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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Nach wechselvoller Vorgeschichte beginnt der Bau der

Raumstation Alpha

Spatenstich im All

Von Christian Pinter

„H ier errichten 16 Weltraumagenturen aus USA, Rußland, Japan, Kanada, Brasilien und Ländern Europas eine internationale Raumstation · mit sechs Labors, Wohnraum für sieben Astronauten und einem Solarkraftwerk.
Baukosten: mehr als eine viertel Billion Schilling." Diese fiktive Informationstafel sollte 400 km hoch über dem Erdboden um den Globus kreisen. Denn dort erfolgt in wenigen Tagen der „Spatenstich"
zum vielleicht kühnsten Bauprojekt der Gegenwart. In einem noch nie dagewesenen, multinationalem Kraftakt entsteht die größte künstliche Struktur im All: die Raumstation Alpha.

Rasch zum Mond

Die Idee ist fast 100 Jahre alt: seit 1903 hatten Vordenker wie Konstantin Ziolkowski, Hermann Oberth, Hermann Noordung und später Wernher von Braun Raumstationen im Erdorbit immer wieder als
ersten, logischen Schritt zur Eroberung des Weltraums beschworen. Nur im All, so glaubte man noch in den fünfziger Jahren, könnte man schwere Mond- und Marsraketen zusammenbauen. Doch die
gigantischen fliegenden Werften und Umsteigebahnhöfe blieben Utopie. Die bemannte Raumfahrt ging einen anderen Weg.

Am 25. Mai 1961 richtete Präsident John F. Kennedy die USA auf das Ziel aus, einen Amerikaner noch vor Ende des Jahrzehnts auf dem Mond zu landen. Die NASA bekam bis zu 5 Prozent Anteil am
Staatshaushalt. Dafür sollte sie den Sowjets zuvorkommen. Nun wären zwar Mittel zur Entwicklung einer Raumstation vorhanden gewesen · doch für langwierige Umwege blieb keine Zeit. In Ost und West
arbeitete jeweils eine halbe Million Menschen an Programmen mit, die auf besonders schubstarken Raketen fußten. Diese mußten die Reise zum Erdtrabanten rasch und ohne Zwischenschritt über eine
Raumstation ermöglichen. In den USA hieß das Resultat Saturn-V, in der Sowjetunion Proton.

Während US-Astronauten im Juli 1969 siegreich über den Mond spazierten, orientierten die Verlierer des Wettlaufs ihr bemanntes Weltraumprogramm um. Erst jetzt wurden die Träume von einer Raumstation
verwirklicht. 1971 brachten die Russen mit der Schwerlastrakete Proton die zunächst unbemannte Saljut 1 (russ., Salut) ins All. Der dreiteilige Zylinder war 14 m lang und an der dicksten Stelle
4 m breit. Die erste Mannschaft konnte ihre Sojus-Kapsel (russ., Union) nicht andocken, kehrte unverrichteter Dinge heim. Die zweite blieb drei Wochen an Bord der Saljut, verunglückte beim
Rückflug jedoch. Ein Ventil der Sojus schloß nicht. Der Enge wegen trugen die drei Männer keine Druckanzüge.

Nach dem tödlichen Unfall wurde die Sojus umgebaut. Einstweilen verglühte Saljut 1. Drei Nachfolger gerieten zum Fehlschlag, wurden nie bezogen. Die jeweils nur aus einem einzigen Modul bestehenden,
bewohnbaren Satelliten waren „Wegwerfstationen". Man wollte vor allem militärische Beobachtungen anstellen und wählte daher ungewöhnlich niedrige Bahnen mit knapp über

200 km Erddistanz. Die Ausläufer der Atmosphäre bremsten die ersten Saljuts dramatisch und brachten sie bereits nach Monaten zum Absturz. Vier funktionstüchtige Einheiten sahen bis 1977 nur fünf
Crews.

