte der Wiener Wohnungen stammt noch aus der Zeit vor 1918, Revitalisierung tut Not.

Der Wiener Weg der "sanften

Stadtentwicklung" versucht eine

Balance zwischen Stadterneuerung und Stadterweiterung. Durch den Verzicht auf großangelegte "Flächensanierungen" konnte die Bildung von Sozialgettos weitgehend vermieden werden. Einen maßgeblichen Beitrag zur "geordneten Stadtentwicklung" leistet seit 1984 der Wiener Boden- und Bereitstellungsfonds. Er fördert die Sanierung des Altbestandes und wirkt preisdämpfend bei der Grundstücksbeschaffung für geförderte Neubauten.

Und die Etagenhierarchie? Das Erdgeschoss meidet heute , wer kann. Zuwanderer können meistens nicht. Der erste Stock hat wegen des Verkehrslärms und der Abgase stark an Attraktivität eingebüßt. Die kapitalkräftigen Schichten bevorzugen heute die obersten Geschosse und die Dachböden. Die neue Beletage liegt im letzten Stock.

Freitag, 03. Oktober 2003

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