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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Ein Gespräch mit dem Germanisten Volker Klotz über das Theater, die Politik und die neuen Medien

"Hol uns raus!" rufen die Brote

Von Hermann Schlösser

W.Z.: Forschung, Hochschullehre, Theaterarbeit, Zeitung und Rundfunk - das sind die "Spielräume" Ihrer Arbeit, die Sie in Ihrem Buch "Literaturbeamter auf Lebenszeit" vorstellen. Können Sie tatsächlich auf all diesen Feldern spielen?

Klotz: Also, ich habe neben Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte auch noch Archäologie, Philosophie, Altphilologie - reichlich schlampig - studiert und habe mich sogar in anatomische Übungen geschmuggelt. Wenn man so studiert hat, dann zu Amt und Würden kommt und sich um sein Brot nicht sorgen muß, dann ist man verhältnismäßig frei. Man kann über die einzelnen Nationalliteraturen hinausgehen, was ich von Anfang an getan habe, man kann Vergleiche ziehen zur bildenden Kunst und zur Musik, und man kann schließlich auch die Studenten ein bißchen beeinflussen, damit sie sich die Themen nicht aufdrücken lassen, sondern sich selber Fragen stellen, die noch nicht abgedroschen sind. Im Märchen von der Frau Holle gehen die beiden Mädchen, die Goldmarie und die Pechmarie, hintereinander durch ein Feld. Der Baum ist voll mit Äpfeln, die rufen: Pflück uns ab! und die Brote im Backofen rufen: Hol uns raus! Und genauso bieten sich haufenweise Gegenstände der Literatur, des Theaters, der Kunst an, die überhaupt noch nicht sinnvoll traktiert worden sind. Sie schreien danach behandelt zu werden, und man muß sich nur geduldig überlegen, was die beste Methode ist, diese Brote aus dem Ofen zu holen.

W.Z.: Gut, holen wir also eines heraus. Ihr neues Buch heißt "Radikaldramatik". Was ist das?

Klotz: Zunächst bin ich bei dem Buch von dem Befund ausgegangen, daß die deutschsprachige Literatur, im europäischen Maßstab betrachtet, eine Nachzüglerliteratur ist. Vom "Grünen Heinrich" vielleicht abgesehen, kann sich der deutschsprachige Roman des 19. Jahrhunderts keinesfalls mit den großen Werken anderer Literaturen messen. Ähnliches gilt für die Lyrik. Mir fiel aber nun auf, daß bestimmte Werke, die nicht über die Bühne unter die Leute kamen, im deutschsprachigen Bereich eine ästhetische Revolution hätten auslösen können. Dies zeige ich an Kleist, Grabbe und Büchner, also an Dramatikern, die zu Lebzeiten nicht anerkannt waren. Ich habe auch Nestroy einbezogen, der zwar viel gespielt, aber von den Offiziellen nicht ernstgenommen wurde. Nun wird man Nestroy und Kleist normalerweise nicht ins gleiche Visier nehmen. Ich behaupte aber, beide haben gleichermaßen das vorweggenommen, was dann im 20. Jahrhundert auf breiter Front bei der Avantgarde betrieben wurde. Deshalb lautet der Untertitel meines Buchs "szenische Vor-Avantgarde". Und der Titel "Radikaldramatik" soll in wörtlichem Sinn verstanden werden: Hier geht es an die Wurzel des Theaters.

W.Z.: Also hat "radikal" hier keine politische, sondern ästhetische Bedeutung?

Klotz: In erster Linie ist die ästhetische Radikalität gemeint. Allerdings habe ich das Wort auch benutzt, weil es in Deutschland zum Beispiel einmal den sogenannten Radikalenerlaß gegeben hat, und das Wort mit einem Minuszeichen versehen ist. Daß ich es jetzt positiv verwende, hat also einen gewissen politischen Witz. Außerdem darf man davon ausgehen, daß Kunstwerke, die ästhetisch radikal sind, auch am status quo rütteln, der jeweils politisch gegeben ist.

