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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Anatomie einer Katastrophe

Hätte die Ausbreitung von BSE verhindert werden können?
Von Peter Markl

Jedes Mal das selbe Spiel. Wenn sich das Jahr dem Ende zuneigt, beginnt man in den Wissenschaftsredaktionen darüber nachzudenken, unter welchen Stichworten es einmal in den Annalen der Wissenschaft angeführt werden wird. Letztes Jahr war diesem Spiel viel von seinem Reiz genommen: Es ist nur zu klar, dass 2000 einmal das Jahr der Entschlüsselung der Genome sein wird.

Was jetzt ansteht, ist die Ermittlung der Rolle der einzelnen Gene: die Identifizierung der Proteine, deren Bauanleitung in den Genen festgelegt ist, und die Bestimmung ihrer Funktion. Es werden daher in zunehmendem Ausmaß Proteine sein, die ins Rampenlicht kommen. Dass es dabei nicht allein um biologische Grundlagenforschung, sondern auch um Probleme von großer Tragweite geht, macht in diesen Tagen ein Protein klar, das auch in Österreich wieder in den Schlagzeilen auftaucht: das Prionen-Protein, von dem man heute annimmt, dass es bei der Entstehung von Rinderwahnsinn (BSE) eine entscheidende Rolle spielt.

"Wurst Case Analysis"

In den letzten Monaten hat man auch in Deutschland die ersten erkrankten Rinder aufgespürt und niemand wäre überrascht, wenn sich durch die nun auch in Österreich wie in den übrigen EU-Ländern durchgeführten Routine-Tests von Schlachtvieh trotz aller Vorsichtsmaßnahmen herausstellen sollte, dass auch Österreich keine Insel der Seligen ist.

Es war schon lange klar, dass die Krankheit von England, wo sie entstand, auf den Kontinent übergegriffen hatte; in Deutschland, wo die Neigung, ohne zu viel eigene Erfahrung andere zu belehren, nicht minder ausgeprägt ist als in Österreich, hatte man sich davor sicher gewähnt: Jetzt ist das vorbei und es ist Zeit für eine "Wurst Case Analysis", wie das englische Wissenschaftsmagazin "New Scientist" etwas hämisch anmerkte.

Man kann dabei von den englischen Erfahrungen lernen. Sie liegen seit einigen Monaten in einem ganz hervorragenden Bericht vor, der auch via Internet leicht zugänglich ist. Der Bericht von Lord Phillips, June Bridgeman und Malcolm Ferguson-Smith, ausgearbeitet mit einem Kostenaufwand von 27 Millionen Pfund, erschien am 26. Oktober 2000 (mit einer Verspätung von einem Jahr) und behandelt den Zeitraum bis zum 20. März 1996, als es klar war, dass BSE auf Menschen übertragen worden war und die vorher ergriffenen Maßnahmen, die Seuche in den Griff zu bekommen, zwar das Tempo der Ausbreitung der Krankheit verlangsamt hatten, aber auf Grund von Mängeln in der Implementierung ganz ungenügend waren.

Damals waren bereits 160.000 infizierte und 30.000 infektionsverdächtige Rinder geschlachtet worden. Das Versagen bei der Implementierung machte dann noch drastischere Maßnahmen unumgänglich: bis Ende 1999 wurden weitere 3 Millionen Rinder geschlachtet.

Der Phillips-Bericht umfasst in seiner gedruckten Form 5.112 Seiten in 16 Bänden, die insgesamt an die 25 kg wiegen. Trotz dieser furchterregenden Zahlen ist der Report ein Modell an Klarheit, frei von Jargon, mit großem Aufwand allgemein zugänglich gemacht, ein umfassendes Glossar aller der unumgänglichen Fachvokabeln und eine Auflistung der Lektionen aus der BSE-Story eingeschlossen. Wie konnte es dazu kommen? In Österreich herrscht vielfach noch die Meinung, dass es ein unverzeihlicher Umgang der englischen Behörden mit einer absehbaren Katastrophe war, welche die Epidemie auslöste. Der Bericht zeigt jedoch, dass die Katastrophe bereits unvermeidlich geworden war, als man auf die beginnende Epidemie aufmerksam werden konnte. Dazu haben vor allem zwei Faktoren beigetragen: Das Risiko für Menschen wurde lange Zeit unterschätzt, weil man mit Scrapie eine sehr ähnliche Erkrankung von Schafen kannte, die nicht auf Menschen übertragbar ist, so dass die englischen Schafzüchter seit mindestens 250 Jahren damit leben.

Selbst als man BSE bereits als eine der Scrapie-Erkrankung nur verwandte, anscheinend aber durch eine unvorhersehbare Mutation in vielleicht nur einer einzigen Kuh neu entstandenen Krankheit, erkannt hatte, konnte man sich noch damit beruhigen, dass auch sie für Menschen anscheinend ungefährlich war, denn es gab selbst 10 Jahre später noch keinen Beleg dafür, dass sie auf Menschen übertragbar war.

