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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Vor 100 Jahren wurde "Peter Pan" uraufgeführt -Eine Erfolgsstory

Kind ohne Ablaufdatum

Von Werner Garstenauer

Nachdem am 27. Dezember 1904 das Theaterstück "Peter Pan, or the Boy Who Would Not Grow Up" von James Matthew Barrie in London uraufgeführt und zu einem überwältigenden Erfolg bei Alt und Jung geworden war, etablierte es sich schnell als Weihnachtsspiel, dem selbst ein Bernard Shaw nichts entgegenzustellen vermochte - sein als Erwiderung auf Peter Pan gedachtes Drama für Kinder, "Androcles and the Lion", floppte. Dank zahlreicher Bearbeitungen und Adaptionen für

Musical, Oper und Film ist Barries Peter-Pan-Stoff ein wichtiges Kulturgut geworden. Was steckt dahinter?

Der Autor war wahrlich ein von seiner Kindheit Gezeichneter. 1860 als letztes von neun Kindern eines Heimwebers im südschottischen Kirriemuir geboren, veränderte der Unfalltod seines Bruders David im Jahre 1867 sein Leben. Um der Mutter den Lieblingssohn zu ersetzen, ahmte er David nach, wurde von ihr jedoch zurückgewiesen. Hierin liegt eine Wurzel der ambivalenten Mutterfigur in seinem Erfolgswerk: Insistiert Peter einerseits auf seiner Abneigung gegenüber Müttern, bleibt er ihnen doch stets auf geheimnisvoll-libidinöse Weise verbunden. Am Ende des Stücks heimst er endlich den Kuss ein, den Mrs. Darling seit jeher für ihn aufgespart hat.

Erstes Stück mit 17 Jahren

Schon kurz nach dieser Zäsur unternahm Barrie erste Theaterversuche. Als er 1873 an die angesehene "Dumfries Academy" kam, konnte er dort sein schöpferisches Talent weiter entwickeln. Zwei seiner Klassenkameraden nahmen dabei Schlüsselstellungen ein: Der eine, Sohn des ortsansässigen Buchhändlers, verschaffte ihm Zugang zur Lektüre seiner Wahl, der andere, Stuart Gordon, Sohn des Ortsgendarmen und Besitzer eines romantischen Wildparks am Ufer des Flusses Nith, stellte das Gelände zur Verfügung, auf dem man sich zum nachmittäglichen Spiel traf. "Moat Brae" ist nicht nur Teil der topographischen Vorlage für die Szenerie des "Neverland", sondern auch Probebühne für Barries eigene Texte. Kaum 17 Jahre alt, wurde sein erstes Stück, "Bandolero, the Bandit", vom "Amateur Dramatic Club" in Dumfries aufgeführt.

Nach einem Jus-Studium in Edinburgh und einem Jahr als Leitartikler und Chefrezensent für das "Nottingham Journal" zog Barrie 1885 die schriftstellernde Unabhängigkeit in London vor. Erste Erfolge erzielte er mit schottischen Heimatgeschichten, doch eine gescheiterte Ehe intensivierte ab Mitte der 90er Jahre wieder die Beschäftigung mit seiner prekären innersten Heimat - der ewigen Selbstentfremdung. In "Sentimental Tommy" (1896) und "Tommy and Grizel" (1899) porträtierte er den erfolgreichen, aber ewig unreifen Autor Tommy, der nie sein eigenes Ich zu erhaschen vermag. Als "menschliches Chamäleon" findet er keinen Zugang zu den Mitmenschen und zur Liebe.

In diesen autobiographischen, zwischen Selbstverachtung und Sehnsuchtsqualen schwankenden Texten griff Barrie auf Elemente aus dem Leben seiner damals bereits verstorbenen Mutter zurück. Mit Grizel entwarf er den Prototyp einer Reihe von "ewig kleinen Müttern", deren bekannteste wohl die Wendy aus "Peter Pan" ist. Auch der Plot seines größten Erfolgsstückes findet sich schon ansatzweise in einem fiktiven Buch Tommys: "The Wandering Child" erzählt von einem verlorenen und wieder gefundenen Jungen, der sich schon fast mit seiner Existenz als Waldkind abgefunden hatte.

Eine denkwürdige Begegnung erlaubte Barrie, sein Lieblingsthema nun auch in kindertaugliche Form zu verpacken. 1897 lernte er bei einem Spaziergang in Kensington Gardens drei (der schließlich fünf) Söhne des Barons Arthur Llewlyn Davies kennen und beglückte sie mit seinen phantastischen Geschichten. Rasch entwickelte sich eine enge Freundschaft. Barrie war beim Erzählen und Erfinden - wie sein Wahlverwandter Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll - ganz in seinem Element. Die Beziehung gestaltete sich derart intensiv, dass er nach dem frühen Tod der adeligen Eltern zuerst für Lebensunterhalt und Ausbildung der Buben aufkam und sie später sogar adoptierte.

