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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Der Zauber der Dämmerung folgt strengen Gesetzen der Optik

Abenteuer im Erdschatten

Von Christian Pinter

Nur die Alltäglichkeit raubt den Farben der Dämmerung unsere Aufmerksamkeit. Schon Aurora, römische Göttin der Morgenröte, beklagte sich bei Jupiter: Obwohl sie doch immerhin die Grenze von Tag und Nacht beherrsche, wären ihr "die wenigsten Tempel" geweiht.

In der Vorstellung der Alten stieg die rosenfingrige und safrangewandete Aurora mit feuchtem Haar aus der Tiefe empor, um mit ihrem Gesicht die Morgenstunde rot zu färben. Täglich öffnete sie, so Ovid in den Metamorphosen, "im hellen Osten die purpurnen Tore und die rosengefüllten Hallen". In Trauer um ihren gefallenen Sohn vergoss sie Tränen, die als Tau zur Erde fielen.

Bei den Griechen hieß diese Göttin Eos'. Mit zweispännigem Wagen fuhr sie jeden Tag ihrem viel berühmteren Bruder voran, dem Sonnengott Helios. Weil sie sich einst mit Ares (röm. Mars), dem Geliebten der Aphrodite (Venus) einließ, strafte sie die Liebesgöttin mit steter Leidenschaft für junge Männer. Eos' Name zeigt übrigens Verwandtschaft mit jenem der germanischen Licht- und Frühlingsgöttin Eostrae - und damit auch mit den Begriffen "Osten", "Ostern" oder "Österreich".

Himmelblau

Auf dem atmosphärelosen Mond hätten Eos und Aurora nichts zu tun. Dort wechseln einander Nacht und Tag übergangslos ab. Auf Erden umgibt den Betrachter Luft, auch wenn er sie im Alltag kaum bewusst wahrnimmt. Ohne das Gasgemisch wäre der Himmel tagsüber schwarz. Die winzigen Gasteilchen streuen das Sonnenlicht. Wie John Rayleigh 1871 beschrieb, bevorzugen sie dabei äußerst stark blaues Licht. Die Streuung färbt den Himmel blau.

Je länger der Weg des Lichtstrahls durch die Atmosphäre, desto mehr Blau wird aus ihm herausgestreut. Der langwellige Anteil bleibt übrig - Gelb und Rot. Vom blauen Licht befreit, schwingt sich der Mond oft rötlich über den Horizont; die Umgebung der auf- oder untergehenden Sonne ist ebenfalls gerötet. Ist das Tagesgestirn unter dem Westhorizont verschwunden, blockt unser Planet seine Strahlen ab. Wir weilen dann im Erdschatten. Die Luft über uns wird zunächst aber noch von Sonnenstrahlen getroffen. Die Streuung sorgt für Aufhellung, beschert uns die Dämmerung.

Während die versunkene Sonne immer tiefer hinabsteigt, klettert ihr Lichtkegel am Himmel höher. Anfangs beleuchtet er noch Schichten der dichten Troposphäre. Sie reicht 12 km hoch, ist primäre Bühne des Wettergeschehens und Heimat der meisten Wolken. Später trifft er nur die darüber liegende Stratosphäre, die unter anderem die berühmte Ozonschicht beherbergt. Mit zunehmender Höhe dünnt die Atmosphäre jedoch aus. Die Gasteilchen werden rar. Bald reicht ihr matter Schein nicht mehr, den Erdschatten aufzuhellen. Dann erst tritt völlige Dunkelheit ein.

Die Luftteilchen streuen vor allem nach vorn, also grob in Laufrichtung der Lichtstrahlen. Sie streuen aber auch zurück. Abends kommt vorwärtsgestreutes Licht aus dem Westen, rückwärtsgestreutes aus dem Osten. Deutlich weniger effizient fällt die Streuung zur Seite hin aus. Die dunkelste Himmelsstelle nach Sonnenuntergang liegt daher nahe dem Himmelsscheitel, dem höchsten Punkt am Firmament.

In der Atmosphäre schweben größere Teilchen wie Staub, Rauch oder Wassertröpfchen. Das Gros dieser so genannten "Aerosole" wird von Mutter Natur produziert. Zu Salzkristallen aus dem Meer, hochgewirbeltem Mineralstaub, Schwefelverbindungen und Ascheteilchen von Waldbränden oder Vulkanausbrüchen gesellen sich noch künstliche, speziell aus industriellen Ballungsgebieten. Die Aerosole konzentrieren sich in der untersten Troposphäre und streuen ebenfalls Licht. Mit zunehmendem Durchmesser sinkt jedoch ihre Vorliebe für blaue Strahlung.

In der Dämmerung wirken nun atmosphärische Gasteilchen und Aerosole verschiedenster Größe. Sie befördern Sonnenlicht in den Erdschatten, das vorher zum Teil sehr stark, zum Teil nur geringfügig gerötet wurde. Sie streuen dieses vorwärts, rückwärts und in geringem Ausmaß auch seitwärts. Die Kombination all dieser Effekte schenkt der Göttin Aurora jene bunte Farbpalette, mit der sie immer wieder grandiose Gemälde ans Himmelszelt malt.