W.Z.: Da klingt jetzt ein großes Thema der Literaturwissenschaft an, nämlich der Zusammenhang zwischen Kunst und Politik. Vor zehn, zwanzig Jahren haben sich linke Wissenschaftler darüber sehr engagiert Gedanken gemacht, während es heute wohl eher zum guten Stil gehört, politische Fragestellung zu vermeiden. Wie kam es zu dieser Veränderung?

Klotz: Meine nachträglich boshafte Vermutung ist, daß viele in den sechziger und frühen siebziger Jahren nur ein psychisches Abreaktionsbedürfnis mit politischen Inhalten besetzt haben. Man kann das ja an der Entwicklung der Linken in Deutschland beobachten: Da gabs dann auf einmal eine Freß-Fraktion und eine Esoteriker-Fraktion, und mehr ist nicht übrig geblieben. Ich selber bin nach wie vor geprägt von der sogenannten 68er Zeit und für mich sind die politischen Fragen nie erledigt gewesen. Mir scheint es seit der sogenannten Wende des Jahres 1989 dringender denn je, darüber nachzudenken, ob das vorläufig triumphierende kapitalistische System das einzig wahre sei. Ich bin der Meinung, daß es das schlimmste aller denkbaren Systeme ist, und daß wir heute erst recht sehen müssen, wieso wir zu solch hohen Arbeitslosenzahlen kommen, und warum all jene, die noch Arbeit haben, durch die gesamtgesellschaftliche Entwicklung zu Kunden geschrumpft werden. Auf Politisierung zu verzichten, ist töricht, ist eine Art von Selbstkastration.

W.Z.: Vielleicht ruft die derzeitige Situation bei den Linken auch eine gewisse Hilflosigkeit hervor, weil die sozialistischen Gesellschaften durch eigenes Verschulden zugrundegegangen sind, eine glaubwürdige Alternative also nicht mehr recht zu erkennen ist?

Klotz: Aber: das Wort "Utopie" bezeichnet seit der Antike den Nirgendwo-Ort. In der Utopie wird deutlich gemacht, was man haben möchte anstelle des Negativen, das man hat. Selbstverständlich malt man dann das Positive zuerst einmal übertreibend aus, damit überhaupt auffällt, wo man hinzielen könnte. Daß die nicht auf Utopia sich bewegenden realsozialistischen Systeme außerordentlich viel Pfusch und Bruch produziert haben, steht außer Frage. Nur kann ich nicht verstehen, warum dies die Alternative zum kapitalistischen System ein für allemal desavouiert hätte. Das wäre genauso, wie wenn jemand sagen würde, wir schaffen alle Gasherde ab, weil es Leute gibt, die sich damit umbringen. Das Prinzip des Sozialismus scheint mir, solange ich nichts anderes sehe, das einzige, das uns von der Selbstzerstörung durch den Kapitalismus abbringen könnte. Es ist eben nur zu überlegen, wie sich die Fehler vermeiden lassen, die bei den bisherigen Realisierungen gemacht worden sind. Aber das sind jetzt alles Dinge, die ich nicht unbedingt als Literaturwissenschafter sage, sondern als zoon politikon.

W.Z.: Wir können den Bogen zur Literatur leicht zurückschlagen. Sie hat ja im Laufe ihrer Geschichte immer auch utopische Funktionen übernommen, und sie tut dies vielleicht einmal wieder. Obwohl es im Augenblick nicht danach aussieht.

Klotz: Es sieht auch deshalb nicht danach aus, weil wir zur Zeit leben, als seien wir ohne Geschichte. In der Arbeiterbewegung zum Beispiel gab es das Grundprinzip, daß man nicht alleine etwas schaffen kann, sondern nur mit vielen. Wenn das nicht gegolten hätte, hätten wir heute noch Kinderarbeit in den Bergwerken. Inzwischen aber lassen sich die Arbeitslosen je und je vereinzeln. Sie übernehmen die Argumente derer, die ihnen die Existenz abschneiden und schämen sich sogar. Insofern gibt es keine Massen mehr, die man zur Veränderung benötigen würde. Sie sind zwar vorhanden, aber zerstreut und ohne Einsicht in die eigene - mögliche - Macht als Kollektiv.

W.Z.: Und könnte da die Kunst aufrütteln oder Menschen wieder zusammenführen?

