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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Vor 100 Jahren starb Henrik Ibsen, einer der grundlegenden Erneuerer des Theaters

Wegweiser in die Moderne

Von Andreas P. Pittler

So konträre Dichterfürsten wie George Bernard Shaw und Rainer Maria Rilke priesen ihn. Hugo von Hofmannsthal und Bert Brecht waren weit weniger von ihm begeistert. Selbst die politische Linke wurde sich über ihn nicht einig: während Friedrich Engels ihn für einen wahren Neuerer der Literatur hielt, bekam Ibsen von Theodor W. Adorno alles andere als gute Zensuren. Und selbst heute, 100 Jahre nach seinem Tod, erhitzt Ibsen immer noch die Gemüter. Grund genug für eine Rückschau.

Am 20. März 1828 wurde Henrik Ibsen als Sohn eines Kaufmanns in dem kleinen norwegischen Provinzstädtchen Skien geboren. Sein Vater war als Großhändler Teil der örtlichen Bourgeoisie und das, was man gemeinhin einen angesehenen Bürger nennt. Die Ibsens bewohnten ein geräumiges, helles Haus in bester Lage, und es schien, als könnte nichts das Glück der Familie trüben. Bis sich der Vater 1835 in seinen Geschäften übernahm und Bankrott machte. Das Haus wurde versteigert, die Ibsens kamen bei einem Bauern in der näheren Umgebung unter, wodurch sie vor dem Armenhaus gerettet wurden.

Frühe Leiden

Dennoch bedeutete diese Deklassierung einen tiefen Einschnitt in die Lebenswelt des jungen Ibsen, dessen Zukunft sich – ganz ähnlich wie bei Charles Dickens ein Jahrzehnt zuvor – plötzlich und unerwartet in Nichts aufgelöst hatte. Vorbei der Traum von einer fundierten Ausbildung. Ibsen konnte gerade die Grundschule absolvieren und musste danach die Familie verlassen, um als Apothekerlehrling eine Stelle in dem 800-Seelen-Dorf Grimstad anzutreten. Die Armut nagte bitter an dem Jüngling, der nicht einmal genug Geld besaß, um sich anständig kleiden zu können. Er war gezwungen, mit den Söhnen seines Lehrherrn in einer kleinen Kammer zu schlafen und Tag und Nacht zur Verfügung zu stehen. Dennoch fand Ibsen selbst in dieser dunklen Zeit einen kleinen Hoffnungsanker, denn er knüpfte zarte Bande zu einem um 10 Jahre älteren Stubenmädchen. Was freilich der noch Minderjährige nicht für möglich gehalten hätte, geschah: Das Mädchen wurde von ihm schwanger, wodurch buchstäblich Ibsens letztes Geld für Unterhaltszahlungen aufgewendet werden musste.

Mangels realer Fluchtmöglichkeiten enteilte der junge Ibsen seiner Not auf seine Weise: er zog sich in die Welt der Literatur zurück. Hatte er schon frühzeitig jedes Buch verschlungen, das er in die Finger bekam, beschloss er als Zwanzigjähriger, selbst zur Feder zu greifen.

Seiner Lage entsprechend wählte er für sein erstes literarisches Werk einen römischen Rebellen als Titelhelden. "Catilina" hieß das Stück, das er 1848/49 niederschrieb, während sich ringsum die Welt in revolutionärer Gärung befand. Schon damals freilich zeigte sich, dass Ibsen kein Mann der simplen Erklärung und platten Vereinfachung war. Sein Catilina ist weder der düstere Verschwörer, zu dem ihn einst Cicero gemacht, noch der soziale Befreier, als den ihn die Linke sah. Ibsens Catilina ist ein Getriebener seiner inneren Widersprüche, der an dem schieren Auseinanderklaffen zwischen Wollen und Möglichem zerbricht. Fast schon im Sinne der Psychoanalyse Jacques Lacans verläuft Catilinas Tun zwischen den Mauern des Unmöglichen, sein Scheitern ist vor diesem Hintergrund ebenso vorgezeichnet wie logisch.

Mit "Catilina" wäre fast auch Ibsen gescheitert. Als das Werk nach zahllosen fruchtlosen Versuchen, es auf die Bühne zu bringen, endlich 1850 als Privatdruck erscheint, findet es praktisch keine Käufer. Doch wird Ibsen immerhin ermutigt, dem eingeschlagenen Pfad zu folgen, und so verfasst er wenig später einen Einakter namens "Das Hünengrab", gänzlich nationalistischen Romantizismen verpflichtet, der auch gleich in Oslo angenommen und aufgeführt wird. Für Ibsen hat dieser erste Etappensieg ungeahnte Folgen. In Bergen sucht man im November 1851 für das neue Theater einen Dramaturgen und findet ihn im jungen Ibsen, der nun erstmals ein akzeptables Auskommen hat und dies noch dazu in dem von ihm angestrebten beruflichen Umfeld.

