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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

"Offene Sternhaufen" -die Kinderkrippen der Galaxis

Schmuckkästchen am Himmel

Von Christian Pinter

Einst lebte der kräftige Riese Atlas am Westrand des Erdkreises. Gemeinsam mit Pleione hatte er sieben Töchter: Alkyone, Asterope, Taygete, Elektra, Kelaino, Merope und Maia. Der Jäger Orion stellte den Schwestern jahrelang nach. Doch Zeus rettete die Bedrängten, verpflanzte sie ins Firmament. Seither glänzen die Plejaden im Sternbild Stier. Sie sind dort an klaren Winterabenden leicht zu erkennen.

Obwohl manche Menschen sechs, andere bis zu neun Lichtpunkte sehen, nennt man die Plejaden "Siebengestirn". Tatsächlich bringen alte Erzählungen sie besonders gern mit dieser Zahl in Verbindung. In China sah man in ihnen sieben fleißige Schwestern, in Indien das Symbol des siebenzüngigen Feuergottes Agni. In Amerika galten sie als sieben nimmersatte Söhne, die ihre Mutter in Rage brachten. Oder als eine Mutter mit Sohn und fünf Töchtern, die vor ihrem zornigen Gatten in den Himmel geflüchtet waren.

Andere Legenden erzählten von "Tänzern" oder "Tänzerinnen", "Tauben", einer "Henne mit Küken", einem "Kuckuck", der "Rassel einer Klapperschlange", einem "Leiterwagen" oder einem "Blumenstrauß". Oft diente das erste oder letzte Erscheinen der Sternengruppe im Jahreslauf als himmlischer Zeitgeber. So riet um 700

v. Chr. Hesiod den griechischen Bauern, sich bei der Terminwahl für bestimmte Feldarbeiten an den Plejaden zu orientieren.

Das Regengestirn

Nicht allzu weit links vom Siebengestirn stößt man auf eine weitere, deutlich ausgedehntere Gruppe: die Hyaden. Sie schmiegt sich an Aldebaran, den hellen, leicht rötlichen Hauptstern des Stiers. Er selbst gehört allerdings nicht zu den Hyaden. Römische Bauern sahen in diesen Lichtpünktchen Schweine, arabische Astronomen Kamele. Nordische Völker erinnerte ihre V-förmige Anordnung an den weit aufgerissenen Rachen des mächtigen Fenriswolfs, dem man sogar zutraute, Odin zu verschlingen.

Für die Griechen waren die Hyaden jene Nymphen, die einst den Gott Dionysos genährt hatten. Manchmal hielt man sie auch für weitere Töchter des Atlas, also für Halbschwestern der Plejaden: Eine Löwin zerriss ihren Bruder Hyas. Seither verzehrten sich die Hyaden vor Trauer. Gnädig wurden sie, so berichtet Ovid, ans Firmament gesetzt.

Vergil spricht ausdrücklich von den "feuchten Hyaden", und auch die alte Bezeichnung "Regengestirn" verrät es: Die Tränen flossen ungehemmt weiter, stürzten nun als Regen zur Erde. Die Griechen machten das Auftauchen der Sternengruppe für den Beginn der nassen Jahreszeit verantwortlich.

Im Krebs erahnt man noch ein anderes außergewöhnliches Himmelsobjekt: Ein Sternduo umgibt ein zartes Lichtgebilde, wie Tiere den Futtertrog. Die beiden Sterne wurden "nördliches" und "südliches Eselchen" (lateinisch: asellus borealis, asellus australis) getauft, der Schimmer zwischen ihnen "Praesepe" - die Krippe. Die himmlische Futterkrippe diente einst zur kurzfristigen Wetterprognose. Schon Federwolken reichen nämlich, um sie vor unserem Blick zu verbergen. Und solche eilen Schlechtwetterfronten gern voraus.

Unter sehr günstigen Bedingungen fallen am winterlichen Sternenzelt noch weitere vergleichbare Himmelsobjekte auf - vor allem in den Zwillingen, im Fuhrmann, im Perseus und im Großen Hund. Leider sind ihre hellsten Sterne viel schwächer als jene der Hyaden oder der Plejaden. Mit freiem Auge nehmen wir daher bloß matte, verschwommene Fleckchen wahr. Diffuse Objekte werden von Astronomen, einer alten Tradition folgend, "Nebel" genannt (nach dem lateinischen nebula, Dunst oder Wolke). Erst als Galileo Galilei ein Fernrohr zum Himmel richtete, entpuppten sich manche von ihnen als Ansammlungen lichtschwacher Sterne: unter anderem auch die Krippe im Krebs.

