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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Vor 200 Jahren stürzten Tausende Meteoriten auf L'Aigle herab

Wie das "Schlagen von Trommeln"

Von Christian Pinter

Dreimal pro Jahr, so sagt die Statistik, werden Menschen Zeugen eines Meteoritenfalls: Ein oder zwei Fragmente eines neuen Himmelsbotens kommen dann zur Erde. Seltener hagelt es Dutzende, Hunderte, Tausende Steine - ein unvergleichbares Schauspiel. Einer der berühmtesten Meteoritenregen, jener von L'Aigle in Frankreich, feiert nun sein 200. Jubiläum.

Der studierte Jurist Ernst Florens Chladni lebt in Kutschen und Gasthöfen. Er pilgert von Ort zu Ort, hält Vorträge über Akustik und Musikinstrumente. 1793 macht er in Göttingen Station und trifft Prof. Georg Christoph Lichtenberg, auch Herausgeber eines Werks über die Grundlagen der Naturlehre. Man spricht unter anderem über Feuerkugeln: Leuchterscheinungen in der Lufthülle, den Sternschnuppen ähnlich, aber sehr viel heller. Für Lichtenberg sind das rein irdisch bedingte Phänomene, vermeintlich die Entzündung von Dünsten, wobei, wie bei Gewitterblitzen, Elektrizität im Spiel ist. Allerdings räumt er ein, dass man wenig über Feuerkugeln wisse. Eine kosmische Ursache sei nicht ganz auszuschließen.

Das fasziniert Chladni. Er nützt seine Reisen, um Bibliotheken nach einschlägigen Berichten zu durchforsten. Dabei werden gelegentlich auch Steine beschrieben, die im Anschluss an Feuerkugelbeobachtungen vom Himmel gestürzt sind. Gelehrte halten das für Legende. Wahrnehmungen von Laien machen sie misstrauisch, zumal auch immer wieder Erzählungen von herabfallendem Blut, Menschenhaar, Milch, Fleisch, Wolle, Quecksilber, Schwefel und sogar Geld auftauchen. Auch jene 300 Franzosen, die im Jahre 1790 stürzende Steine über Barbotan beschwören, ernten Unglauben. Das vom Bürgermeister verfasste Protokoll sorgt in Paris nur für mitleidiges Lächeln. Es sei traurig, wenn eine Gemeinde Volksmärchen amtlich bestätigen wolle, heißt es.

Alle enthalten Eisen

Doch Chladni findet Gemeinsamkeiten in den Erzählungen über herabgekommene Steine. Die vorangehenden Licht- und Schallphänomene ähneln einander, ebenso die Beschreibungen der Fundstücke selbst. Meist sind diese offenbar von einer dunklen "Rinde" überzogen und beinhalten Eisen. Der Deutsche bezieht sich unter anderem auf Fallberichte von Ensisheim 1492, Sagan 1636, Ploschkovitz 1723, Hraschina 1751, Tabor 1753, Albareto 1766, Eichstädt 1785 sowie drei französische Ereignisse, die den Fällen von Nicorps 1750, Lucé 1768 und Aire-sur-la-Lys 1769 entsprechen dürften. Dazu listet er noch rätselhafte Funde von gediegenem Eisen auf, wie sie etwa 1749 aus Krasnojarsk, Sibirien, und 1783 aus Campo del Cielo, Argentinien, gemeldet wurden. Auch wenn niemand den Fall dieser Eisenmassen beobachtet hat - ihre Entstehung von Menschenhand ist unwahrscheinlich.

Schließlich verwebt Chladni Feuerkugeln, Steinfälle und Eisenfunde zu einer gemeinsamen Theorie. Er glaubt an kosmische Geschosse, die mit hohem Tempo in die Lufthülle eindringen und sich dabei stark erhitzen. Ihr Herkunftsort sei der weite Raum zwischen den Weltkörpern. Sie alle wären Überreste kosmischer Materie, die sich nie zu einem großen Himmelskörper vereinen konnte - oder aber Bruchstücke zerborstener Welten. Chladnis Werk erscheint im April 1794 in Riga und Leipzig.

Nur Wochen später sorgen rote Blitze, eine Detonation und dunkler Rauch am Himmel über der Toskana für Aufregung. Bewohner von Siena sehen am Abend des 16. Juni 1794 etwa 200 Steine aus dem Himmel stürzen. Man verkauft sie zu hohen Preisen an englische Reisende. Forscher bleiben skeptisch: Wahrscheinlich seien die Stücke bloß von einem Wirbelsturm hoch geschleudert worden. Der Gesandte und Vulkanologe William Hamilton, übrigens Gatte der Geliebten von Admiral Horatio Nelson, bringt das Geschehen mit dem Vesuv in Verbindung, der kurz zuvor ausgebrochen ist.

