Wiener Zeitung Neu in der Linkmap:
 
  Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Das Unternehmen Benutzer-Hilfe
 Politik  Europa  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon Interview  Glossen  Bücher  Musik  Debatten 
Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Flanieren im Österreichischen Theatermuseum

Zwischen Bühnen und Vitrinen . . .

Von Birgit Schwaner

Gehen, gehen und schauen. Flanieren: nennt man (spätestens seit Walter Benjamins Baudelaire-Buch) dieses Umherstreifen in der Großstadt, wo der Blick der Gehenden
kurz mit einem Gesicht, einem Ding verschmilzt, sich einfühlt wie im Rausch und wieder löst,

angezogen von der nächsten Sensation, von der übernächsten und weiter . . .

Ad infinitum tauchen neue Objekte unbedingter, doch · im Gehen · flatterhafter Aufmerksamkeit aus der Masse des Wahrnehmbaren auf und verschwinden. Flaneur, Flaneurin lassen sich faszinieren ·
und bleiben distanziert: es ist der Wechsel der Bilder, an dem sie ihre Gedanken entzünden, dem entlang sie sie weiterfolgen . . . Die Wirklichkeit wird ein Stückweit beliebiger, d. h. weniger ernst
und weniger gespürt.

So ist es nur konsequent, einmal das Theatermuseum zu besuchen. Das Haus der inszenierten Welt · das sich seit 1991 in einem traditionsreichen, bald 310 Jahre alten Barockpalais im ersten Wiener
Bezirk befindet, Lobkowitzplatz Nr. 2. Wo manchmal kurz nach dem Eingang, wie ein freundlicher Zufall, ein aufmerksamer, am hellblauen Hemd identifizierbarer Museumsaufseher steht und die vier
Wege/Ausstellungen erläutert, die Besucher wählen können.

Besucher und Flaneure: denn anders als flanierend lässt sich auch hier die Vielfalt des Gezeigten nicht begreifen. Jedenfalls nicht an einem Tag. Wer sich im Erdgeschoss, gegenüber der Portiersloge,
nach rechts wendet, betritt ein modernes Stiegenhaus, in dem Kisten lagern · verschoben, übereinander gestapelt zu einem Turm, der aus dem Hades in die Wolken reichen könnte. Via Keller erblickt man
Schließfächer an der Wand, halb offen, geschlossen, rotlackierte Metalltüren: triste bis gleichgültige Reminiszenzen an Bahnhöfe, eilige Abfahrten, verzögerte Aufenthalte, Exil.

Die Stille des Halbnarren

Hiermit beginnt die Ausstellung „Vaclav Havel 1976 bis 1989". Herbert Kapplmüller und seine Studenten vom Salzburger Mozarteum haben die Räume gestaltet, der Journalist Hans Haider die
„Erinnerungs-

stücke" zusammengestellt, die aus den Jahren stammen, in denen die absurden Stücke des mehrmals inhaftierten, staatskritischen, tschechischen Dichters und „Sprechers" des Menschenrechts-Manifests
„Charta 77" nur im Westen gespielt werden konnten. Havel · der 1989, nach Zusammenbruch des kommunistischen Osteuropa, zum Präsidenten der CSFR gewählt wurde · hatte das Wiener Burgtheater (der Ära
Benning) sein „Muttertheater" genannt: gerade hier wurden seine vor den Eisernen Vorhang geschmuggelten Manuskripte gerne angenommen und aufgeführt. „Der Kistenturm erinnert an den Transport der
Stücke in den Westen", erklärt Frau Dr. Lesak, Ausstellungsorganisatorin vor Ort, und fügt an, dass es das erste Mal ist, dass ein Bühnenbildner (der am Burgtheater viele Havel-Stücke ausgestattet
hat) die Räume gestaltet.

