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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Im Canyon Diablo, Arizona, hat ein Weltallbote heftig eingeschlagen

Das Meteoriten-Loch

Bote aus dem Weltall: ein Meteorit, gefunden im Canyon Diablo.

Bote aus dem Weltall: ein Meteorit, gefunden im Canyon Diablo.

Ein seltsames, 1200 Meter breites Loch mitten in Arizona: der Barringer-Krater im Canyon Diablo.

Ein seltsames, 1200 Meter breites Loch mitten in Arizona: der Barringer-Krater im Canyon Diablo.

Von Christian Pinter (Text und Fotos)

Im Jahr 1871 stößt ein Armeekundschafter 60 km östlich von Flagstaff auf ein seltsames, 1.200 m breites Loch mitten in Arizonas Wüstenlandschaft. Umkränzt wird es von einem bis zu 60 m hohen Ringwall. Wenige Kilometer westlich schneidet das "Teufelstal" durchs Colorado-Plateau. Hier, am Canyon Diablo, klaubt ein Schäfer 1886 vermeintliches Silber auf, das später für Nickel gehalten wird. In Philadelphia mustert schließlich der renommierte Mineralienhändler Albert E. Foote die Proben und stellt fest: Es sind Eisenmeteorite, "Sendboten" aus dem All.

Grove Karl Gilbert ist seiner Zeit weit voraus. Bereits 1892 macht der Chefwissenschaftler des U.S. Geological Survey die Abstürze kleiner Himmelskörper für die unzähligen Narben auf der Mondoberfläche verantwortlich. Andere Forscher lehnen diese These ab – sie halten die Tausenden von Mondkratern bloß für "erloschene Vulkane".

Als Gilbert von den Meteoriten und dem Loch in Arizona erfährt, macht er sich sofort zum Lokalaugenschein auf. Ist dies das erste irdische Gegenstück zu den von ihm vermuteten Einschlagskratern auf dem Mond?

Wenn das Loch tatsächlich von einem Riesenmeteoriten verursacht wurde, sollte das eiserne Himmelsgeschoss – so glaubt Gilbert – noch im Kraterboden stecken und die mitgeführte Magnetnadel irritieren. Doch die rührt sich nicht. 1896 erklärt Gilbert das "topologische Problem" zum stummen Zeugen eines vulkanischen Prozesses. Grundwasser sei, von heißem Magma getroffen, plötzlich verdampft. Die resultierende Explosion hätte den Krater ausgesprengt. Und die Eisenmeteorite wären schon lange zuvor auf die Erde gestürzt.

Teuflischer Irrtum

In der irdischen Geologie gilt Gilbert als überragende Autorität. Ein Außenseiter aus Philadelphia jedoch lässt jeden Respekt vermissen: Der gelernte Jurist Daniel Moreau Barringer, Mitbesitzer der lukrativen Silbermine in Pearce, Arizona, hört 1902 vom Krater. Sofort sichert er sich die Schürfrechte und macht sich selbst auf Suche nach dem "vergrabenen" Himmelskörper. Dieser soll, so mutmaßt er, aus zehn Millionen Tonnen Eisen und einigen hunderttausend Tonnen Nickel bestehen. Erträumter Gewinn: 250 Millionen Dollar!

Barringer studiert die seltsam aufgerichteten Gesteinsschichten am Kraterwall. Rund um die Narbe ist die Schichtenfolge sogar "auf den Kopf gestellt". Es ist, als hätte jemand von einem Stoß Papier einzelne Blätter abgehoben und daneben wieder aufgestapelt. Barringer treibt ab 1904 Bohrung um Bohrung in den Krater. Er stößt dabei auf fein zertrümmertes Gestein – nie jedoch auf die erhoffte Eisenmasse.

Später konsultieren beunruhigte Investoren den Astronomen Forest Ray Moulton. Der kommt zu dem Schluss: Der Irrläufer müsste mit der Geschwindigkeit von zehntausenden Stundenkilometern in den Boden gefahren sein. Die gewaltige Bewegungsenergie wäre in Hitze aufgegangen, die Tatwaffe in der Gluthölle verdampft. Die Suche danach ist also sinnlos. Am 23. November 1929 erleidet Barringer einen tödlichen Herzanfall.