Charles Messier, vor allem aber Wilhelm Herschel erstellten im 18. Jahrhundert ganze Listen von Himmelsnebeln. Wie sich später herausstellte, umfassten ihre Kataloge höchst unterschiedliche Objekte - von den Resten explodierter Sterne bis hin zu fernen Galaxien. Es waren aber auch etliche Sternhaufen vom Typ der Hyaden, der Plejaden oder der Praesepe darunter. Sie stimmten Herschel nachdenklich. Er revidierte seine ursprüngliche Ansicht, wonach alle Sterne gleichmäßig, also mit einheitlichem Abstand zueinander in der Milchstraße verteilt wären. Denn in den Haufen drängten sich die Sonnen ja ganz offensichtlich eng zusammen, mussten also durch gegenseitige Anziehungskraft aneinander gebunden sein.

Zarte Lichtpünktchen

Ihre wahre Pracht entfalten Sternhaufen meist erst durch ein kleines Fernrohr. Das dunkle Bildfeld wird von einer Vielzahl zarter Lichtpünktchen erfüllt. Mancher Betrachter denkt dabei an eine von schwarzem Samt ausgekleidete Schatulle mit Diamanten. Tatsächlich taufte Wilhelm Herschels Sohn John einen Sternhaufen im Kreuz des Südens "Schmuckkästchen".

Heute nimmt man an, dass mehr als 15.000 solcher Gruppen existieren. Typischerweise teilen sich dabei jeweils Dutzende, ja Hunderte Sonnen ein Raumgebiet von 10 bis 20 Lichtjahren Durchmesser. Trotzdem lässt sich leicht zwischen den Haufenmitgliedern "hindurchblicken". Das unterscheidet die offenen Sternhaufen von den extrem kompakten Kugelsternhaufen, die aus vielen Hunderttausenden oder gar Millionen Sonnen bestehen. Kein optisches Instrument könnte die fernen Kugelhaufen gänzlich in Sterne auflösen. Sie bilden ein uraltes, sphärisches Gerüst rund um unsere linsenförmige Galaxis. Offene Haufen bevorzugen dagegen die galaktische Zentralebene. Deshalb suchen sie auch am irdischen Firmament die Nähe des matten Milchstraßenbands.

Wilhelm Herschel hielt Sonnen für geborene Einzelgänger, die sich erst im fortgeschrittenen Alter zu Haufen zusammenschließen würden. In Wahrheit ist es umgekehrt. Offene Sternhaufen sind keine "Seniorenwohnheime" - sondern vielmehr die "Kinderkrippen" der Galaxis.

In den Spiralarmen der Milchstraße treiben Molekülwolken aus Gas und Staub. Sie sind meist 50 bis 100 Lichtjahre ausgedehnt. Unter bestimmten Bedingungen verdichtet sich ein solches Gebilde. Dabei dreht es sich immer schneller und zerfällt in Teile. Die kleinsten Wolkenfragmente kollabieren. In ihrem Innersten leuchten neue Sonnen auf. Sie werden somit nicht allein, sondern in ganzen Verbänden geboren.

Zunächst betten die Reste der interstellaren Wolke den jungen Sternhaufen noch ein. Der Staub streut und reflektiert das Licht, sorgt für bizarre Schleier. 1859 entdeckte man solche Reflexionsnebel in den Plejaden. Dieser Haufen zählt mit seinen 50 bis 80 Millionen Jahren zu den allerjüngsten. Zum Vergleich: Unsere Sonne existiert seit 4,6 Jahrmilliarden.

Den 1886 in Zürich geborenen, später in den USA wirkenden Astronomen Robert Trumpler zogen die Sternhaufen regelrecht in ihren Bann. Zunächst studierte und katalogisierte er mehr als 300 von ihnen. Dann ersann er ein spezielles Schema, um sie anhand ihres Erscheinungsbilds in Klassen einzuteilen. Sein ehrgeizigstes Ziel war jedoch, deren genaue Verteilung innerhalb der Galaxis festzustellen.

Dazu benötigte Trumpler den jeweiligen Erdabstand. Er war damals nur für die Hyaden bekannt. Mit einer Distanz von bloß 150 Lichtjahren bilden sie den nächsten optisch erkennbaren Haufen. Daher erscheint uns das Regengestirn auch recht aufgelockert und ausgedehnter als die anderen, ferneren Sternengruppen. Es passt gerade noch ins Gesichtsfeld eines schwach vergrößernden Fernglases.

Der Staub als Problem

Um Trumplers Messmethoden zu verstehen, versetzen wir uns zunächst in eine strukturlose, flache Wüstenlandschaft. Wahllos hat man darin 100 Menschen verstreut. Wir möchten die Distanz eines jeden ermitteln, dürfen unseren eigenen Standort aber nicht verlassen. Der mitgebrachte Zollstock reicht gerade bis zur nächsten Person.

Kein Problem. Denn zum Glück wird ein Zeitgenosse, der zehnmal kleiner wirkt als unser Nachbar, auch etwa zehnmal so weit entfernt sein. Der scheinbare Durchmesser verrät den jeweiligen Abstand. Das klappt mit allen Testpersonen, sofern deren Körpermaße nur wenig von dem für Menschen typischen Mittelwert abweichen.