Die Stationen der zweiten Generation waren effizienter. An beiden Enden gab es Andockschleusen. An einer machte das Sojus-Schiff fest. Die andere wurde von unbemannten Progress-Transportschiffen
angesteuert, um Ausrüstung und Treibstoff anzuliefern. Sie konnte aber auch eine zweite Sojus aufnehmen. Auf Saljut 6 arbeiteten bis 1982 schon 16 Mannschaften, darunter Raumfahrer sowjetischer
„Bruderländer". In Saljut 7 kamen insgesamt zehn Teams zum Einsatz. Auch Gäste aus Frankreich und Indien wurden an Bord begrüßt. Erst nach dem Start der MIR im Jahr 1986 wurde diese letzte Saljut
aufgegeben. Sie stürzte über Argentinien ab.

Zwangspausen

In den USA war die Apollo-Euphorie bald verflogen. Teile des NASA-Budgets und drei Mondlandungen wurden gestrichen. Traurig suchte man übriggebliebenes Material zusammen. Techniker schneiderten
aus der dritten Stufe einer Saturn-V-Mondrakete die erste und bislang einzige US-Raumstation, Skylab. Das 72 t schwere „Himmelslabor" wurde beim Start im Jahr 1973 beschädigt. Zwei
Mannschaften hatten alle Hände voll zu tun, es in Stand zu setzen. Das dritte Team blieb fast zwölf Wochen, obwohl sich mancher Astronaut wie in einem umgebauten Treibstofftank fühlte.

Skylab mußte in einen höheren Orbit gehievt werden, doch die Fertigstellung der wiederverwendbaren Raumfähre, Space Shuttle, verzögerte sich. Die allerletzte Apollo-Kapsel war 1975 benutzt
worden, um an eine Sojus anzudocken. Dem spektakulären Handschlag im All folgte allerdings nur träge Zusammenarbeit auf Erden. NASA-Astronauten blieben sechs Jahre lang ohne Raumfahrzeug. 1979 mußten
sie zusehen, wie ihr mühsam repariertes Skylab ins australische Outback krachte.

1981 erlebte die Raumfähre endlich ihren Jungfernflug. Jetzt konnte man auch in den USA wieder an Raumstationen denken. Ronald Reagan kündigte 1984 die Entwicklung einer solchen innerhalb von zehn
Jahren an. Die Teilnahme Kanadas, Europas und Japans sollte die Kosten mildern. Das Projekt wurde später Freedom genannt. Es stand jedoch unter keinem guten Stern. Den Militärs paßte die
ausländische Beteiligung nicht, Anhänger des Starwars-Programms fürchteten Konkurrenz beim Ringen um Budgetmittel, und die Startexplosion der Challenger führte 1986 zur Einstellung sämtlicher
Shuttle-Flüge. Die neuerliche Zwangspause dauerte zweieinhalb Jahre.

Bereits drei Wochen nach der Challenger-Katastrophe starteten die Russen das Kernstück ihrer neuen, mehrteiligen Raumstation MIR (russ., Friede). Weitere Module folgten, sodaß ein
eindrucksvoller Komplex mit 33 mal 27 m Spannweite entstand. Automatische Progress-Transporter brachten ständig Versorgungsgüter hoch. Während russische Kosmonauten einen Langzeitflugrekord nach dem
anderen brachen, zahlten Besucher aus dem Ausland namhafte Beträge für ihre Kurzzeitunterbringung an Bord. Der Erfolg des Konzepts war bestechend. Moskau dachte an eine Nachfolgestation und die
europäische Weltraumagentur ESA diskutierte 1992 sogar ihre Beteiligung an dieser „MIR-2".

Die ESA hatte zu diesem Zeitpunkt auch schon mehr als eine Milliarde Dollar für Vorarbeiten zur amerikanischen Freedom ausgegeben, doch schien deren Schicksal fraglich. In Washington versuchten
Kongreßabgeordnete immer wieder, das Projekt unter Hinweis auf den enormen Preis zu Fall zu bringen. Der Bau würde mehrere Dutzende Flüge der vier existierenden Shuttles binden. Außerdem mußte für
die Stationsbesatzung stets ein angedocktes Fluchtfahrzeug zur Verfügung stehen, das noch gar nicht entwickelt war. Der Shuttle selbst ist für monatelangen Aufenthalt im All nicht geeignet.

