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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Ein Besuch im Jüdischen Theater von Washington DC

Strandhaus als Gerichtssaal

Von Edith Grünwald

Wer eine Vorstellung im Jüdischen Theater von Washington DC besucht, der trifft beim Eingang nicht nur auf Kulturpublikum. Jene mit den großen Sporttaschen streben weniger nach kulturellen Erbauungen als nach körperlicher Ertüchtigung: Ihr Ziel ist das Fitnesszentrum am Dachboden, genau über dem Theater. Zwischen den Fitness-Geräten unterm Dach und einem Schwimmbecken im Keller findet sich das Jüdische Theater von Washington.

Eingebettet ist das "Theater J" in ein lebendiges Zentrum, das von der jüdischen Gemeinschaft der US-Hauptstadt wie von der Nachbarschaft an der 16. Straße, vier Blocks vom Dupont Circle entfernt, gleichermaßen genutzt wird. Während im Theater das Eröffnungsstück der heurigen Saison, "Death and the Maiden", geprobt wird, strampeln einen Stock darüber Fitness-Begeisterte, um ihre Kondition zu verbessern, und einige Räume weiter spielen Kleinkinder im Kindergarten. In der Sporthalle im Keller trainiert gerade der Basketballklub der Feuerwehr von Washington DC, während im Swimmingpool die "Little Flippers" ihre ersten Tempi machen und im koscheren Restaurant im Erdgeschoß schon für die Dinner-Gäste gedeckt wird.

Kultur, Sport und Freizeit

Die Geschichte des "Theater J" ist untrennbar mit dem Jüdischen Gemeindezentrum Washingtons, dem "DCJCC" (District of Columbia Jewish Community Center) verbunden. Seit der Eröffnung im Jahr 1925 durch den damaligen US-Präsident Calvin Coolidge wurde die Verbindung von Kultur mit Sport und Freizeit sowie mit karitativen Aktivitäten in einem Haus praktiziert. Statt einem High-Tech-Fitnesszentrum gab's damals zwar eine Bowlingbahn, doch der Swimmingpool war bereits in den 20er und 30er Jahren ein beliebtes Freizeitvergnügen. "Es brennt im Swimmingpool!" soll der Lieblingswitz von Bruno Waldman gewesen sein. Der vor den Nazis aus Deutschland geflüchtete Jude unterstützte wie viele andere das Zentrum und das Theater - die Namen der Sponsoren sind heute auf Gedenktafeln verewigt. In den 50er Jahren spielte die "B'nei Brith"-Theatergruppe jiddisches Kabarett, eine kleine Ausstellung erinnert an die Geschichte des Hauses.

Doch in den 60er Jahren übersiedelten immer mehr "Washingtonians" vom Stadtzentrum in die Vororte, und auch das DCJCC wechselte 1969 vom "District" nach Rockville im nördlich angrenzenden Bundesstaat Maryland. Das Gebäude wurde zehn Jahre lang als städtisches College genutzt, die kulturellen Aktivitäten des Jüdischen Zentrums wurden hingegen in

Maryland fortgesetzt. 1985 erfolgte jedoch die "Heimkehr" in die Stadt, zunächst in ein kleines Stadthaus am nahen Dupont Circle. 1990 wurde das traditionsreiche Haus an der 16. Straße zurückgekauft - und auch das Jüdische Theater konnte wieder an seinen angestammten Platz zurückkehren.

Seit der Wiedereröffnung hat das "Theater J" 35 Stücke produziert - von Juden und von Nicht-Juden. Die Themenpalette hat der künstlerische Leiter, Ari Roth, weit gefasst - jüdische Kultur und Geschichte, Israel und Nahost sowie Fragen, die nicht nur, aber doch hauptsächlich mit jüdischem Leben zu tun haben, werden dramatisiert. Zum Abschluss der vergangenen Saison wurde das Stück eines Österreichers aufgeführt, der in seiner Heimat mehr mit Politik als mit Theater verbunden wird - Peter Sichrovskys "Schuldig Geboren" ("Born Guilty") über Begegnungen mit Kindern von Nazi-Verbrechern und ihren Versuchen der Auseinandersetzung mit der Schuld ihrer Eltern.