Nun bricht dunkelste Nacht herein. Jeder der Hundert entzündet eine Fackel. Unter der Annahme, dass alle Fackeln in Wahrheit ähnlich kräftig strahlen, können wir aus ihrer scheinbaren Helligkeit wiederum auf den Abstand schließen. Beide Messmethoden sollten ähnliche Resultate liefern, was unser Vertrauen in ihre Zuverlässigkeit festigt.

Plötzlich wirbelt Wüstenwind Sand auf, erfüllt die Luft mit Staub. Die scheinbare Größe unserer Testpersonen bleibt von der Trübung unbeeinflusst - doch der Schein ihrer Fackeln wirkt nun schwächer. Und zwar umso mehr, je weiter sie von uns entfernt sind: Die Ergebnisse der zwei Messverfahren divergieren immer stärker.

Auch Trumpler setzte sicherheitshalber beide Techniken ein. Einerseits steckte er die Durchmesser seiner Untersuchungsobjekte ab: Ein Haufen, der am Himmel 100-mal kleiner erschien, musste auch 100-mal weiter entfernt sein als die Hyaden. Andererseits verglich er die Helligkeiten der jeweils kräftigsten Haufensterne mit jenen des Regengestirns.

1929, also vor 75 Jahren, hatte Trumpler bereits 80 Haufen vermessen. Für jeden lagen ihm

zwei Entfernungswerte vor. In der Nähe passten diese auch gut zusammen. Doch je weiter er ins

All hinausgriff, desto auffälliger wurde die Diskrepanz. Irgendetwas schien dem Sternenlicht auf der langen Reise zur Erde den Glanz zu rauben, es alle 1.000 Lichtjahre um ein Fünftel zu schwächen. Die interstellare Absorption war entdeckt.

Trumplers Zeitgenossen hatten den Raum zwischen den Sternen noch für vollkommen transparent gehalten. Der in der Schweiz geborene Astronom füllte ihn nun mit feinem Staub aus. Dank eines recht geringen Erdabstands von 400 bzw. 600 Lichtjahren sind Plejaden und Praesepe von der staubbedingten Lichtschwächung nur wenig betroffen. Anders ist das mit M35 in den Zwillingen oder M41 im Großen Hund. Von ihnen trennen uns bereits 2.400 Lichtjahre. Rund 4.000 sind es bei M36, M37 oder M38 im Fuhrmann. Diese drei Haufen wären im Fernglas mehr als doppelt so hell - gäbe es das galaktische Staubproblem nicht.

Trumplers Erkenntnis hatte Folgen. Denn nun mussten auch andere, ältere Distanzmessungen nachträglich korrigiert werden, sofern sie auf Helligkeitsvergleichen beruhten. Sogar die Dimension unserer Galaxis galt es neu abzustecken.

Heute weisen wir der Milchstraße einen Durchmesser von über 110.000 Lichtjahren zu. Mehr als 200 Milliarden Sterne ziehen um ihr Zentrum, wobei die exakte Umlaufszeit vom jeweiligen Bahnradius abhängt. Unsere Sonne braucht dafür 240 Millionen Jahre. Sternansammlungen sind, der galaktischen Rotation wegen, nach wenigen Umläufen völlig aufgerieben. Schon deshalb muss es sich bei den offenen Sternhaufen um junge Gebilde handeln.

Tatsächlich werden die Sterngeschwister rasch flügge. Bald liegen Hunderte von Lichtjahren zwischen ihnen. Löste sich ein Haufen in

unserer unmittelbaren Nachbarschaft auf, verteilten sich seine

Mitglieder über mehrere, unterschiedliche Sternbilder. Die versprengten Sonnen zögen allerdings noch lange auf sehr ähnlichem Kurs durch das All. Die genaue Analyse ihrer Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit würde sie als Sprösslinge gleicher Herkunft entlarven.

Positiv fiel ein solcher Verwandtschaftstest z. B. für Sirius im Großen Hund, die Hauptsterne des Schlangenträgers und der Nördlichen Krone, für Beta im Fuhrmann, Delta im Löwen sowie für fünf der sieben hellen Sterne des Großen Wagens aus. Sie alle sind einst in derselben interstellaren Wolke geboren worden. Als "Sternhaufen" ist der Verband nicht mehr zu erkennen. Astronomen sprechen vom "Bärenstrom", zumal der erwähnte Himmelswagen kein offizielles Sternbild ist, sondern bloß Hinterteil und Schwanz des Großen Bären. Die prominentesten Strommitglieder ziehen in 47 bis 82 Lichtjahren Distanz an uns vorbei. Zum Sirius sind es gar nur 9 Lichtjahre. Entsprechend kräftig leuchtet er am Winterhimmel. Er scheint dabei aufgeregt zu funkeln - als müsste er die Plejaden vor ihrem künftigen Schicksal warnen.

Freitag, 23. Jänner 2004 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 12:15:00

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