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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

In der nächsten Woche verschlingt der Erdschatten den Mond

Im Rachen des Dämons

Von Christian Pinter

In der Nacht von Samstag, den 8., auf Sonntag, den 9. November 2003, mutet es an, als wären Naturgesetze außer Kraft. Der Vollmond magert wie im schnellen Rücklauf wieder ab, gerät zur schlanken Sichel; dann verschwindet auch diese. Im Sternbild Widder bleibt nur eine schwache, rot glimmende Scheibe zurück. Heute wissen wir: Der Mond wird seinen vertrauten Glanz wiedererlangen. Früher waren die Menschen da nicht so sicher. Sie bangten, böse Mächte hätten ihn für immer seiner Kraft beraubt. Die himmlische Ordnung schien in Frage gestellt - und damit auch jene auf Erden.

Der Vollmond blickt wie ein neugieriges Auge auf uns herab. Als hellstes Gestirn nach der Sonne beleuchtet er den Erdboden fast so kräftig, wie eine in Kopfhöhe gehaltene Kerze. Einst erhellte nur er die Dunkelheit der Nacht. Sein Phasenspiel diente zudem als allgemein verständliches Zeitmaß, wurde Grundlage vieler Kalendersysteme. Man sah in ihm gern ein höheres Wesen - wie etwa die Römer, deren fackeltragende Mondgöttin Luna hieß. Das plötzliche Verschwinden dieses Gestirns musste Furcht einflößen.

Mythische Himmelskämpfe

Am sibirischen Baikalsee, in China, Indien und Indonesien erzählte man in Abwandlungen Geschichten über einen Dämon namens Aracho, Rahu oder Kala Rau. Einst hatte er den Menschen fast alles Haar vom Körper gefressen oder gar an einem göttlichen Elixier genippt, das den Tod besiegte. Jedenfalls wurde die Untat von den Göttern entdeckt, der Frevler enthauptet. Der unsterblich gewordene Dämonenkopf jagt seither über den Himmel. Rachsüchtig verschluckt er Sonne oder Mond.

In der nordischen Mythologie wehrt sich der Mond gegen den Wolf Hati, ein Geschöpf des arglistigen Gottes Loki. Auch soll er im Verlauf der Götterdämmerung verschlungen werden - einer der Gründe, warum die Germanen so bestürzt reagierten: Sie feuerten den Mond in seinem Kampf gegen den Angreifer an.

Indische Legenden sahen einen gewaltigen Drachen mit schwarzen Krallen über das Himmelslicht herfallen. Ein alter Bericht beschreibt, wie sich die Flüsse bei Mondfinsternissen mit Menschen füllten: Sie suchten rituelle Reinigung. Außerdem beschworen sie den Mond, den Drachen in die Flucht zu schlagen. Armenier machten ebenfalls himmlische Drachen verantwortlich, wenn sich der Vollmond verdunkelte.

Oft schlugen Menschen voller Bangen die Trommeln oder lärmten mit eisernen Waffen, um die bösen Geister zu vertreiben. In Griechenland ertönte "das helfende Erz", wie Ovid in den Metamorphosen erwähnt. Andernorts warf man Steine gen Himmel. In Südchina soll ein überaus kräftiger Bogenschütze einmal mit seinen Pfeilen dem bedrängten Mond zu Hilfe gekommen sein. Nach Ansicht der südamerikanischen Mataguaya attackierte ein Vogel mit weit ausgebreiteten Schwingen den Mond. Nach jener der Chiriguano in Bolivien griff ihn ein zweiköpfiger Tiger an. In Wahrheit ist es aber bloß unser eigener Schatten, der dem Erdbegleiter auflauert.

Im Vakuum des Alls ist der Erdschatten nicht auszumachen. Es sein denn, Frau Luna bietet sich als Projektionswand an. Die Sonne agiert als Lichtquelle im kosmischen Schattenspiel. Weil sie kein Punkt, sondern eine ferne Kugel ist, werfen alle Gegenstände in ihrem Schein zwei Schattenformen. Tagsüber können wir dies leicht nachprüfen, z. B. an einem Lichtmast oder einem Verkehrszeichen: An den dunklen Kernschatten schließt sich beiderseits noch eine vergleichsweise schmale, hellere Halbschattenzone an. Die Dichte des Halbschattens nimmt in Richtung zum Kernschatten zu; dafür fehlt ihm eine klar erkennbare Außengrenze.

Auch der Erdschatten ist doppelt aufgebaut, erinnert an eine russische Puppe. Der Kernschattenkegel reicht bei der kommenden Finsternis fast 1,4 Millionen km ins All hinaus. In Monddistanz beträgt sein Durchmesser immerhin noch rund 9.000 km. Das ist zweieinhalbmal mehr als die Größe der Mondscheibe. An den Kernschatten schmiegt sich ein enger Halbschattenring, in den Frau Luna gerade noch hinein passt. Ihren Eintritt in den Halbschatten nehmen wir nicht wahr. Erst in den allerletzten Minuten des 8. November steckt sie tief genug darin, um eine rauchartige Trübung ihrer oberen linken Partie erkennen zu lassen.