Die folgenden Jahre erweisen sich aber dennoch als Enttäuschung. Wiewohl Ibsen bis 1857 jedes Jahr auch ein eigenes Stück auf den Spielplan stellen kann, bleiben Würdigung und Resonanz aus. Nur zu gerne nimmt er daher das Angebot an, die künstlerische Direktion des Osloer "Norwegischen Theaters" zu übernehmen. Dies umso mehr, als Ibsen mittlerweile geheiratet hatte und daher ein größeres Gehalt als bisher benötigte. 1859 wurde zudem Sohn Sigurd geboren, sodass Ibsen finanzielle Sicherheit über alles ging.

Abermals freilich erweist sich das Schicksal als launisch. 1863 gerät das Theater in finanzielle Schwierigkeiten und muss Ibsen den Stuhl vor die Tür stellen. Seine Hilferufe – selbst an das norwegische Parlament wendet er sich – verhallen ungehört.

Der Durchbruch

Schließlich ist es sein literarischer Rivale Björnstjerne Björnson, der ihm 1864 zu einem Reisestipendium verhilft, mit dem er erstmals als unabhängiger und freier Schriftsteller leben kann. Ibsen begibt sich nach Rom, wo er binnen weniger Wochen "Brand" schreibt, mit dem sein Aufstieg zum Weltruhm beginnt. Mit diesem Zeitpunkt beginnt Ibsens schöpferischste Periode. "Peer Gynt" (1867) wird zu einem stürmischen Erfolg, an dem auf ihre Weise auch zwei andere norwegische Genies beteiligt sind: Edvard Munch entwirft das Plakat zur Uraufführung, Edvard Grieg komponiert nur wenig später seine berühmte Bühnenmusik zu "Peer Gynt".

In den folgenden Jahren setzt sich Ibsen im Ausland, vor allem in Deutschland und England, mehr und mehr durch, und Norwegen erkennt in Ibsen nunmehr einen "großen Sohn", auch wenn dieser weit lieber in Tirol oder am Bodensee lebt als an den heimatlichen Fjorden.

"Nora", das Skandalstück

1879 schockiert Ibsen sein Publikum mit einem völlig neuen Stück: "Nora - Ein Puppenheim" thematisiert die Rolle der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft. Nora, die Gattin eines zu Ansehen und Wohlstand gekommenen Bankiers, muss erkennen, dass ihr Handlungsspielraum auch nach der Zeit des entbehrungsreichen Aufstiegs eingeengt bleibt. Wie vor der Ehe ihr Vater, so nimmt nun auch ihr Mann ihre Bedürfnisse nicht ernst, behandelt sie wie eine Puppe ohne eigenen Willen. Als Nora erkennt, dass sie von Männern ihrer Umgebung stets nur ausgenutzt und manipuliert worden ist, zieht sie die Konsequenzen und verlässt ihren Ehemann: "Ich muss herausfinden, wer Recht hat: die Gesellschaft oder ich." Wohl gerade des – für damalige Zeit – sehr kontroversiellen Themas wegen avancierte nicht nur das Stück, sondern auch die Buchausgabe in Skandinavien in Windeseile zum Bestseller. Die damals neue "Reclams Universal Bibliothek" ließ noch 1879 die deutsche Übersetzung erscheinen, die dazu beitrug, den Ruhm der "Reclam-Hefte" zu begründen.

"Nora" zählt bis heute zu den begehrtesten Frauenrollen am Theater, sie hat aber auch den Film erobert. Unter den zahlreichen Streifen, die auf Ibsens Stück basieren, ist wohl die Version Rainer Werner Fassbinders die berühmteste. Ibsen selbst verstand sich zeitlebens als Vorkämpfer für die Emanzipation und bemühte sich in seinem Umfeld stets und mit Nachdruck um die Gleichberechtigung der Frau.

Typisch für Ibsen ist wohl auch "Gespenster", sein nächstes, 1881 zur Uraufführung gebrachtes, Stück. In diesem Familiendrama zeigt Ibsen, wie nicht nur die Weltsicht der Eltern, sondern die Traditionen und Ansichten ganzer Generationen auf den Zeitgenossen lasten, die diesem Alp kaum oder nur unter unendlichen Mühen zu entkommen vermögen. "Gespenster" erwies sich gerade im Licht der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als ein überaus prophetisches Werk, wobei anzumerken ist, dass der norwegische Originaltitel "Wiedergänger" lautet. Die handelnden Personen sind bereits tot, sie wissen es nur noch nicht. Und so sind sie verdammt, auf Erden weiterzuwandeln, bis sie vielleicht doch noch Erlösung oder wenigstens Genugtuung finden. An dieser Stelle verweist der sonst den Prinzipien des Naturalismus verpflichtete Ibsen bereits auf künstlerische Strömungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gemahnt "Gespenster" doch in vielerlei Hinsicht an die Werke Sartres, Camus´ oder Becketts.