Aus gemeinsam verbrachten Sommerferien in Barries Landhaus am Black Lake in Farnham ging 1901 die von Barrie verfasste und nur für den Privatgebrauch bestimmte Erzählsammlung "The Boys Castaways of Black Lake Islands" hervor, für die er Fotos seiner Spielgefährten knipste. Im Jahr darauf veröffentlichte Barrie mit der Erzählung "The Little White Bird" eine für Erwachsene konzipierte Version der phantastischen Spielereien, die sich immer noch durch einen höchst privaten Erzählton auszeichnete. Hier wird in einigen Kapiteln der Stoff von einem bei den Feen in "Kensington Gardens" lebenden Peter Pan erstmals ausgeformt, der allerdings noch als ein Zwitterwesen aus Vogel und Kind dargestellt wird. Basierend auf diesen zwei Vorstufen, begann Barrie 1903 fieberhaft an seinem "Wunschkind" zu arbeiten: einem Theaterstück für Groß und Klein, das von den Strapazen des Erwachsenwerdens handelt - und das er "den Fünf" widmet.

Zu diesem Zeitpunkt war Barrie bereits ein erfahrener Bühnenautor, der sein Handwerk verstand. Dennoch ließ er sich von der ablehnenden Haltung mancher Branchengrößen, etwa des renommierten Theateragenten Beerbohm Tree - der die Theater sogar schon vor der Prüfung des Manuskripts warnte! - beeinflussen. Er zog die Arbeit an einem anderen Stück ("Alice Sit-by-the-Fire") vor, von dessen Erfolg er sich einen Ausgleich für die ihm durch die Realisierung seines "Wunschkindes" sicher scheinenden Verluste erhoffte - doch es kam umgekehrt. In dem amerikanischen Produzenten Charles Frohman fand Barrie einen Gleichgesinnten, der mit gleichem Enthusiasmus die unzähligen Ideen des Autors umzusetzen bereit war. Die ursprüngliche Besetzungsliste hatte über 50 Darsteller; fünf Bühnenbilder mussten hergestellt werden, und den Schauspielern wurde ein hohes Maß an Improvisationsvermögen abverlangt, da die Textvorlage ständig geändert wurde und Barrie zeitweilig gar ein siebenaktiges Stück vorschwebte.

Seine Wirkkraft bezieht "Peter Pan" aus der mit überbordender kreativer Energie erzeugten Bündelung verschiedener Genre-Elemente und mythologischer Versatzstücke, die in den Zwischenraum zweier scheinbar klar getrennter Welten blicken lassen. Märchenelemente, Anleihen bei der Tradition der Abenteuerromane und Piraterien, das Schema einer kindergerechten Familiengeschichte und schließlich metafiktionale Passagen, die den Herstellungsprozess reflektieren sowie Parodien auf Indianer- und Abenteuerbücher und aktuelle gesellschaftliche Umstände ergeben ein schillerndes Textkonglomerat, das jeder Altersgruppe etwas bietet.

Wanderer zwischen zwei Welten

Die der Mythologie entnommenen Prinzipien Pans und Cupidos verschmelzen in der Figur des Knaben Peter, der aus Furcht vor dem Erwachsenwerden seinen Eltern entwischt, dessen Requisiten (wie Blätterkleid und Panflöte) aber auf sein göttliches Vorbild verweisen. In ihm verkörpert sich der Konflikt eines Menschen, der von den in ihm wohnenden Sehnsüchten - einerseits nach irdisch-endlichem Leben (Wunsch nach einer Mutter), andererseits nach göttlich-überzeitlicher Existenz (Wunsch nach ewiger Kindheit) - hin- und hergerissen wird. Dergestalt wird Peter zum exemplarisch-tragischen Wanderer zwischen zwei Welten und zu einer entsprechend ambivalent-androgynen Gestalt, die fast immer von weiblichen Darstellern verkörpert wird.

Ist er den Frauenfiguren stets Ziel ihres mehr oder weniger konventionellen Begehrens, wie ja auch der Naturgott Pan Ventil für viele späte Viktorianer, wie etwa Elizabeth Berrett Browning oder Swinburne, war, erscheint Peter in anderen Situationen in allen denkbaren Gestalten des unschuldig schuldig Gewordenen: als Teufel, Egomane, melancholisch-depressiv Verstimmter oder liebloser Wüterich. Die der Frau zugedachte und in der Gestalt der Wendy exemplifizierte Rolle mutet der Zeit entsprechend verschroben an: sie ist stets eine passive Beobachterin der Kämpfe und Streiche der Bande der verlorenen Jungen; sie ist mütterliche Erzählerin, Putzfrau und Köchin, bis sie zu guter Letzt auch noch zum jährlichen Frühjahrsputz bei Peter eingeteilt wird. Was dieser aber ohnehin vergisst und damit zeigt, dass ihm trotz aller Mütterei die Erfüllung eines konventionellen Frauenbildes gar nicht so wichtig ist . . .