Mit dem Eröffnungsstück der Saison 2002/2003, "Death and the Maiden" ("Der Tod und das Mädchen"), hat das "Theater J" wieder einen Nerv getroffen. Der chilenische Autor Ariel Dorfman hat darin 1991 die Probleme von Folteropfern aufgezeigt - und das Dilemma zwischen dem Wunsch nach persönlicher Rache und dem Versagen der staatlichen Gerechtigkeit durch denselben Staat, dessen Organe einst bei der Verfolgung und Folter mitmachten oder sie duldeten. Der Bezug zu Chile ist undeutlich, die Folterungen könnten auch in Lagern am Balkan oder in Francos oder Mussolinis Gefängnissen begangen worden sein - oder in einem Konzentrationslager.

Frau trifft früheren Peiniger

Das Dreipersonenstück wird in karger Ausstattung auf der kleinen Bühne dargeboten, John Vreeke führte Regie. Ein Strandhaus wird durch eine zufällige Begegnung von Täter und Opfer plötzlich zum Gerichtssaal. Eine Frau trifft nach über einem Jahrzehnt ihren früheren Peiniger wieder, während ihr Ehemann gerade als Leiter einer Kommission eingesetzt wurde, die die Menschenrechtsverletzungen unter der vergangenen Diktatur untersuchen soll. Ein Versuch, den Opfern ihre Würde zurückzugeben und die Geschichte aufzuarbeiten, aber kein ordentlicher Prozess und keine echte Öffentlichkeit - angesichts des noch immer einflussreichen Militärs ein die realen Machtverhältnisse widerspiegelnder "Kompromiss" oder eine reine Augenauswischerei zur "Imagepflege" des neuen Regimes?

Doch was soll mit den Untersuchungsergebnissen der Kommission passieren, wer klagt die Mörder und Folterer an und wer richtet über sie? Wie können Gerichte eines Staates Mord und Folter verurteilen, wenn die selben Richter einst die Mörder und Folterer ungehindert walten ließen?

Dramatischer, als es vor einer Untersuchungskommission je möglich wäre, verläuft die Begegnung des ehemaligen Folteropfers mit dem "Doktor", wie er im Folterkeller genannt wurde. Sie erkennt ihn an seiner Stimme wieder und überwältigt den wesentlich stärkeren Mann im Schlaf. Fesseln, ein Knebel und eine Pistole genügen, um die Situation scheinbar umzudrehen - sei es auch nur für einige Stunden und ohne die sexuelle Demütigung, die sie damals durch zahlreiche Vergewaltigungen erfahren musste. Immerhin fürchtet der "Doktor" um sein Leben und wird an seine Untaten erinnert, die er seitdem vor seiner Familie, seiner Umgebung und auch vor sich selbst verleugnet hat. Um zu entkommen, muss er "gestehen" - und schildert dabei auf beklemmende Weise, wie er schnell vom Mitläufer zum Täter wurde, wie er zunehmend Lust dabei verspürte, alles bisher Verbotene zu tun und seine Opfer fast bis zum Tod zu quälen.

Doch auch nachdem der vermeintlich Fremde ein Geständnis verfasst und sich durch kleine Fehler verraten hat, bleiben die Rachegefühle der Gepeinigten und ihr Wunsch nach Selbstjustiz. Ihr Dialog mit dem enttarnten Folterer bildet den Höhepunkt des Stücks. Da fragt der "Doktor" anklagend, ob das denn nun ewig so weitergehen soll, ob seine Kinder in 15 Jahren die Mörderin ihres Vaters suchen würden, und warum die "kranke Frau" nicht einen Schlussstrich ziehen und in die Zukunft blicken könne, statt immer noch in der Vergangenheit zu leben.

"Warum müssen immer wir auf Rache verzichten", schreit die Gefolterte zurück - und spricht die uralte Diskussion an, ob jemand durch seine Verbrechen das Recht auf Leben verwirken kann: "Was haben wir zu verlieren?"

So sehr die allgemeinen Themen wie "Vergangenheit", "Schuld" und "Rache" Themen in österreichischen Theatern ähneln mögen, so verschieden ist das Umfeld des "Theater J". Die jüdische Gemeinde im Großraum Washington umfasst etwa 180.000 bis 200.000 Mitglieder, insgesamt leben rund drei Millionen Menschen im Metropolitan Area. Ari Roth, der künstlerische Leiter des Theaters, wurde in Chicago geboren, hat an der Michigan University unterrichtet und in New York gelebt. Seine Eltern stammen aus Deutschland. Roths Vater kam 1938 nach dem November-Pogrom in die USA, seine Mutter musste sich als Kind in Frankreich vor den Nazis verstecken und gelangte erst nach dem Krieg in die Vereinigten Staaten.