In den folgenden Jahren führen Meteoritenfunde die Forscher auch zum texanischen Odessa- und zum australischen Henbury-Krater. Doch ein hieb- und stichfester Beweis für die "kosmische Entstehung" all dieser Strukturen fehlt immer noch.

In der Wüste Nevadas haben US-Atombombentests mittlerweile ebenfalls Narben hinterlassen. Dem Geologiestudenten Eugene Shoemaker fallen Ähnlichkeiten mit dem Krater in Arizona auf. In dessen Sandstein weist er gemeinsam mit Edward Chao ab 1960 die exotischen Minerale Coesit und Stishovit nach. Die beiden Quarz-Modifikationen wurden bis dahin nur im Labor erzeugt – bei extrem hohem Druck. Vulkanische Prozesse reichen dafür nicht aus.

Damit ist diese Struktur, mittlerweile auch "Arizona-" oder "Meteor-Krater" genannt, endgültig als Einschlagsnarbe entlarvt. Sie erhält Barringers Namen. Geologisch jung und von der Erosion kaum angegriffen, entpuppt sich der Barringer-Krater als aufschlussreiches Loch. Hier entdeckt man einige jener Indikatoren, die man später zur Identifikation von viel älteren "Sternwunden" einsetzt.

Bis vor kurzem waren die Wissenschaftler überzeugt zu wissen, was es mit dem Meteoriteneinschlag am Canyon Diablo auf sich habe. Sie sprachen von einem etwa 45 m großen Himmelsgeschoss, das mit einem Tempo von fast 20 km pro Sekunde in den Boden fuhr. Vor 50.000 Jahren, bedeckte Wald das Colorado-Plateau. Als die Faust aus dem All zuschlug, knickte eine enorme Druckwelle Bäume, als wären sie Streichhölzer. Mammuts und Bisons flogen durch die Luft. Am Einschlagspunkt selbst quetschte verheerender Druck sowohl Eisenprojektil also auch irdisches Sedimentgestein auf einen Bruchteil seines Volumens zusammen.

Die Schockwelle raste abwärts durch den roten Moenkopi-Sandstein, den gelblich hellen Kalkstein der Kaibab-Formation und schließlich durch den Coconino-Sandstein. In eben dieser Sequenz schleuderte die anschließende, explosionsartige Dekompression das Gestein fort. So kam es zur verräterischen Umkehr der Schichtenfolge. Selbst 5000 Tonnen schwere Kalksteinblöcke flogen zwei Kilometer weit.

Zurück blieb ein Loch, tief genug, um den Wiener Stephansdom darin zu versenken. Rückte man ihn ins Zentrum, lägen Stadtpark, Oper und Hofburg am Kraterwall. Die höllische Hitze schmolz das Sedimentgestein zum Teil auf. Schon 1907 entdeckte der Geologe George Merrill ein bimssteinartiges Mineral im Krater. Dieser Lechatelierit, benannt nach dem Chemiker Henri Le Chatelier, muss sich bei über 1700 Grad C aus Quarzsand gebildet haben. Fünf Jahrzehnte später stieß der Meteoritensucher Harvey Nininger noch auf grünlich-gelbes Glas. Darin eingebettet waren metallische Partikel mit hohem Nickelgehalt – gleichsam die "letzten Grüße" der verdampften Tatwaffe.

An der legendären Route 66 errichtete Nininger 1946 ein Meteoritenmuseum – mit Blick auf den Kraterwall. Er und andere Sucher sammelten mehrere tausend Eisenmeteorite mit einem Gesamtgewicht von über 30 Tonnen ein. Der größte wog 638 kg. Als man den Highway aufließ, übersiedelte Niningers Museum nach Sedona. Dort führte Glenn Huss die Arbeit seines Schwiegervaters fort und belieferte alle Welt mit Meteoriten. Das Naturhistorische Museum in Wien kaufte Huss’ zweite Privatsammlung. Deshalb trifft man heute im einzigartigen Ambiente des Meteoritensaals etliche "Außerirdische" vom Canyon Diablo an. Zudem ist eine Probe des weißen Lechatelierits ausgestellt.