Verortet man Barries Kindheitsgott innerhalb seines literarischen Bezugsfeldes, wird die Leistung des Autors besonders deutlich. Er entstammt einer Epoche, die sich an der Imagination unheimlicher Naturkinder nicht satt sehen kann und die als Geburtsstunde der Kinderliteratur gilt. Barrie nimmt das Motiv des "fremden Kindes", das von E. T. A. Hoffmann in dessen gleichnamigem Kindermärchen geprägt wurde, wieder auf und gestaltet es zu dem des "ewigen Kindes" um. Dient bei Hoffmann das "fremde Kind" als geschlechtsneutrale Projektionsfläche seiner Spielkollegen, wird für das "ewige Kind" der Prozess der Identitätsausbildung zum existenziellen Problem. An dem Stoff vom immer stärker umkämpften kindlichen Freiraum hat sich seither eine Unzahl - nicht nur kinderliterarischer Werke - abgearbeitet.

Als bekanntes Beispiel einer aktuellen Bezugnahme kann der philosophische Jugendroman "Sofies Welt" (1991) von Jostein Gaarder herangezogen werden: Sofie, die nicht erwachsen werden will, muss sich plötzlich als Romanfigur begreifen, die mit anderen "ewigen Kindern" der Weltliteratur in einem scheinbar von der Realität abgeschlossenen Phantasiereich leben muss. Der Umstand jedoch, dass es Hinweise auf Kommunikation zwischen ihr und ihrer Leserin gibt, legt die Annahme nahe, dass hier, wie in "Peter Pan", ein Dialog zwischen kindlicher und erwachsener Sphäre eingefordert wird.

Zusätzlich zum Renommee als Kinderbuchklassiker - "Peter Pan" wurde schon 1915 in Großbritannien als Schullesebuch eingeführt - trug nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem der nach wie vor erstaunlich zeitlose Disney-Trickfilm aus dem Jahr 1952 zur weltweiten Karriere des Stoffes bei. Die sich sehr weit von der Buchvorlage entfernende Version prägte das kollektive Gedächtnis dermaßen, dass man sich bis heute - selbst beim Betrachten neuerer Pan-Versionen - nur schwer von den damals etablierten Schablonen lösen kann.

Peter Pan in Film und Cartoon

Und neue Versionen gibt es zuhauf: Steven Spielberg konzentrierte sich in seinem Film "Hook" (1991) auf die depressive Wiederkehr der stets gleichen sinnlosen Kämpfe zwischen Hook und dem bereits erwachsenen Peter und verwendete eine stark comicmäßige Charakterzeichnung. P. J. Hogan präsentiert in seinem aktuellen "Peter Pan" eine Realverfilmung, die sich um Nähe zum Original bemüht und mit allen dramaturgischen Wassern - Psychologie, Action und visuellen Effekten - gewaschen ist.

Auf markante Weise beschäftigt sich das fünfbändige Cartoon-Werk Regis Loisels mit dem sozialgeschichtlichen Hintergrund sowie der psychologischen Lesart der Geschichte und offeriert dem reiferen Leser gleich zwei Peters auf deren Weg in die Abgründe der Seele. Im deutschen Sprachraum wurde "Peter Pan" einem breiterem Publikum erst nach 1945 durch die Übersetzung Erich Kästners bekannt, der auch die Uraufführung der Dramenversion 1952 am Münchner Residenztheater veranlasste. Mittlerweile gibt es ein gutes Dutzend Übersetzungen. Die Prosaversion liegt derzeit in mehreren Fassungen vor, von denen sich die von Bernd Wilms am ehesten als Jugendlektüre eignet. Dank der schwebend-leichten Illustrationen Sybille Heins lässt sich die Geschichte mit einiger Distanz verfolgen.

Ilse Bintigs geglättete Kindervariante präsentiert sich hingegen mit - vor allem in dunklen Tönen gehaltenen - Bildern von Julian Jusim, dem ausdrucksvolle, realistische Gesichter wichtig sind. Langenscheidts Easy-Reader-Version inklusive Hör- und Übungs-CD für Englisch-Anfänger bietet hingegen kubistisch-flächige Bilder von Giovanni Manna, in denen warme Farbtöne überwiegen. Hier wird an der klassischen Figurengestaltung festgehalten. Zudem bietet das Bändchen die Möglichkeit, sprachliches und kulturelles Wissen spielerisch zu reflektieren.

Lektüretipps: "Peter Pan": Deutsch von Bernd Wilms. Illustrationen von Sybille Hein. Mit einem Nachwort von Joan Aiken. Verlag Cecilie Dressler, Hamburg 2001.

-: Neu erzählt von Ilse Bintig. Mit Bildern von Julian Jusim. Arena, Würzburg 2003.

-: Retold by Gina D. B. Clemen. Illustrations by Giovanni Manna. Langenscheidt, Canterbury 2000.

Freitag, 24. Dezember 2004 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 12:11:00

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