"Ich habe seit Beginn meiner Tätigkeit hier noch nie einen antisemitischen Anruf oder einen Drohbrief erhalten", erzählt Roth. Auch sei die Fassade noch nie mit einem Hakenkreuz oder anderen Schmähschriften beschmiert worden, und es habe nie irgendeinen tätlichen Angriff auf das Gebäude oder seine Besucher gegeben. In 35 Produktionen habe man den "Gegnern der jüdischen Kultur" zwar "reichlich Möglichkeiten gegeben, ihren Unmut auszudrücken", aber "nie ist etwas passiert. Manche Produktionen sind gut besucht, manche nicht - auf diese Art zeigen die Leute, ob sie mit uns zufrieden sind". Ein einziges Mal habe ihn ein Besucher angerufen und beschimpft, weil ihm das Theater "pro-palästinensisch" vorgekommen sei. Die Auseinandersetzung mit der Lage im Nahen Osten ist Roth ein besonderes Anliegen: Im "peace cafe" finden ein- bis zweimal wöchentlich nach der Vorführung Diskussionen über dieses Thema statt.

Beim Betreten des Gebäudes erinnern eine Sicherheitsschleuse und ein Wachmann allerdings an die schwer bewachten Synagogen und Jüdischen Gemeindezentren in Europa. "Das gibt es bei uns erst seit dem 11. September", erklärt Roth. Nach den Terrorattentaten wurden in vielen Gebäuden der USA die Sicherheitskontrollen verstärkt.

In seinem Stück "Peter und der Wolf", das im vergangenen Juni am Spielplan stand, hat sich Ari Roth mit Österreich beschäftigt. Er beschreibt darin das Leben des "Born Guilty"-Autors Peter Sichrovsky und dessen von vielen angeprangerte Liaison mit der FPÖ. Statt in Schwarz-Weiß-Malerei versucht Roth Sichrovskys Leben auch mit Zwischentönen zu zeigen.

Deutlich erinnert sich Roth noch an einen Besuch in Graz, wo er mit Mitgliedern der kleinen jüdischen Gemeinde zusammentraf. Dabei sei er in eine Diskussion geraten, ob "zu viele jüdische Themen" im Fernsehen und anderen Medien gezeigt würden. "So etwas zeigt deutlich, wie viel Paranoia in Europa noch immer existiert", meint Roth. Die Juden könnten zwar jetzt offen leben, aber wenn über sie geredet werde, hätten sie gleich Angst, es könnte "zu viel" sein.

Auch Filme und Literatur

Roths Einstellung ist genau entgegengesetzt: Jüdische Kultur könne es nie genug geben, betont er. "Wir sollten uns nicht begrenzen lassen", warnt er vor falscher Zurückhaltung aus Angst vor Antisemitismus. "Unsere Kultur ist so vielfältig und so unwiderstehlich schön." Dabei könne man auf Jahrtausende kulturellen jüdischen Lebens zurückgreifen. Das Jüdische Gemeindezentrum in Washington präsentiert neben Theater auch eine Fülle weiterer kulturellen Aktivitäten wie Filmvorführungen, Ausstellungen, Literatur, Musik und Tanz.

In der Saison 2002/2003 werden im "Theater J" fünf Stücke aufgeführt: Nach "Death and the Maiden", das ab diesem Wochenende bis zum

1. Dezember gespielt wird, beginnt das Jahr 2003 mit "The Last Seder" (7. Jänner bis 9. Februar) von Jennifer Maisel über ein turbulentes Familientreffen zu Pessach. "Jump/Cut" von Neena Beber (24. Februar bis 30. März) ist eine Weltpremiere - ein Stück, das die Probleme eines manisch-depressiven Mannes mit der Sinnsuche eines befreundeten Paares verknüpft. Die alte Welt des Chassidismus, der frommen osteuropäischen Juden, und die neue Welt eines frustrierten IBM-Programmierers verbindet die mystische Komödie "The Mad Dancers" (29. April bis 1. Juni) von Yehuda Hyman. Den Abschluss macht "Talley's Folly" (16. Juni bis 13. Juli) von Lanford Wilson, Einblick in die Liebesgeschichte eines ungewöhnlichen Paares gewährend.

Wer also Washington DC einmal besucht, kann in der "Stadt ohne Nachtleben" im "Theater J" einen interessanten Abend genießen - vielleicht im Anschluss an ein original-amerikanisches "Work Out" im Fitness-Center. Den genauen Spielplan des Jüdischen Theaters - und auch Karten - gibts im Internet: http://www.dcjcc.org/theaterj.htm

Freitag, 08. November 2002 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 12:18:00

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