Oder inszeniert, kostümiert? · das fragt man sich automatisch, im Theatermuseum. Wo nicht nur das Theater als formal konzentrierte Mimikry, Muster des Lebens erscheint und die Arbeit und Lust am In-
Szene-Setzen eines Schauspiels erahnbar wird. Sondern wo sich, wie jetzt, zwischen Bühnenbildmodellen, Manuskripten, Videos, Fotos u. a., manchmal die politische Dimension zeigt, die Theater und
Literatur (als Form freier Meinungsäußerung) erhalten · wenn „man" sie verbietet. Deutlich und unprätentiös erschütternd Auskunft gibt etwa ein Brief Havels an seine Frau Olga, geschrieben im April
1982 aus dem Gefängnis in Pilsen. Havel, den man Ende Mai 1979 wegen „Durchführung staatsfeindlicher Aktivitäten" zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt hatte, schildert den Protagonisten eines
Romans von Saul Bellow, einen Philosophen, der „alles gelesen" hat, über alles schreiben darf und dem vor dieser Freiheit graust: „Ihm fehlt offenbar das, was uns nicht fehlt, dass nämlich das
Wort ein so großes Gewicht hat, dass man dafür tatsächlich ziemlich schwer bezahlen muss . . . Man kann das Wort also eigentlich auf zweierlei Weise zum Schweigen bringen: entweder wird ihm ein
solches Gewicht gegeben, dass niemand es wagt, es auszusprechen, oder es wird ihm umgekehrt alles Gewicht genommen, und in Luft verwandelt. Der sich ergebende Effekt ist in beiden Fällen die Stille ·
die Stille des Halbnarren, der ständig an alle Autoritäten der Welt Appelle schreibt . . .".

Der Brief liegt jetzt in der Vitrine eines Raumes, dessen Wände, in Anspielung an das Burgtheater, Mäander schmücken. Weitergehend kommt man schließlich zur Attrappe einer Dachbodenkammer, mit
doppeltem Boden: eine Schräge aus Holzbrettern, auf der Manuskripte herumliegen, Koffer, Geschirr, zerknüllte Zeitungen. Es zieht, denn seitlich steht die Tür offen, zwar nur einen Spalt, doch genug,
für Beobachter. Es sieht aus, als gäbe es manchmal wenig Unterschied zwischen den Kulissen des Theaters und denen der Wirklichkeit. Absurd entwickelt sich die Handlung oft vor beiden. (Schlimm,
gegebenfalls, nur vor zweiteren.)

Die hausinterne Gegenwelt zum windschiefen Dachboden heißt Eroica-Saal und liegt ein Stockwerk

höher. Prunkvolle Deckenfresken schmücken den 1729 entstandenen Saal, in dem vor 195 Jahren Fürst Maximilian von Lobkowitz, einer der Mäzene Beethovens, mehrere Probeaufführungen von dessen Dritter
Symphonie veranstaltete. Der Raum, der noch heute für Konzerte genutzt (und für Bankette o. ä. vermietet) wird, verweist eher auf die andere · die affirmative · Seite der Kunst. Auf die Tradition des
Auftraggeber-, bzw. Herrscher-Lobs mittels Kunst, die z. B. im Barock florierte, heute aber ernsthaft nur ironisch aufgegriffen und gebrochen werden kann.

Deshalb: jetzt wieder hinunter, ins Parterre, wo anschließend an Václav Havel die zugleich monumentalen und grotesken Gemälde, Grafiken und Plastiken von Karl Anton Wolf düstere, real-surreale
Szenerien vorführen. Mensch und Maschine scheinen hier untrennbar miteinander verwachsen. „Eigene Kriegserfahrungen, die klerikale Verlogenheit seiner Heimat, der Postfaschismus: diese drei
Aspekte vor allem bleiben für Wolf Humus seines Schaffens bis zum Schluss", heißt es im Flugblatt zur Austellung des zu Unrecht wenig bekannten österreichischen Malers, Bildhauers und
Schriftstellers, der vor zehn Jahren in seinem Geburtsort Wien starb. Seine Arbeiten, heißt es, erinnerten an Jean Dubuffet, eine Figurengruppe an Oskar Schlemmers „Triadisches Ballett". Was
die Schwere der Formen angeht, wäre man manchmal fast versucht, eine Verbindung zum österreichischen Bildhauer Fritz Wotruba herzustellen (dessen Bühnenbildskizzen und Modellen ein Raum der
sehenswerten, zum Museum gehörigen „Gedenkräume" in der Hanuschgasse gewidmet ist.) Wie überall im Haus trifft man in Wolfs Arbeiten auf die Figur des Narren. Auf einem Schriftblatt zum Drehbuch
„Parabel" (auch der Ausstellungstitel) steht: „Am Anfang war Nichts / am Ende war der Narr" · der Narr als die Figur, der Leben und Theater deckungsgleich sind, wodurch er, in der
Verrückung, wahrhaftiger wird als alle anderen.