Endlich, am 9. November kurz nach 0.32 Uhr MEZ, erreicht Luna auch den Kernschatten. Zunächst mutet es an, als hätte man der Mondgöttin nur ein schwarzes Mützchen auf die Stirn gesetzt. Doch dann rutscht ihr die dunkle Haube immer tiefer ins Gesicht. Gegen 1.15 Uhr "liegt" der Mond wie eine halbierte Wassermelone am Firmament.

Mond im Kernschatten

Auch wir, die Betrachter des Schauspiels, werfen im Schein des Mondes Schatten. Doch unsere Schatten verschwinden, während das Gestirn abmagert. Um 1.55 Uhr ist es schon fast zur Gänze im Erdschatten untergetaucht. Eigentlich sollte der verfinsterte Mondteil nun pechschwarz sein. Doch bei genauem Hinsehen glimmt dieser nach, schwach und dunkelrot.

Unser Planet blockt zwar das Sonnenlicht ab, doch durch seine Atmosphäre bricht ein wenig Licht in den Erdschatten. Der hierfür maßgebliche Luftraum befindet sich jetzt über Alaska, dem östlichen Pazifik, der antarktischen Atlantikküste, dem Indischen Ozean, Indien, China und Nordostsibirien. Bewölkung in dieser Zone kann den Prozess empfindlich stören.

Doch auch bei ungetrübtem Wetter müssen die streifend einfallenden Sonnenstrahlen einen äußerst weiten Weg durch die Lufthülle zurück legen. Ähnlich wie bei einem malerischen Mondaufgang, aber dramatischer, wird dabei das blaue Licht herausgestreut. So ist es schließlich fast nur rotes, das "hinter die Erde" gelangt und dort die drakonische Strenge des Kernschattens mildert. Der Rand des Schattenkegels bekommt etwas mehr Licht ab als das Zentrum. Sein Saum mag sogar einen leicht bläulichen Ton zeigen. Hier machen sich Sonnenstrahlen bemerkbar, die zuvor durch die Ozonschicht streiften. Ozon schluckt Rot.

Nach 2.07 Uhr steckt der gesamte Mond im Kernschatten. Im Vergleich zum Vollmond ist seine Leuchtkraft nun auf den Bruchteil eines Promilles gesunken. Die Tönung fällt meist rotbraun, ziegelrot, kupferrot oder orangerot aus. Früher dachten manche Betrachter, das verspeiste Gestirn läge jetzt im Magen des Angreifers und schimmere traurig durch dessen Körper hindurch. Anderen war die Farbe ein Indiz schwerster Verwundung. In Geschichten argentinischer Indianer fallen wildernde Hunde über den Mondmann her. Seine grauen Flecken gelten als Narben vergangener Kämpfe. Sein Rot ist frisch vergossenes Blut.

Dieser höchst eigentümliche Anblick ließ Menschen erzittern. Selbst die Apostelgeschichte führt den "Mond in Blut" als Zeichen der letzten Tage an. Auch die Apokalypse beschreibt mit dem Ausdruck "und der Mond wurde ganz wie Blut" ein ähnliches Bild. Dort taucht später noch ein feuerroter, siebenköpfiger Drache auf, dessen Schwanz ein Drittel der Sterne vom Himmel fegt.

Doch jetzt, da der gesamte Mond verfinstert ist, treten die Sterne geradezu dramatisch hervor. Noch zwei Stunden zuvor hatte greller Vollmondschein das Himmelszelt aufgehellt und merkbar bläulich eingefärbt; schwache Sternchen ertranken. Nun aber ist das Firmament, wenigstens fern der Stadt, tatsächlich schwarz und mit Lichtpunkten übersät. Wir können die Veränderung sehr gut anhand der Plejaden im Stier verfolgen. Das kleine Sterngrüppchen funkelt eine Handspanne weit oberhalb des Mondes.

Die unerwartete Sternenpracht bringt uns eine westafrikanische Sage in Erinnerung. Für die Ewe war der Mond ein Freund, in dessen Schein sie sangen, tanzten und erzählten. Einst vereinbarte er mit der Sonne, die jeweiligen Nachkommen - die Sterne - zu verspeisen. Die Sonne hielt sich daran, der Mond nicht. Seither funkeln keine Sterne mehr am Tage und die betrogene Sonne versucht, den Mond aufzufressen.

Drachenpunkte

Die Finsternismythen haben sogar Spuren in der astronomischen Fachsprache hinterlassen. Um sie zu entdecken, tauchen wir kurz in die Himmelsmechanik ein. Die Sonne zieht im Jahreslauf durch die Sternbilder des Tierkreises. Im Planetarium lassen sich Sonne und Sterne auf Wunsch gleichzeitig an die Kuppel projizieren. Am natürlichen Taghimmel fehlen uns jedoch Anhaltspunkte für den Sonnenlauf.