Klotz: Es hat solche Versuche ja gegeben, im Agitprop oder in den hochinteressanten Theaterstücken der frühen Sowjetunion von Majakowski. Aber die haben immer nur einen relativ kleinen Prozentsatz der Bevölkerung erreicht. Ich glaube nicht, daß die Literatur, oder wir Literaturwissenschaftler als Ministranten, bzw. Zuhälter der Literatur, die Massen irgend direkt erreichen können. Es wäre wunderschön, wenn es ginge, und zwar nicht nur wegen der Politisierung, sondern auch der Faszination von Literatur zuliebe - und damit die Leute merken, daß es mehr und anderes gibt als Fernsehen.

W.Z.: Das Fernsehen gehört nun nicht zu den Spielräumen, die Sie sich erarbeitet haben, ebenso wenig wie Kino, Video oder Internet und CD-Rom. Dies aber sind die eigentlichen Medien für den, der heute die breite Bevölkerung ansprechen will. Vielleicht müßte man es ernsthaft mit der Unterhaltungselektronik versuchen?

Klotz: Nein und ja und nein. Zweifellos erreichen Film und Fernsehen riesige Massen. Auf der anderen Seite aber ist die Frage, ob dies in einer Form geschieht, die aufklärerische Wirkungen überhaupt erzielen könnte. Ich habe eher den Eindruck, daß man die Literatur und das Theater derzeit vor den elektronischen Medien retten müßte. Viele Regisseure glauben heute, sie seien von vorgestern, wenn sie in ihren Inszenierungen keine Verfahren verwenden, die sie von der Video-Ästhetik übernomen haben. Mein Vorwurf ist auch in dem Buch, von dem wir ausgegangen sind, daß die Theater eigentlich drauf und dran sind, sich selbst zu verstümmeln, ohne es recht zu merken. Die Praktiker selbst kapieren oft das Lebendigkeitsmoment des Theaters nicht. Auf der Bühne stehen Menschen und bringen aus dem Nichts eine theatralische Handlung hervor. Das ist etwas anderes, als wenn ich eine Konserve sehe, die irgendwo schon längst produziert worden ist, und jetzt nur über den Fernsehschirm oder die Filmleinwand reproduziert wird. Im Theater sehe ich Menschen, die aus eigenen Kräften agieren, im Konzertsaal höre ich Musiker, die ohne Verstärker oder andere Manipulationen etwas vorspielen. Das sind Vorgänge, die an vitale Kräfte erinnern, die in jedem von uns stecken, und sie sind auch keineswegs veraltet.

W.Z.: Aber man kann doch auch mit den Massenmedien mehr oder weniger sinnvoll umgehen, und vielleicht wird die junge Generation, die mit Video und Computerspielen aufwächst, einmal einen durchaus vernünftigen Gebrauch von diesen Medien machen.

Klotz: Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Denn diese Generation ist ja nicht aus eigenem Entschluß dazu gekommen, sich selbst einen Computer oder ein Internet zu basteln. Sie ist in dieses Milieu gesteckt worden, ob sie wollte oder nicht, weil ihre Eltern solvent genug waren, Computer anzuschaffen. Trotzdem möchte ich mit meinen Angriffen auf die Allmacht der Elektronik auch kein kulturpessimistisches Gejaule anstimmen. Ich bin ausgesprochen fortschrittsgläubig. Doch ist die Menschheit bisher nur dann zu komplizierteren Verfahren gekommen, wenn das Bedürfnis bestand, eine bestimmte Aufgabe zu lösen. Die Treppe, die Leiter, das Rad oder die Dampfmaschine sind erfunden worden, weil ein Bedarf bestand, weil gewisse Probleme (wie das Brot im Ofen) danach geschrien haben, gelöst zu werden. Aber ich sehe nicht, welche Notlage dazu gezwungen hätte, den Computer zu erfinden. Und bevor sich jetzt alle Intellektuellen, die keinen Computer haben, als Ewigvorgestrige fühlen, sollten sie doch noch einmal ernsthaft überlegen, was wirklich notwendig ist. Die Frage darf nicht heißen: Ich habe das Gerät, und was mache ich jetzt damit? Sondern: Gibt es eine nachweislich wichtige Aufgabe, die nur mit diesem Gerät gelöst werden kann? Würde man jedesmal so ernsthaft fragen, dann würde man auch wieder etwas politischer werden. Doch wird das die Öffentlichkeit nicht akzeptieren, weil sie völlig auf die neuen Technologien eingeschworen ist.

