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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Gert Voss über seine Jugend in China, seinen Konflikt mit Claus Peymann und die Marlowe-Premiere am Burgtheater

Gert Voss: "So spielen, dass man Angst hat"

Von Helga Häupl-Seitz

Verzeihen Sie, sagte Wilhelm, Sie haben mir streng genug alle Fähigkeit zum Schauspieler abgesprochen; ich gestehe Ihnen, dass, ob ich gleich dieser Kunst ganz entsagt habe, so kann ich mich doch unmöglich bei mir selbst dazu für ganz unfähig erklären. - "Und bei mir", sagte Jarno, "ist es doch so rein entschieden, dass, wer sich nur selbst spielen kann, kein Schauspieler ist. Wer sich nicht dem Sinn und der Gestalt nach in viele Gestalten verwandeln kann, verdient nicht diesen Namen." (J. W. v. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre)

Knapp 120 Rollen hat er in den 35 Jahren seiner Bühnenkarriere gespielt; von seiner ersten Rolle, dem Eugene Marchbanks in George Bernard Shaws "Candida" im Stadttheater Konstanz (1966), bis zur Claire in Jean Genets "Die Zofen", vom Trigorin in Anton P. Tschechows "Die Möwe" bis zum Johannes Rosmer in Henrik Ibsens "Rosmersholm" in den laufenden Produktionen des Wiener Akademietheaters ist Gert Voss diesem Motto treu geblieben.

Seine Rollen entwickeln sich behutsam, Schritt für Schritt. Die Charaktere schälen sich aus seinen Gedanken und Gefühlen, Nachgelesenem und Gehörtem heraus. "Die Probe wird bei ihm zum Ereignis, denn er lässt sich - ganz - los, verliert sich, sucht die Umwege, die Abwege. Er probt für sich und nicht für den Regisseur (. . .). Er ist bereit, alles hinter sich zu lassen, um Neuland zu entdecken", skizziert Klaus Bachler im Vorwort zu dem jüngst erschienenen Buch "Die Verwandlungen des Gert Voss".

Mit jeder seiner Figuren versuche Gert Voss, ein anderer zu sein; Gang, Haltung, Sprache und Stimme der jeweiligen Rolle anzupassen. Und: "Gert Voss kommt nicht zur Vorstellung, streift sich das Kostüm über und legt die Maske an, sondern er beginnt allabendlich sein Leben mit der Figur neu. Die Verwandlung fängt lange vor dem Auftritt an. Gert Voss braucht die Stille, um sein Zeitmaß zu finden. Wenn die anderen das Theater betreten, ist er längst Richard III.,

Johannes Rosmer, Othello oder eben Antonius geworden." Woraus bezieht Gert Voss aber die Kraft,

"in jeder Sekunde seines Spiels

den Untergang zu riskieren" (Bachler)?

Ungewöhnliche Kindheit

Seine Kindheit ist für damalige Verhältnisse ungewöhnlich: Peter Gert Voss wird am 10. Oktober 1941 in Shanghai in eine Kaufmannsfamilie geboren. Die Großeltern mütterlicherseits lebten seit 1918 in China und waren stark vom Konfuzianismus geprägt. Auch seine Mutter war in China geboren und bis zum 12. Lebensjahr im Land aufgewachsen. Sein Vater, ebenfalls Kaufmann, hatte einen 10-Jahres-Vertrag für die chinesische Niederlassung der Firma Carl Zeiss unterschrieben.

Gert Voss und sein um eineinhalb Jahre jüngerer Bruder Christian wachsen in einem europäischen Viertel auf: "Wir spielten im Kindergarten mit holländischen, englischen, aber auch mit englisch-jüdischen oder deutsch-jüdischen Kindern. China hat mich vielleicht insofern beeinflusst, als ich kein Nationalgefühl kenne."

Unfreiwillig und völlig grundlos holte die Familie dennoch die Nationalitätenfrage ein: Nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs galten sie, wie viele Deutsche in Rotchina, als Nationalsozialisten. Weil der geliebte Großvater bei einem deutschen Stahlunternehmen tätig gewesen war, wurden beide Großeltern der Spionage angeklagt, verurteilt und in verschiedene Gefangenenlager abtransportiert. Gert Voss' Eltern gelang mit beiden Söhnen und dem Notwendigsten, in einen Koffer gepackt, die Überfahrt auf einem amerikanischen Truppentransporter nach Bremerhaven. Die vierwöchige Seefahrt geriet für den Siebenjährigen zum Alptraum: "Auf dem Schiff wurden wir praktisch wie Kriegsgefangene behandelt.

Ich durfte bei meinem Vater bleiben; mein Bruder musste mit meiner Mutter gehen. Unsere Kojen waren im untersten, unerträglich heißen Deck untergebracht. Erst als mein Vater seinen Fotoapparat herschenkte, durften wir im Gegenzug, wie die amerikanischen Soldaten auch, nachts oben an Deck schlafen."