Der Erdschatten weist exakt von der Sonne fort. Etwas salopp gesagt, folgt er dem Sonnenweg mit einem halben Jahr "Verspätung". Würden wir die Örter beobachteter Finsternisse geduldig in eine Sternkarte eintragen, zeichneten diese schließlich den kompletten Pfad der Sonne nach. Deshalb tauften die Alten die Sonnenbahn "Ekliptik" (vgl. lat. eclipsis, Verfinsterung).

Wie die Sonne beschreibt auch der Mond einen Großkreis am Firmament. Die beiden Kreise schneiden einander in zwei Punkten, den sogenannten "Knoten". Zur Verdeutlichung stelle man sich zwei ineinander gesteckte Eheringe vor, die man ein wenig, nämlich um 5 Grad, gegeneinander kippt. Auch hier gibt es zwei Berührungspunkte. In der Astronomie spricht man vom aufsteigenden und vom absteigenden Knoten, je nachdem, ob der Mond die Ekliptik von Süd nach Nord oder von Nord nach Süd passiert. Ereignet sich eine solche Knotenpassage ausgerechnet zum Vollmondtermin, muss der Erdbegleiter durch den Erdschatten ziehen: Wir erleben eine Mondfinsternis. Vor allem die etwas ältere Literatur nennt die Knoten deshalb auch "Drachenpunkte". Der absteigende Knoten ist der Drachenschwanz, der aufsteigende der Drachenkopf. Durch diesen marschiert der Mond alle 27,2 Tage. Diese Zeitspanne heißt drakonitischer Monat. Im "Drachenmonat" steckt das griechische Wort "drakon" (Drache, Schlange). Die Römer verwendeten den gleichbedeutenden Begriff "draco".

Zur Zeit lauert der Drachenkopf im Sternbild Widder, der Drachenschwanz liegt in der Waage. Weil sich die Mondbahnebene langsam im Raum dreht, wandern die beiden gemächlich die Ekliptik entlang. Eine komplette Tour durch den Tierkreis dauert 18,6 Jahre.

Indische Mythen sprachen von neun Wandelgestirnen. Sie zählten zu Sonne, Mond und den fünf hellen Planeten, die auch die Griechen kannten, noch zwei dunkle, unsichtbare Himmelskörper hinzu. Diese sollten sich nur bei Finsternissen bemerkbar machen. Offensichtlich waren damit die Knoten gemeint. An der Himmelskugel existieren zwei besondere Punkte. Sie halten zu allen Stationen der Sonnenbahn - und damit auch zu den wandelnden Knoten - stets den selben, größtmöglichen Winkelabstand: 90 Grad. Es sind die Pole der Ekliptik. Der südliche hebt sich nie über unseren Horizont. Der nördliche geht dafür niemals unter. Ausgerechnet um diesen herum zeichneten die Griechen das ausgedehnte Sternbild "Drache".

Johannes Bayer stellt es uns in seinem berühmtem, genau 400 Jahre alten Himmelsatlas "Uranometria" eindrucksvoll vor: mit aufgerissenem Rachen und langem, gewundenen Leib. Der Legende nach wurde hier jenes Ungeheuer an den Himmel versetzt, das die goldenen Äpfeln der Hesperiden bewachte. Doch wer weiß - vielleicht spielt das Sternbild, so speziell platziert, in Wahrheit auf die beiden Drachenpunkte an.

Spinnrad

Diesmal taucht der komplett verfinsterte Mond nicht wirklich tief in den Kernschatten ein. Seine Distanz zum südlichen Schattenrand bleibt gering. Die untere Mondpartie schimmert somit deutlich heller. Vor allem hier faszinieren vermutlich bläuliche Töne. Bleiben sie aus, könnte man die Ursache eventuell im Ozonloch über der Antarktis suchen. In jedem Fall ist die totale Phase ungewöhnlich kurz.

Der Dämon hat wenig Zeit: Knapp vor 2.31 Uhr muss er das Gestirn wieder ausspucken - fast so, als hätte er sich die Zunge daran verbrannt. Die zunächst feine Lichtsichel des Mondes reift bis 4.04 Uhr zum vollen Rund. Der rauchartige Halbschatten ist eine halbe Stunde länger sichtbar. Spätestens nach seinem Verschwinden gehen auch verschworene Himmelsbeobachter zu Bett. Um ihre Träume nicht mit bösen Geistern und Ungeheuern zu belasten, reichen wir rasch noch eine lieblichere Geschichte nach. In Bayern meinte man einst, in den grauen Flecken des Mondes eine junge, spinnende Frau zu erblicken. Manchmal fielen ihr die müden Augen zu. Dann gerieten ihre Haare ins Spinnrad. Und so verfinsterte sich der Mond.

Freitag, 31. Oktober 2003 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 12:15:00

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