Gleich nach Sonnenuntergang prägen farbige Horizontalstreifen den tiefen Westhimmel. Aus den untersten gelangt gestreutes Sonnenlicht zu uns, das zuvor einen sehr mühsamen Weg durch die dichtesten Atmosphäreschichten zurücklegen musste. Über den roten Streifen folgen, freilich mit verlaufenden Übergängen, solche in Orange, Gelb und zartem Grün. Darüber breitet sich ein intensiv strahlender, hellblauer Fleck aus. Hier wird noch vergleichsweise unbehelligt gebliebenes Sonnenlicht zum Betrachter gestreut. Oberhalb dieses klaren Scheins dunkelt der Himmel wegen der wenig effizienten Seitwärtsstreuung deutlich ein.

Hochfliegende Wolken komplizieren das Bild. Vor allem im Westen können sie noch von direktem Sonnenlicht getroffen werden. Sie geraten zur bizarren Leinwand, sorgen für ungewöhnlich intensives Abendrot. Einst assoziierte man solche Stimmungen oft mit Blutvergießen und Krieg, hielt sie für Unglücksboten.

Auch wenn scheinbar kein Wölkchen den Himmel trübt, mögen sich dunkle Wolkengebilde westlich von uns hinter der Erdkrümmung verstecken. Lassen sie Sonnenlicht durch Lücken passieren, ziehen Dämmerungsstrahlen über unser Firmament. Eigentlich parallel, muten sie aus perspektivischen Gründen an wie ein geöffneter Fächer. Früher nannte man die seltsamen Finger am Himmel mancherorts "Buddhas Strahlen".

Bei absolut klarem, wolkenlosen Himmel zeigt sich mitunter ein ganz anderes, ähnlich faszinierendes Schauspiel: Am Oberrand des klaren Scheins taucht ein rosaroter Lichtfleck auf, das Purpurlicht.

Purpurlicht

Inspirierte dieses Phänomen Ovid zum erwähnten Bild "purpurner Tore", die Aurora öffnen soll ? Uns öffnet sie jetzt den Blick in die Stratosphäre. Denn 15 bis 25 km über Grund versammeln sich abermals Aerosole, etwa 200 Teilchen pro Kubikdezimeter. Sie streuen gerötetes Licht der versunkenen Sonne aus besonders großer Höhe zu uns herab. Die Mischung mit dem bläulichen Glanz anderer Atmosphäreschichten ergibt Rosa, Lachsfarben, selten richtiges Purpur.

Besonders kräftig strahlte das Purpurlicht 1883 bis 1886. Im August 1883 hatte der Ausbruch des Krakatau vor der Westküste Javas 36.000 Menschen in den Tod gerissen und 20.000 Kubikmeter vulkanisches Material hochgeschleudert, zum Teil bis in die Stratosphäre. Dort verteilte sich die Wolke zunächst in Ost-West-Richtung, verbreiterte sich dann auch gegen Nord und Süd. Sie umkreiste die ganze Erde. Von überall trafen Berichte über außergewöhnliche Dämmerungserscheinungen ein. Daraus rekonstruierte man später Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung der Partikel.

Karl Johann Kissling, Professor in Hamburg, war damals ebenfalls vom Purpurlicht fasziniert. Mit seinem Nebelglühapparat, einer mit feuchter Luft gefüllten Glaskugel, versuchte er die Lichterscheinungen zu simulieren. Seine Arbeiten beeinflussten den schottischen Physiker und späteren Nobelpreisträger Charles Wilson. 1912 entwickelte dieser die legendäre Nebelkammer, mit deren Hilfe die Bahnen elektrisch geladener Teilchen sichtbar gemacht wurden. Die Beobachtung der Dämmerung befruchtete somit die Atomphysik.

Jahrzehntelang gestatteten bloß Dämmerungsphänomene Einblick in die Aerosolverteilung innerhalb der Stratosphäre. Die Dichte der schwebenden Teilchen wird dort nach heftigen Vulkanausbrüchen immerhin um das Dreißigfache erhöht. Sie halten sich manchmal mehr als zwei Jahre lang und bewegen sich schnell. Als der Gipfel des 2.950 m hohen Mount St. Helens, Bundesstaat Washington, bei einer Eruption im Mai 1980 weggesprengt wurde, tauchte die Asche bereits acht Tage später über Mitteleuropa auf. Die Ausbrüche des Gunung Agung auf Bali 1963 oder des philippinischen Pinatubo 1991 verrieten sich ebenfalls mit auffallend stark glänzendem Purpurlicht am heimischen Dämmerungshimmel.