Darum jetzt wieder die Stiege hinauf und nach rechts: vor der · frei zugänglichen, mehrere Raritäten beherbergenden · Bibliothek, in den zwei Räumen des berühmten Jugendstil-Puppenbauers Richard
Teschner hat der Narr keine Augen. Ihm fällt die Welt in leere Blicklöcher, durch den hohlen Kopf: innen ist außen und umgekehrt · das Gesicht: eine Maske dazwischen . . . Der dünne, langbeinige und
langnasige Harlekin, eine Stabpuppe, stammt aus Teschners Spiel „Die Lebensuhr" (1935). Sie ist nur eine Gestalt inmitten eines zaubrischen Universums seltsam berückender, stiller Wesen, die
eben bis zur nächsten Aufführung hinter dem Glas der Vitrinenschränke zu warten scheinen: Rokoko-Figuren oder ein Schamanenbaum, an dem Köpfe hängen, ein Radioredner, ein menschenähnliches Insekt
namens Zipizip (Vorgriff auf sämtliche Aliens) · um nur einige dieser Schätze Teschner'scher Fantasie zu nennen und dabei viel zu schnell an den Plakaten, Radierungen und bildnerischen Arbeiten
vorüberzugehen, auch an der kleinen Alabaster-Buchstütze, die den Kopf eines grünhaarigen Fauns trägt . . .

Das Leichte, Luftige

Denn es gibt noch mindestens einen Weg. Er führt durch die Johann-Strauß(Sohn)-Ausstellung „Wiener Blut": Dunkelrot oder mitternachtsblau präsentieren sich die Räume: mit Kostümen,
historischen Bühnenbildmodellen, Requisiten, Theaterzetteln, Autographen, Plakaten, Künstlerpostkarten (sehr beliebt: die Damen in Hosenrollen · sie zeigten mehr Bein) . . . in einer Auswahl, die
auch das kommerzielle Unternehmen Operette · von der „Fledermaus" bis „Wiener Blut" · transparenter macht und versucht, die Möglichkeiten und den Erfolg des inszenierten, schmerzlosen
Rollenspiels, der massenwirksamen Verklärung ins Leichte, Luftige, zu hinterfragen. Mitten im Raum des „Zigeunerbarons" steht z. B. ein fettes Kunststoffschwein auf einem Holzwägelchen. In
einer dunklen Ecke daneben das Kostüm eines ungarischen Magnaten, nerzverbrämter, blutroter Samt, und Brokat, die Knöpfe türkis- und perlmuttverziert (getragen wohl zur Krönung von Kaiser Franz
Joseph, Kaiserin Elisabeth).

Symbolisch betrachtet, korrigiert das drastische Schwein den Eindruck des blendenden Kostüms. Es hängt ja eins vom anderen ab: Der Glanz vom Geld und das nicht gerade von altruistischem/moralisch
einwandfreiem Geschäftsgebaren · weshalb der Glanz (zum Ausblenden, Kaschieren) benötigt wird, und das kostet wiederum Geld. Was ex negativo das Beispiel des früheren Hausherrn und Namenspatrons
illustriert: seine begeisterte Liebe zur Musik, zum Theater, zu Kunst und rauschenden Festen haben Fürst Maximilian von Lobkowitz in den finanziellen Ruin getrieben.

Im Flanieren kann es passieren, dass die Faszination der Kostüme zur Frage nach deren Wirkung führt, nach einer Weile vielleicht lautet: Welche Rolle spielt das richtige Kostüm im Leben? Welche
Haltung und Hülle muss man anlegen, um andere zu beeindrucken · bzw. wie sehr muss ein Mensch andere beeindrucken, damit sie ihn respektieren?

Und die Treppe führt jetzt nach oben, zu einer optischen Antwort · in Form eines würdevollen „Boris Godunow"-Kostüms. Ein Blick darauf und die Antwort beruhigt: offensichtlich braucht man nicht
unbedingt die Echtheit der Edelsteine, des Goldes. Sondern eine passende, Standfestigkeit suggerierende Haltung · dazu das richtige Licht.