In den nächsten Jahren ereignen sich sieben weitere Steinfälle; unter anderem 1795 in Wold Cottage, Yorkshire, 1796 in Evora, Portugal, 1798 in Salles, Frankreich, sowie in Benares, Indien. Joseph Banks, Präsident der Royal Society, mustert in London den Himmelsstein aus Yorkshire. Gerade hat er eine Probe des Siena-Falls erworben. Die Ähnlichkeiten sind auffallend. Dann erreicht ihn ein Brief aus Indien über den Benares-Fall. Banks wendet sich an den Chemiker Edward Charles Howard.

Howard ist ebenfalls Mitglied der Royal Society. Gemeinsam mit dem Exilfranzosen Jaques Bournon analysiert er nun Proben aus Tabor, Siena, Wold Cottage und Benares. Die Hauptbestandteile ähneln einander. Dazu gehören kleine Metallkörner, in denen Howard einen überraschend hohen Anteil des sonst seltenen Nickel ausmacht. Auch in den merkwürdigen Eisenfunden aus Campo del Cielo und Krasnojarsk, aus Steinbach in Deutschland und Siratik in Mali ist Nickel prominent vertreten. Die untersuchten Stein- und Eisenmassen scheinen also "verwandt" - wie Chladni vermutet hat.

Steine aus dem Himmel

Chladnis sorgfältige Argumentation von 1794, Howards Nickelfund von 1802 und die neuen Fälle dazwischen bewirken ein Umdenken. Immer mehr Gelehrte glauben jetzt, dass Steine tatsächlich aus dem Himmel stürzen können. Doch im Gegensatz zu Chladni sucht kaum jemand den Ursprung im Kosmos. Wissenschaftler meinen vielmehr, die Massen entstünden hoch droben in der Lufthülle. Man hält sie für Kondensationen von Dämpfen der Metallverarbeitung, vermischt mit vulkanischer Asche und elektrisch entzündet in brennbaren Gasen, die vom Boden aufgestiegen sind. 1803 erscheint in Paris Joseph Izarns einschlägiges Buch über "Atmosphärische Gesteinskunde". Selbst Goethe lässt die Luft "im Busen Stahl und Stein" tragen. Später bemüht er sich vergeblich um Chladnis Berufung an eine Universität.

Wer wirklich an einen außerirdischen Ursprung glaubt, denkt an Auswurfmaterial vermeintlich aktiver Mondvulkane. Zu dieser kleinen Gruppe zählen jetzt Lichtenberg, Alexander von Humboldt, Kleinplanetenentdecker Heinrich Olbers und Pierre Simon Laplace, Astronom und ehemaliger Innenminister Napoleons; außerdem der Chemiker Jean Baptiste Biot, der mit Laplace gerade ein Werk über die Schallgeschwindigkeit verfasst hat.

Am 26. April 1803 schießt um

1 Uhr mittags eine Feuerkugel über den heiteren Himmel Nordfrankreichs. Im Umkreis von gut 130 km hallen Detonationen wider, gefolgt von einem minutenlangen, merkwürdigen Rumpeln. Der Lärm erschreckt Tier und Mensch. Mühsam ringen Zeugen nach Vergleichen, sprechen von "Kanonenschüssen", dem "Feuer von Musketen" und dem "Schlagen vieler Trommeln". Dann ein Zischen, als würde mit "der Steinschleuder geworfen".

Fast alle Einwohner von L'Aigle sehen Brocken aus dem Himmel stürzen, wie Hagel auf Dächer oder Boden schlagen. Die Nachricht vom Steinregen erreicht rasch Paris. An der Seine werden Proben verkauft; Chemiker analysieren sie. Innenminister Chaptal, ein Nachfolger des politisch noch immer einflussreichen Laplace, fordert einen Bericht an. Dazu entsendet er Jean Biot nach L'Aigle, das 125 km westlich der Hauptstadt liegt.

Zunächst sucht der 29-Jährige mehrere Dörfer auf. Er will wissen, in welchem Umkreis man Feuerkugel und Schall wahrgenommen hat. In L'Aigle selbst befragt er Augenzeugen und lässt sich an die einzelnen Fundorte führen. Diese trägt er in seine Karte ein. Die Absturzstellen liegen innerhalb eines elliptisch begrenzten Felds von etwa 11 mal 4 km Weite. Biot bemüht sich, Flugrichtung und Höhe der Feuerkugel zu ermitteln. Vielleicht will er so die von ihm und Laplace favorisierte Herkunft der Steine vom Mond belegen. Er findet auch selbst einige Exemplare.

Insgesamt stellt man 2.000 bis 3.000 Stücke mit einem Gesamtgewicht von mindestens 37 kg sicher. Sie zeigen eine schwarzgraue papierdünne Kruste. Das Innere hat Brekzien-Struktur mit kantigen hellgrauen und dunkelgrauen Teilen. Im Anschliff blitzen Nickeleisenkörner auf. Ein Pariser Händler beliefert Mineraliensammler mit den Steinen. Einige finden den Weg nach Wien. Dort werden sie zwei Jahrhunderte später im Naturhistorischen Museum zu bewundern sein, mit vielen anderen der hier erwähnten Meteorite.