Heute weiß man, dass BSE eine Inkubationszeit von im Durchschnitt 5 Jahren hat, dass nicht jedes infizierte Rind auch daran erkranken muss, so dass es häufig zuerst nur eine einzige Kuh innerhalb einer Herde ist, bei der die Symptome auftreten - Symptome, die überdies anfangs den Symptomen einer Reihe von anderen Rindererkrankungen so ähnlich sind, dass man sie leicht damit verwechseln konnte. Heute weiß man auch, dass es vor dem Auftreten der Symptome damals nicht möglich war, die infizierten Tiere zu identifizieren, und dass die Krankheit im Gegensatz zu Scrapie auf Menschen übertragbar ist, wo sie allerdings eine viel längere Inkubationszeit hat als in Rindern.

Das alles hatte zur Folge, dass nach dem Auftreten der ersten Fälle der neuen Krankheit mehr als 10 Jahre vergangen sein können, bevor man auf die Krankheit aufmerksam wurde. Es war schließlich nicht wahrscheinlich, dass ein Rinderzüchter es auf sich nahm, eine einzige auf rätselhafte Art erkrankte Kuh nach ihrem Tod eingehend untersuchen zu lassen. Solche Untersuchungen wurden erst angestellt, als durch puren Zufall auf einer Farm mehrere Tiere gleichzeitig die irritierenden Symptome zeigten.

Man hat daher abgeschätzt, dass zu dem Zeitpunkt, als man erkannte, dass BSE eine neue Erkrankung ist, wahrscheinlich bereits an die 50.000 Rinder und einige der menschlichen Opfer infiziert worden waren.

Epidemiologischer Gau

Zu einer verheerenden Epidemie konnte sich BSE allerdings nur auswachsen, weil man auch die Rückstände der unerkannt bereits infizierten Tiere zu Tiermehl verarbeitete und wieder an Rinder verfütterte. Im Phillips-Bericht heißt es dazu: "Viele vertreten die Ansicht, dass es nicht überraschend gewesen sein kann, dass eine so unnatürliche Praxis wie das Verfüttern des Proteins eines Wiederkäuers an einen Wiederkäuer zu einer Seuche wie BSE führen würde und diese Reaktion wäre auch beweiskräftiger gewesen, wenn die ersten Fälle von BSE bald nach der Einführung dieser Fütterungstechnik aufgetreten wären. In England und vielen anderen Ländern hat man jedoch Tiermehl bereits seit 1926 verfüttert."

Vom Standpunkt der Naturwissenschaften aus hatte das Argument überdies keine Stütze: auch eine Kuh, die Milch trinkt, nimmt das Protein eines Wiederkäuers zu sich. Man hat auch früh erkannt, dass es bei der Produktion von Tiermehl darauf ankommt, die konventionellen Pathogene zu inaktivieren und es gab keinen Hinweis auf irgendein anderes Risiko.

Man hat natürlich vermutet, dass manche Tiermehlhersteller die so lang bewährten Auflagen lax gehandhabt hätten, aber aus heutiger Sicht ist klar, dass weder geänderte Produktionsmethoden noch verschärfte gesetzliche Auflagen den Lauf der Dinge wesentlich beeinflusst hätten. Die ersten Rinder waren wahrscheinlich bereits in den 70er Jahren infiziert worden. Im September 1985 wurde dann der erste Fall von den Pathologen des tierärzlichen Zentrallaboratoriums untersucht, aber aus auch heute noch nachvollziehbaren Gründen nicht als eine bei Rindern erstmals auftretende übertragbare, spongiforme Encephalopathie erkannt.

Das geschah erst Ende 1986, nach der Untersuchung zweier weiterer Fälle. Dann aber fällte man die verhängnisvolle Entscheidung, die Neuentdeckung nicht weiter bekannt zu machen, so dass es bis Ende 1987 dauerte, bis die Epidemiologen des Labors in ausgezeichneten epidemiologischen Untersuchungen lobenswert schnell die Quelle der Infektionen in dem verfütterten Tiermehl lokalisiert hatten.