Boris Gudonow, körperlos, steht vor den Räumen der Museumsverwaltung, in der letzten Etage. Rundum einige Vitrinen mit Bühnenschuhen · unter ihnen die rosaseidenen, schmalen Stiefeletten, die Adele
Sandrock 1898 in Schnitzlers „Heimat" trug . . . und es geht weiter.

„Die Sammlung des Theatermuseum umfaßt etwa zwei Millionen Stücke", sagt Helga Dostal, Direktorin über diese weltweit größte Theaterkollektion und Chefin der 38 Personen, die für das Museum
arbeiten. Ein Teil der Objekte ist aus Platzgründen außerhalb untergebracht · etwa in Lagerhäusern am Alberner Hafen · anderes wird auf dem Dachboden, im Keller oder in der Hanuschgasse aufgehoben,
bei den zum Museum gehörigen „Gedenkräumen". Wie viele der großen Museen Wiens hat das Theatermuseum Platzprobleme. Man reflektiert auf einen dreistöckigen Tiefspeicher · ist aber erst in der
Planungsphase. „Zuerst dachte ich an einen Dachbodenausbau", sagt die Direktorin, „aber wissen Sie, es ist einer der wenigen, noch erhaltenen, barocken Dachböden . . ."

Eine schmale Wendeltreppe geht's hinauf, die Metalltür warnt vorm Hantieren mit offenem Feuer, und dann stehen wir inmitten des jetzt denkmalgeschützten Dachgestühls. Vor uns ein paar abgelegte
Büromöbel, es riecht nach Trockenheit, ein wenig staubig. Die folgenden Räume sind angefüllt mit Theaterutensilien: in rollbaren Archivschränken liegen Lorbeerkränze, Schwerter aus Plastik, Gläser,
Figuren, Bühnenbildmodelle . . . und Kostüme, im Gang, in den Räumen, dazu der Geruch von Mottenpulver. Der beigefarbene Torso einer Kleiderpuppe, dem Schneidernadeln in der Kehle stecken und daneben
ein Kleinod, auf der Stange: Kostüme, die Picasso 1956 für die Staatsoper entwarf. Es folgt das Bilderdepot . . .

Erneuern und Variieren

Ein Teil dessen, was derzeit noch auf dem Dachboden und anderswo lagert, wird schon in einem halben Jahr ein Stockwerk tiefer zu besichtigen sein, genauer ab dem 24. Februar 2000, wenn das
Theatermuseum · erneuert und variiert · wiedereröffnet wird. Im Dezember, Jänner und Februar soll hinter geschlossenen Türen aus dem riesigen Fundus eine Dauerausstellung eingerichtet werden. Helga
Dostal verspricht: „Es wird keine Aneinanderreihung der Theatergeschichte werden" und macht neugierig mit dem Hinweis, dass „historische Aspekte natürlich eine Rolle spielen, aber auch der
Bezug zur Gegenwart. Das Theater existiert ja nur in seiner Zeit". Als ein mögliches historisches Thema nennt sie etwa die großartigst inszenierten, höfischen Veranstaltungen des Barock. Wer weiß,
vielleicht besitzt bis dahin das Theater-Welt-Museum endlich eine Klimaanlage? Den vielen wertvollen Büchern und Objekten, die von Pilz- und Schimmelbefall bedroht sind, wär's zu wünschen; natürlich
auch denen, die eben die (bis ins 15. Jahrhundert zurückreichende) Sammlung auf EDV zu erfassen oder, spät genug, ihre Geschichte zu recherchieren. Die weitergehen möge, am besten so, daß die
„Überführung" in die Privatisierung nicht zu Lasten der Inszenierungsfreiheit geht. Schon zur Erhaltung der Entdeckungsfreude des Flaneurs, der Flaneurin . . .

Alle vier Ausstellungen sind noch bis zum 28. November im Österreichischen Theatermuseum, Lobkowitzplatz 2, Wien 1010, zu besichtigen. Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr,
Mittwoch bis 21 Uhr. Tel. 512 88 00·0; Fax. 512 88 00·45, E-Mail: info@theatermuseum.at

Mittwoch, 10. September 1997 11:30:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 16:47:00

Lexikon



Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum · AGB