Urmaterie zwischen Planeten

Der L'Aigle-Fall schließt eine zehn Jahre währende Phase des Umdenkens in Sachen "fallender Steine" ab, räumt letzte Zweifel aus. Deren kosmische Herkunft bleibt aber noch jahrzehntelang umstritten. Dabei hatte Chladni im Grunde Recht: Fast alle Meteorite stammen aus dem Raum zwischen den Planeten, genauer aus dem Kleinplanetengürtel zwischen Mars und Jupiter. Etwas vereinfacht gesagt, stellen die meisten Steinmeteorite - auch jener von L'Aigle - Urmaterie dar, die nie in einem größeren Himmelskörper aufgegangen ist. Eisenmeteorite entstanden hingegen im Kern von Kleinplaneten, die später miteinander kollidierten und dabei zerbrachen.

Mit kosmischem Tempo in die irdische Lufthülle eintauchend, erleidet jeder Meteorit wenige Sekunden lang heftige Zusammenstöße mit den Atomen der Luft. Die Atmosphäre im Schusskanal wird stark erhitzt. Schon 100 km über dem Erdboden hüllt ein weiter, leuchtender Gasball das Himmelsgeschoss ein. Die Hitze dieser Feuerkugel lässt seine Oberfläche schmelzen und verdampfen. Er schrumpft. In wenigen Augenblicken wird der Eindringling von anfangs mehr als 40.000 km/h auf weniger als 400 km/h gebremst. Die Luft an seiner Stirnseite gerät zur Wand.

50 bis 10 km über der Erdoberfläche ist der Stress am ärgsten. Auf jeden Quadratzentimeter drückt ein Gewicht von 100 kg. Vielen Himmelsboten ist das zu viel. Sie brechen auseinander. Oft erleiden ihre Fragmente das gleiche Schicksal, teilen sich ebenfalls. "Flammen" und "Funken" spritzen aus der Feuerkugel, von gewehrartigem Knattern begleitet.

Das Leuchten erlischt

Bereits Chladni kannte diesen Stufenprozess des Zerfalls, leitete ihn aus Augenzeugenberichten ab: "Bisweilen zerspringt eine Feuerkugel ganz, bisweilen auch nur teilweise, die einzelnen Stücke zerspringen bisweilen wieder." Mitunter bleibt gar nichts vom Himmelsgeschoss über. Falls doch, erhitzt die Atmosphäre das Antlitz der restlichen Fragmente weiter. Allerdings nur kurz - bald reicht die Geschwindigkeit nicht mehr aus, die Luft zu erhitzen: Das Leuchten erlischt. Die heiße Haut der Trümmer erstarrt zur dunklen, dünnen Schmelzkruste.

Noch bevor alles zu Boden stürzt, wird es in der Luft sortiert. Kleine Teile haben weniger Masse und damit geringere Bewegungsenergie. Sie werden stärker gebremst, gehen früher in den freien Fall über. Die massereicheren schießen weiter. So entsteht das Streufeld, wie es Biot erstmals in L'Aigle bemerkte. Am hinteren Ende landen die kleinen, am vorderen die größeren Stücke. Die Hauptachse der Ellipse weist in die gleiche Richtung wie die Flugbahn der Feuerkugel.

Form und Ausdehnung des Streufelds variieren, hängen von Masse, Beschaffenheit, Geschwindigkeit und Einfallswinkel des Meteoriten ab. Nicht selten sind die Ellipsen weniger als 4 oder 5 km breit, aber drei- bis fünfmal so lang. Sie könnten z. B. Eisenstadt oder St. Pölten bedecken. Es gibt aber auch ausgedehntere Felder mit Dutzenden Kilometern Breite. Spektakuläre Schauer sind die Domäne von Steinmeteoriten. Die massiveren Eisenprojektile fragmentieren sehr selten. Es gibt aber Ausnahmen: So muss das Streufeld von Campo del Cielo mit seinen Tausenden Funden auf einen uralten Eisenregen zurückgehen.

Reiche Meteoritenschauer finden eher Augenzeugen als Einzelfälle. So staunte 1868 eine große Menschenschar in Pultusk, Polen. Geschätzte 180.000 Steine prasselten auf eine Fläche von 1,5 mal 8 km nieder, viele erbsengroß. An die 14.000 landeten 1912 in Holbrook, Arizona. Ameisen schleppten die winzigsten fort. Gut 200 besonders mächtige hagelte es hingegen 1976 auf Jilin, China. Das Streufeld maß dort 10 mal 67 km. Ein 1,8 Tonnen schwerer Block rammte sich fünf Meter tief ins Erdreich.

Über vier Tonnen regneten 1969 über Allende, Mexiko, herab. Dieser Steinmeteorit enthält Mineralien, die sich schon bei sehr hoher Temperatur ausbilden: erste, frühe Kondensate aus dem Gas des solaren Urnebels. Jüngst gelang am Allende-Meteorit deshalb eine extrem präzise Altersbestimmung unseres Sonnensystems - es entstand vor 4,5674 Milliarden Jahren.

Freitag, 18. April 2003 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 12:17:00

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