Als man dann das weitere Vorgehen plante, ging man von einer Reihe damals durchaus vernünftiger Annahmen aus, die sich später alle als falsch erwiesen: Man nahm an, dass die beobachteten Fälle der ersten Generation infizierter Tiere entstammten, so dass die Epidemie erst am Anfang sein konnte und daher noch relativ leicht in den Griff zu bekommen wäre, und man blieb bei der damals nie direkt geprüften Vermutung, dass es sich eigentlich um Scrapie-Infektionen handelte, die durch Scrapie-Erreger verursacht worden waren, die auf Grund von Änderungen in den Methoden zur Produktion von Tiermehl der Vernichtung entgangen waren. Und vielleicht am verhängnisvollsten: Mit Scrapie hatte man nachweislich schon mehr als 200 Jahre gelebt, so dass es sehr unwahrscheinlich schien, dass Menschen plötzlich durch die gleichen Erreger einem nennenswerten Risiko ausgesetzt sein würden. Man war sich des potentiellen Risikos für Menschen zwar bewusst, schätzte es aber als sehr gering ein.

Über die Folgezeit heißt es im Bericht: "Das Verbot des Verfütterns von Tiermehl reduzierte die Geschwindigkeit des Auftretens neuer Infektionen über Nacht um 80 Prozent und rief einen Trend ins Leben, der letztlich zur Ausrottung der Krankheit geführt hätte." Die getroffenen Maßnahmen sind allerdings so lückenhaft und schlampig ausgeführt worden, dass man später konstatieren musste, dass bei nicht weniger als 41.000 Rindern die Symptome erneut auftraten, wodurch der Schluss unvermeidlich wurde, dass noch sehr viel mehr bereits infizierte, aber noch symptomfreie Rinder den Weg auf den Markt gefunden hatten.

Als dann am 20. März 1996 über jeden vernünftigen Zweifel hinaus demonstriert worden war, dass die neue Form der Creutzfeld-Jakob-Erkrankung mit BSE zusammenhing, konnte die Regierung nicht belegen, dass ihre alten Maßnahmen auch wirklich lückenlos implementiert worden wären. Im Bericht heißt es dazu: "Die Strenge, mit der man die Maßnahmen vor 1996 befolgte, war davon beeinflusst, dass viele glaubten, dass menschliches Leben nicht in Gefahr sei."

Die Regierung aber hatte ihre Maßnahmen auf Grund der Annahme getroffen, dass BSE nicht nur für Rinder, sondern auch für Menschen eine tödliche Gefahr bilden könnte, aber sie hat aus Angst vor Horrorberichten die Möglichkeit eines Risikos auch für Menschen nicht in der Öffentlichkeit bekannt gemacht und auch diejenigen nicht davon informiert, deren Aufgabe es war, die Maßnahmen zu implementieren. Als die Regierung dann im März 1996 bekannt gab, dass BSE wahrscheinlich auf Menschen übertragen worden wäre, verlor sie alle Glaubwürdigkeit. In dem Bericht wird Wert auf die Feststellung gelegt, dass die Regierung nie gelogen hätte: Fast bis zum März 1996 glaubte sie, dass das Risiko für Menschen sehr klein sei, so dass es gerechtfertigt sei, durch beruhigende Erklärungen einer alarmistischen Reaktion vorzubeugen.

Verharmlosung

Brian Dickinson, eines der Mitglieder der Gruppe, die das Ministerium in Sachen Nahrungsmittelsicherheit beriet, gab später zu Protokoll: "Angesichts der harten Diskussionen, die über dieses Thema damals geführt wurden, war man sich bewusst, dass man sich etwas gegen den Wind lehnte. Man konnte nicht einfach aufstehen und eine vollkommen neutrale, objektive Einschätzung der Situation geben. Die Gefahr, in eine bestimmte Richtung missverstanden zu werden, war größer als die Gefahr einer falschen Interpretation in der anderen Richtung, und wir neigten dazu, unsere Statements beruhigender klingen zu lassen, als es ideal gewesen wäre".

Sir Robert May, Hauptberater der Regierung in wissenschaftlichen Fragen, hält das ganz entschieden für falsch: "Man versteht schon die gelegentliche Versuchung, die Fakten nur in engem Rahmen bekannt zu machen, so dass man in einer internen Diskussion in kleinem Kreis zu einem Konsens kommen kann, der es möglich macht, mit einer einfachen Botschaft auf den Markt zu gehen. Ich bin aber mit großem Nachdruck der Ansicht, dass man dieser Versuchung widerstehen muss und dass man den ganzen ungeordneten Prozess, in dem man ein wissenschaftliches Verstehen mit allen seinen Problemen erreicht, offen klarlegen muß."

Lord Phillips of Worth Matravers und seine Mitautoren ziehen daraus in ihrem bewundernswerten Bericht jedenfalls den optimistischen Schluss: "Um Glaubwürdigkeit zu erringen, muss man Vertrauen erzeugen. Vertrauen kann nur aus der Offenheit entstehen."

Literatur:

Lord Phillips, June Bridgeman and Malcolm Ferguson-Smith: The BSE Inquiry. Vols. I XVI. Stationary Office. (http://www.bseinquiry.gov.uk)

Freitag, 12. Jänner 2001

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