Noch deutlicher legt Ibsen 1883 in "Ein Volksfeind" den Finger in die Wunde der Gesellschaft. Der Idealist Stockmann hat mit seinem Fleiß und seinem Engagement ein kleines Dorf zu einem reichen und wohlhabenden Badeort gemacht. Seine Forschungen zeigen ihm aber, dass das Wasser verunreinigt ist, weshalb es unverantwortlich wäre, die Gäste, die den Ort in Scharen besuchen und so für seinen Reichtum sorgen, weiter baden zu lassen. Als Stockmann seine Ergebnisse den Mitbürgern präsentiert, wird der ehedem viel Geachtete zum viel Geschmähten. Ibsens bittere Erkenntnis: wer zur Wahrheit steht, der steht alsbald allein.

Mochten Ibsens Ansichten auf der Bühne als Mode erscheinen, vertrat er sie auch als politischer Mensch. Er stand den Anhängerinnen des Frauenwahlrechts bei, er engagierte sich für die Arbeiterbewegung und die politische Linke: "Ginge es nach mir, so müssten sich alle Unterprivilegierten zusammentun und eine starke, resolute Partei gründen, deren Programm ausschließlich auf praktische und produktive Reformen, auf eine massiv ausgedehnte Erweiterung des Stimmrechts, eine Verbesserung der Stellung der Frau, die Befreiung des Unterrichts von allerhand mittelalterlichem Kram usw. gerichtet wäre."

In den folgenden Jahren gelingen Ibsen mit den Stücken "Die Wildente" (1884), "Rosmersholm" (1886) und "Die Frau vom Meer" (1888) drei weitere Bühnenerfolge, doch wird allmählich erkennbar , dass seine Kräfte langsam erlahmen. Immer öfter benötigt er ausgedehnte Erholung, begibt sich auf Kur und liegt doch immer wieder krank danieder. Den Sommer 1889 verbrachte er im tirolerischen Gossensaß, wo er der gerade 18jährigen Wienerin Emilie Bardach begegnet. Es geht ihm wie einst Goethe in Marienbad, doch ist das Resultat dieses stürmischen Aufwallens seines Herzens keine Elegie, vielmehr dient ihm Bardach als Vorbild für die weibliche Hauptrolle in seinem letzten großen Stück, "Baumeister Solness".

Zuvor spricht Ibsen in "Hedda Gabler" (1890) noch einmal die Situation der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft an. Wieder steht die Spannung zwischen den Erfordernissen einer bürgerlichen Existenz und den Wünschen nach Selbstverwirklichung im Vordergrund des Dramas, in dem Ibsen die Lügen aufzeigt, mit denen die Gesellschaft eine Wahlmöglichkeit vorspiegelt, die sie in der Realität, wäre sie überhaupt vorhanden, niemals akzeptieren würde. Dieses Thema handelt Ibsen zwei Jahre später auch im "Baumeister Solness" ab, der sich mit den vorherrschenden Verhältnissen abgefunden hat, ehe ihm die Begegnung mit der jungen Hilde neuen Kampfgeist einimpft, der ihn jedoch umso sicherer in den Untergang treibt.

Ausklang und Tod

1898 feiert ganz Skandinavien hymnisch den 70. Geburtstag des Dichter-Heros. Er selbst freilich ist am Ende seines Weges angekommen. Nach "Baumeister Solness" sind noch drei kleinere Werke entstanden, im März 1900 erkrankt Ibsen so schwer, dass er nicht mehr arbeitsfähig ist. Es folgt ein jahrelanges Siechtum, verschärft durch mehrere Schlaganfälle, ehe er am 23. Mai 1906 im Alter von 78 Jahren stirbt. Wenige Monate zuvor war Norwegen unabhängig geworden, es ehrte ihn mit einem Staatsbegräbnis. Wie kaum ein anderer Dichter hat Ibsen das literarische Spektrum der Zeit abgeschritten – von der Romantik über den Naturalismus bis hin zum kritischen Realismus. In vielen Punkten erwies er sich als Wegweiser in eine neue Form der Literatur, und genau das hat ihn wohl zum Klassiker gemacht, der uns auch heute noch viel zu sagen hat.

Andreas P. Pittler , geboren 1964, lebt als Historiker, Sachbuchautor und Journalist in Wien.

Printausgabe vom Samstag, 20. Mai 2006
Update: Freitag, 19. Mai 2006 16:09:00

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