Erste Faszination: der Film

Eine Erinnerung aus dieser Überfahrt nimmt er mit: "Abends zeigten die Amis an Deck für die anderen Soldaten Filme. Mein Bruder und ich sahen zu. Alle diese Filme habe ich später in synchronisierter Fassung wieder gesehen: Cowboyfilme und sehr viele amerikanische Kriegsfilme, Durchhalte- und Ermutigungsfilme gegen Nazis." Sie prägten die Jugendjahre im ausgebombten Deutschland mit den häufigen Wohnungs- und Schulwechseln und dem Gefühl, in Deutschland nicht zu Hause zu sein: "Meine heimatliche Beziehung war das ,Haus Roseneck' in Wasserburg am Bodensee, das der Schwester meiner Großmutter gehörte und in dem wir die Ferien verbrachten. Dieses Haus war ein Familientreffpunkt - auch die Großeltern lebten nach ihrer Freilassung dort. Meine Heimat war die Gegenwart meiner Eltern."

Gemeinsam mit seinem Bruder, seinem liebsten Spielgefährten, spielte er Figuren nach, die ihm in den Sinn kamen oder die er im Kino gesehen hatte. Angeregt von den häufigen Kinobesuchen fing er an, selbst düstere Filmgeschichten auf kleine Papierstreifen zu malen und freute sich, wenn er seinen Bruder und seine in Hamburg geborene Schwester in eine andere Welt locken konnte: "Ich war glücklich, wenn ich ihren Augen ansehen konnte, dass sie anfingen, die Realität um sich herum zu vergessen und meinen Fiktionen zu glauben. Diese Art von Verzauberung - vielleicht ist es auch eine Art von Verführung - hat mir immer am meisten gefallen."

So war es auch kein Wunder, dass Gert Voss zunächst daran dachte, nach seinem Abitur nach Hollywood zu gehen und bei Walt Disney Zeichner zu werden, oder wenigstens Kameramann. Seinem Vater zuliebe, der ob dieser Wünsche "erschüttert und empört" war, wie er sich erinnert, begann er "aus Langeweile" in Tübingen Germanistik, Anglistik und Publizistik zu studieren. Und lebte erst auf, als er eines Tages von einem Studententheater hörte: "Ich war sofort dabei. Schon in der Zeit, in der wir am Bodensee lebten, hatte ich mich bei vielen Gleichaltrigen beliebt gemacht, indem ich auf ihren Partys meine selbsterdachten Sketche spielte."

Erst als die Kommilitonen vom Studententheater die "teuflische Idee" hatten, statt moderner klassische Stücke wie "Amphytrion" von Heinrich von Kleist zu spielen, reifte sein Entschluss, diesen Beruf richtig erlernen zu wollen.

Dass er sich ernsthaft dem Schauspielberuf zuwandte, war für ihn selbst wohl am überraschendsten, wenn er an seine Jugendtage zurückdenkt: "Man glaubt es gar nicht, aber ich war immer extrem schüchtern. Ich konnte nur mit meinem Bruder spielen. Vor anderen Menschen hatte ich Angst, ich verdrückte mich am liebsten vor ihnen. In den jeweiligen Schulen schwieg ich, vor lauter Angst, aufgerufen und etwas laut sagen zu müssen. Ich brauchte sehr lange, bis ich meine Scheu und Unsicherheit überwunden, bis sich meine Verkrampfung gelöst hatte".

Auch der Weg zum Theater vollzog sich bei Gert Voss ganz langsam, "wie überhaupt alles bei mir im Leben langsam geht. Aus tausend Decken und Häuten hab ich mich herausgearbeitet". Nach dem Privatunterricht bei Ellen Mahlke von 1964 bis 1966 in München wurde er am Stadttheater Konstanz zum ersten Mal mit dem Alltag einer kleinen Bühne konfrontiert. Es war die Zeit des Deklamations- und Verabredungstheaters, keinesfalls aber das der Verwandlungen - der Form der lebendigen Rollengestaltung.

Gert Voss interessierten jedoch vor allem die Schauspieler, die sich mit Haut und Haaren einer Rolle verschrieben hatten: Klaus Kinski, Klaus Kammer, Martin Benrath und Dieter Laser, der ihm in Konstanz Mut machte. "Ich war immer begeistert von Schauspielern, die eine extreme Hitze und Gefährdung in sich trugen. Ich fragte mich, wie sie diese Intensität erreichten. Später, im Schauspielunterricht, war unsere Maxime: Man muss eine Szene so spielen, dass man Angst hat, sie ein zweites Mal zu spielen, weil man sonst sterben muss."

Seinen Weg aus der sprichwörtlichen Provinz über Braunschweig nach München, in das seine Frau Ursula und seine gerade geborene Tochter Grischka mitzogen, beendete Hans Peter Doll, der ihn 1972 ans Stuttgarter Stadttheater engagierte. Zwei Jahre später übernahm Claus Peymann die Intendanz.