Auch der Blick nach Osten lohnt. Im Gebirge leuchten unmittelbar nach Sonnenuntergang hochaufragende Berggipfel noch im Licht der allerletzten Sonnenstrahlen auf. Schnee oder heller Kalkstein verstärken die Wirkung des Alpenglühens. Im Flachland gerät die Lufthülle selbst zur Projektionsfläche. Gleich nach dem Untergang der Sonne steigt im Osten ein dunkles, blaugraues Segment aus dem Horizontdunst auf. Es klettert langsam höher und ist nichts anderes als der Erdschatten. Ein darin schwebender Betrachter würde das Tagesgestirn nicht mehr erblicken; einer im helleren Blau darüber schon noch. Im Übergangsbereich spielen oft rötlich-violette Farbtöne. Dieses Alpenglühen in der Atmosphäre heißt "Gegendämmerung".

Darüber glänzt der blaue Widerschein. Er trennt den Erdschatten vom dunklen Himmelsscheitel und entspricht dem klaren Schein im Westen. Im Gegensatz zu diesem entsteht er allerdings nicht durch Vorwärts-, sondern durch Rückwärtsstreuung des Lichts an atmosphärischen Gasteilchen. Der aufsteigende Erdschatten frisst sich rasch durch Gegendämmerung und Widerschein. Sein Rand wird dabei immer verwaschener und löst sich scheinbar auf, bevor er den Zenit passiert.

Längst haben sich zumindest die allerhellsten Fixsterne aus dem Blau geschält. Oft ist auch einer der strahlendsten Planeten - Venus, Jupiter oder Mars - dabei. Zeitungsbuchstaben kann man kaum noch erkennen. Die sogenannte "bürgerliche Dämmerung" ist vorbei; per Definition genau dann, wenn die Sonne 6 Winkelgrade unter dem Horizont weilt. Zum Vergleich: die lange Seite der geballten Faust erblicken viele Menschen bei völlig durchgestrecktem Arm unter einem Winkel von 9 Grad. Bringt man die Oberkante der Faust exakt in Augenhöhe, lassen sich Winkeldistanzen unterhalb des Horizonts abschätzen.

Mit einem hundertmal präziseren Winkelmessgerät, dem Sextanten, vermaßen Seeleute Sternhöhen. Daraus berechneten sie die Position ihres Schiffs. Um so zu navigieren, musste man einerseits bereits die wichtigsten Sterne erspähen, andererseits aber noch die Horizontlinie ausmachen können. Solche Bedingungen stellen sich jetzt in der "nautischen Dämmerung" ein. Wir können die Umrisse der prominentesten Sternbilder erkennen.

Farbenblind

Abseits künstlicher Lichtquellen vermag man Farben am Boden kaum noch zu beschwören. Die Erfahrung lehrt zwar, dass Gras grün, Erde braun, Jeans blau sind. Doch tatsächlich sehen können wir das nicht mehr. Die Augen liefern uns bloß Grautöne. "In der Nacht sind alle Katzen grau", sagt man. Die natürliche Beleuchtung irdischer Objekte reicht den farbsehtüchtigen Zapfen der Netzhaut nämlich nicht mehr aus. Die bloß schwarz-weiß-empfindlichen Stäbchen übernehmen die Regie. Sie reagieren auf kurzwelliges Licht sensibler als auf langwelliges. Blaue Gegenstände mögen sich daher in deutlich hellerem Grau zeigen als rote.

Mittlerweile sind die Horizontalstreifen sehr weit hinab gesunken, haben an Kraft verloren. Gegen Ende der nautischen Dämmerung verschwinden sie; die Sonne weilt jetzt 12 Grad unterm Horizont. Tief im Westen erinnert nur der Dämmerungsschein an den ausgeklungenen Tag. Prangt der Mond nicht am Himmel, wirkt der Großteil des Firmaments praktisch schwarz. Die meisten Sterne sind herausgetreten. Astronomen geben sich immer noch nicht zufrieden. Für sie herrscht nicht richtige Finsternis, sondern erst "astronomische Dämmerung". Nach Möglichkeit wartet man mit dem Studium lichtschwacher Himmelsobjekte ab, bis die Sonne 16 oder 18 Grad tief gesunken ist. Erst dann stellt sich, zumindest fern der Stadt, die maximal mögliche Dunkelheit ein.

Der Lichtkegel der Sonne ist nun Hunderte Kilometer hoch geklettert. Dort oben trifft er nur noch Satelliten. Viele umkreisen die Erde in Flugrichtung Ost und brauchen etwa eineinhalb Stunden für die komplette Reise um den Globus. Beim eiligen Lauf übers Firmament sehen wir künstliche Erdbegleiter abends nicht selten innerhalb von Sekunden verblassen, unsichtbar werden; dann sind sie im Schatten verschwunden. Die internationale Raumstation ISS schießt in knapp 400 km Höhe mit 28.000 km/h dahin. Ihre Besatzung erlebt das Schauspiel des Sonnenuntergangs 16-mal pro Tag.

Frau Luna tappt hingegen selten in die Falle. Der ferne Mondorbit ist zur Erdbahnebene deutlich geneigt, lässt unseren natürlichen Begleiter nur bei Mondfinsternissen tatsächlich durch den Erdschatten ziehen. Erst im Jahr 2003 werden wir wieder Zeuge eines solchen kosmischen Schattenspiels sein.

Freitag, 13. Juli 2001 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 14:58:00

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