W.Z.: Aber wie kann man denn resistent werden gegen diesen Trend? Durch die Beschäftigung mit älterer Literatur?

Klotz: Ja, schon. Es darf aber nicht so gehen wie bei den braven Lehrern unserer Gymnasiumszeit. Für die war das Alte schon ein Wert an sich, und deshalb haben sie uns mit dem "Wilhelm Tell" gemartert, bis einem alle Lust vergangen ist. Man muß auch bei der alten Literatur nachweisen, daß sie einen ästhetischen Gebrauchswert hat, der durch nichts anderes ersetzt werden kann. Wenn ich die "Odyssee" lese oder Ariosts "Rasenden Roland", wenn ich ein Stück von Shakespeare oder Lope de Vega auf die Bühne bringe, dann erfahre ich etwas über unsere eigene Lage und werde zugleich aufmerksam gemacht auf die Reize der Welt. Denn die Welt ist ja schön. Wo sie häßlich ist, haben wir sie dazu gemacht.

Also ich denke, daß man bei der alten Literatur genauso von der Marxschen Kategorie des Gebrauchswerts ausgehen kann wie bei den Gegenwartsphänomenen: In welcher Lage brauche ich den "Don Quijote", in welcher Lage brauche ich das Internet? Wenn ich so frage, dann gewinne ich auch ein unverkrampfteres Verhältnis zu der sogenannten "klassischen" Literatur.

W.Z.: Aus all dem ergibt sich eigentlich von selbst, daß das Buch "Radikaldramatik" nicht nur das germanistische Fachpublikum ansprechen soll...

Klotz: Die Wollust, als Germanist in der Fußnote eines anderen Germanisten zu erscheinen, habe ich nie recht teilen können. Auch mit dem Buch "Radikaldramatik" möchte ich Lehrer, Schüler und Theatergänger dazu bringen, dramatische Texte mit anderen Augen anzusehen. Denn in den Texten steht ja das, was sich auf der Bühne dann verkörpern wird. Deswegen habe ich in der letzten Zeit in Stuttgart mehrere Vorlesungen mit Schauspielern zusammen gemacht. Sie haben Szenen gelesen, die ich dann besprochen, analysiert, interpretiert habe. Und das hat Studenten ebenso erreicht wie das normale bildungsbürgerliche Theaterpublikum. Auch auf Lesereisen habe ich das Buch vorgestellt, und zwar immer in Theatern, wo ich dann zusammen mit den Schauspielern Matineen gemacht habe. Also mir ist sehr wichtig, mit meinen Büchern in etwas breitere Kreise hineinzuwirken. Warum sollten nicht alle, die sich für ästhetische Gegenstände interessieren, dahinterkommen, wie etwas gemacht ist?

W.Z.: Das wäre auch eine Hilfe gegen die reine Konsumhaltung, die zur Zeit wieder sehr beliebt zu sein scheint. Treffen Sie bei Ihren Vorträgen auch auf Leute, die sagen: Ich will gar nicht wissen, wie etwas gemacht wird, ich will nur genießen?

Klotz: Diese Leute gibt es schon unter Studenten, die Literaturwissenschaft studieren. Viele mögen es zum Beispiel gar nicht, wenn Seminare über Lyrik angeboten werden. Das empfinden sie so, als wollte man einem Schmetterling die Flügel ausreißen. Aber da ist ihnen halt klarzumachen und vorzumachen, daß der Genuß an der Kunst höher wird, wenn ich durchschaue, wie sie gemacht ist. Wir haben an den Schulen und Universitäten leider verlernt, daß auch das Lernen Vergnügen machen kann. Umso mehr müssen wir als Lehrer zeigen, daß es auch eine Wollust der Erkenntnis gibt.

Mittwoch, 20. Mai 1998 16:21:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 16:56:00

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