Spiellust und Intensität

"In Stuttgart fand ich dazu zurück, eine Rolle nur aus meiner Fantasie zu spielen und dabei auch Dinge zu behaupten, die ich mit meiner ganzen Spiellust und Intensität vertreten konnte. Die Rolle klebte nicht auf mir, sondern ich machte etwas ganz Fremdes aus ihr." Die Zusammenarbeit mit Peymann war indes nicht ungetrübt: Als Peymann 1975 Friedrich Schillers "Räuber" inszenierte, kam es zwischen Gert Voss, der den Karl Moor spielte, und seinem Regisseur fast zum Bruch. Peymann sah keine andere Möglichkeit, sich der Konfrontation zu entledigen, als Gert Voss über mehrere Jahre hinweg in seinen Inszenierungen nur in kleinen Rollen zu besetzen. Jahre, die er wiederum sehr gut für sich zu nutzen verstand: Durch das fantasievolle Studium der kleinen Figuren schuf er sich das Fundament für den Reichtum seiner Schauspielkunst. Und: Er konnte mit anderen Regisseuren wie Valentin Jeker, Niels-Peter

Rudolph, B. K. Tragelehn und

Matthias Langhoff arbeiten.

Seinen ganz großen Durchbruch feierte er 1982 in Bochum mit dem Hermann in Heinrich von Kleists "Die Hermannsschlacht" - in der Inszenierung von Claus Peymann - "eine der schönsten Arbeiten, die ich mit ihm gemacht habe", sagt Gert Voss rückblickend. "An Hermann interessierte mich, was mit einem Menschen passiert, der gewalttätig wird." Dieses Interesse hat ihn bis heute nicht losgelassen - mehrmals verkörperte er Massenmörder und Getriebene, wie beispielsweise Richard III., mit dem er 1987, gemeinsam mit Peymann, seine Wiener Jahre eröffnete.

Legendär sind seitdem seine Figuren wie beispielsweise der Ludwig in Thomas Bernhards "Ritter, Dene, Voss"; seine Darstellung des Shylock im "Kaufmann von Venedig"; "Othello" und sein Hamm in Samuel Becketts "Endspiel" sowie der Figaro in der Festwochen-Produktion von "Figaro lässt sich scheiden". Geglückt ist damit auch die Zusammenarbeit mit Regiegrößen wie Luc Bondy, Peter Zadek und George Tabori, in dessen Stücken wie zum Beispiel den "Goldberg-Variationen" oder "Die Ballade vom Wiener Schnitzel" er ebenfalls brillierte.

Für seine hinreißenden Darstellungen wurde Gert Voss - seit 1998 Kammerschauspieler - bereits sechsmal zum "Schauspieler des Jahres" gewählt, letztes Jahr erhielt der bereits mit der Kainz-Medaille und dem Fritz-Kortner-Preis Ausgezeichnete den Wiener Nestroy- Preis.

"Der Jude von Malta"

Seinen verführerischen "Schurkengestalten" bleibt er auch in der neuesten Burgtheater-Produktion treu. Seine nächste Premiere wird er in der Titelrolle des unversöhnlichen Juden Barabas in Christopher Marlowes "Der Jude von Malta" durchleben. Das selten aufgeführte Spiel um Machtpolitik und die Folgen von Rache und Hass auf der Johanniterinsel Malta (1565) ist in einer neuen Übersetzung von Elfriede Jelinek und Karin Rausch, inszeniert von Peter Zadek, zu sehen. Ein zweiter, früherer Shylock, nach dem Entstehungsdatum zu schließen? Nein, sagt Gert Voss über seine Rolle: "Für mich fängt dieses Stück dort an, wo der Kaufmann von Venedig aufhört. Shylock wird gedemütigt und geht weg. In Zadeks Burgtheater-Inszenierung 1988 geht er nicht als Opfer, sondern er wird als Täter wiederkommen. Barabas erleben wir zu Beginn des Stücks in derselben Situation wie Shylock: Er wird entrechtet und seine gesamte Habe wird ihm weggenommen. Shakespeare hat Shylock mit einer gewissen Geduld ausgestattet. Nur durch unsere Interpretation machen wir ihn zum Täter. Der Blickpunkt Marlowes ist da viel radikaler. Sein Jude will nicht mehr dulden. Er wird so sehr entrechtet, dass ihm zum Überleben nur zwei Möglichkeiten bleiben: entweder wie seine Ahnen Opfer zu bleiben oder zum Täter zu werden. Seine Brüder raten ihm, sich dem Unrecht mit der Geduld des Hiob zu beugen. Aber Barabas rebelliert und versucht, sich sein Recht zu verschaffen."

Barabas ungezügelter Rachefeldzug ist ab 14. Dezember zu sehen.

Klaus Dermutz: Die Verwandlungen des Gert Voss. Gespräche über Schauspielkunst. Herausgegeben von Klaus Bachler und Klaus Dermutz; edition burgtheater Band 2; Residenz Verlag, Salzburg, Frankfurt/Main, Wien 2001, 255 Seiten.

Freitag, 07. Dezember 2001 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 14:57:00

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