Die meisten Eisenmeteorite, auch jene vom Canyon Diablo, tragen ein "Geheimnis" in sich. Sind sie einmal zersägt, präsentieren ihre angeätzten Schnittflächen ein faszinierendes Spiel einander kreuzender Lamellen. Die schmalen Balken bestehen aus der nickelarmen Legierung Kamazit. Nickelreicher Taenit hüllt sie ein.

Zurzeit kennt die Wissenschaft rund tausend verschiedene Eisenmeteorite. Anhand der genauen Zusammensetzung versucht man, sie 13 Gruppen zuzuordnen. Doch etliche passen in keine dieser Kategorien. Oft werden die Himmelseisen als Materialproben aus dem Kern von Kleinplaneten gehandelt, die bei gegenseitigen Zusammenstößen in Stücke gerissen wurden. Doch gerade die Canyon Diablo-Meteorite könnten auch nahe der Oberfläche eines solchen Himmelskörpers entstanden sein. Die zum Aufschmelzen des Gesteins nötige Energie stammte ebenfalls von einer Karambolage. Derartige Kollisionen finden im Kleinplaneten-Gürtel, also in der breiten Zone zwischen Mars und Jupiter, häufig statt.

Gebremster Höllenflug

Mittlerweile werden allerdings auch andere Entstehungsszenarien diskutiert. Selbst was den Ablauf des Arizona-Desasters betrifft, macht sich neuerdings wieder Verunsicherung breit. Im Barringer-Krater fand man verblüffend wenig Gesteinsschmelze. Diese ist aber ungewöhnlich stark mit meteoritischem Material "verunreinigt". Mögliche Erklärung: Der Einschlag setzte deutlich weniger Energie frei, als bisher angenommen. H. Jay Melosh, Universität Arizona, und Garreth Collins, London, gehen von einem 40 m großen, anfangs 300.000 Tonnen schweren Eisenkörper aus. Karambolagen mit anderen Kleinplaneten hatten ihn bereits geschwächt. Als sich ihm die Lufthülle der Erde in den Weg stellte, brach er entlang dieser Frakturen auseinander: erstmals 15 km über Grund. Die Bruchstücke wurden ihrer geringeren Masse wegen noch viel heftiger abgebremst und zersplitterten deshalb sofort weiter.

Es kam zu einem explosionsartigen Teilungsprozess, der gut zwei Drittel der Energie schon in der Atmosphäre abführte. Beim Einschlag des stark geschrumpften Projektils wurde daher "nur" die Zerstörungskraft von 2,5 Megatonnen TNT frei. Das ist freilich immer noch hundertmal mehr als beim Abwurf einer Atombombe.

Elisabetta Pierazzo, Tucson, und Natalya Artemieva, Moskau, meinen, dass kein Eisenprojektil unter 50 m Durchmesser den Flug durch die Lufthülle in einem Stück überlebt habe. In ihrem Modell donnert eine gerade noch 50.000 Tonnen schwere Hauptmasse in den Boden. Dort hinterlässt sie einen knapp einen Kilometer weiten Krater.

Doch was wäre, wenn am Ende der vielfachen Teilung überhaupt keine eigentliche "Hauptmasse" mehr existiert hätte? Die beiden Forscherinnen schließen auch diese Möglichkeit nicht aus. In einem solchen Fall wäre statt des Riesenprojektils nur eine Hundertschaft schmächtiger Fragmente auf die Erde gestürzt – jedes von ihnen leichter als 8.000 Tonnen. Der Trümmerregen hätte keinen einzelnen Krater produziert, sondern ein ganzes Feld von Wunden mit individuellen Durchmessern unter 300 m. Die vergleichsweise kleinen "Nadelstiche" überlappten einander. So könnten sie sich letztlich doch zu jenem weiten Einschlagskrater summiert haben, der heute als berühmtester Vertreter seiner Art auf Erden gilt.

Christian Pinter, geboren 1959, lebt als Fachautor in Wien.

Freitag, 16. Dezember 2005 17:03:21

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