Rettende Idee

Der Blick zur MIR rettete amerikanische Träume. Bezog man Rußland in die Pläne ein, konnten die mächtigen Proton- und die schwächeren Sojus-Trägerraketen die US-Raumfähren beim Transport der
Bauteile entlasten; Progress-Transporter würden Nachschub liefern und Sojus-Schiffe als Rettungssystem dienen. Gleichzeitig ließe sich so die gut zwei Jahrzehnte währende russische Erfahrung bei
Betrieb und Reparatur von Raumstationen einbinden.

Das war die Königsidee. 1993 wurde aus den Projekten „MIR-2" und „Freedom" das der „International Space Station (ISS)" mit dem politisch neutralen Namen „Alpha". Zur Festigung der Zusammenarbeit
dockten Shuttles mehrmals an die MIR an. Der orbitale Handschlag von 1975 wurde 20 Jahre später wiederholt. Diesmal war er mehr als nur Symbol.

Die Erben Gagarins warteten monatelang auf ihre Löhne. Sie erhofften sich mit der eingegangenen Verpflichtung auch eine gesichertere Zukunft. Dafür willigten sie ein, die NASA beim Transport von
Kommunikationssatelliten nicht mehr so dreist wie bisher zu unterbieten. Die Väter der Saljuts fühlten sich aber auch zum „Juniorpartner" unter klar ausgesprochener US-Führung degradiert. Manche
glaubten, das stolze „Flaggschiff" MIR neben der Alpha weiter betreiben zu können. In den USA machte sich Sorge breit, nun auch noch von den Launen der russischen Weltraumpolitik abhängig zu sein.

Fliegende Baustelle

Ein komplexes Projekt wie „Alpha" läßt wenig Spielraum für budgetäre Engpässe, Rückstände oder Pannen. Mindestens 34 Shuttle-Missionen sowie neun Flüge russischer Proton- und Sojus-Raketen bringen
das Material in den Orbit. Alle Einzelteile müssen auf die russischen Raketen oder in den Laderaum des US-Shuttles passen. Erst im All können sie zusammengefügt werden. 1.000 Arbeitsstunden im
Raumanzug sind dazu nötig.

Im Schnitt liegen nur sieben Wochen zwischen den Startterminen. Gerüchte aus Raumfahrtkreisen lassen aber monatelange Verzögerungen bei der Fertigstellung mancher Module erwarten. Daher fällt es
schwer, an den minutiösen Flugplan zu glauben. Baubeginn sollte am 20. November sein. Zunächst schießt eine Proton das 20 t schwere Frachtmodul Zarja (russ., Sonnenaufgang) hoch. Seine
Triebwerke müssen die fliegende Baustelle alle paar Monate auf eine höhere Bahn heben, um die Reibung an Ausläufern der Hochatmosphäre zu kompensieren. Der Name „Zarja" war übrigens bis 1971 für die
Saljut-Serie vorgesehen gewesen. Er dürfte manchen russischen Veteranen an die einstige Führerschaft beim Betrieb von Raumstationen erinnern.

Im Dezember startet die Raumfähre Endeavour mit Unity (engl., Einheit) im Laderaum. Unity bildet einen Knotenpunkt beim weiteren Ausbau der Station und wird mit Hilfe von Endeavours
Greifarm an Zarja angedockt. Am anderen Ende Zarjas macht 1999 das russische Servicemodul fest, das zum Wohn- und Waschraum der ersten Mannschaft wird. Diese soll noch im gleichen Jahr mit einer
Sojus zur Station hochsteigen. Nach fünf Monaten an Bord kehren der US-Kommandant und die beiden russischen Kosmonauten mit einer Raumfähre heim, lassen der neuen Crew die Sojus als Fluchtgefährt
zurück.

Shuttles haben inzwischen leistungsstarke Sonnenflügel, ein US-Labormodul und den kanadischen Roboterarm mitgebracht, der als Baukran fungiert. Weitere Flüge liefern Trägerleisten, Luftschleusen und
Druckmodule an. Externe Experimentalplattformen sowie Labors aus Rußland, Japan und Europa erweitern den Platz für wissenschaftliche Versuche. Schließlich ergänzt oder ersetzt ein neues
Rettungsfahrzeug die dreisitzige Sojus. Mit einem geräumigen US-Wohnmodul ist Alpha im Jahr 2004 komplett. Sie mißt dann 109 mal 88 m und ist damit etwa so weit wie ein Fußballfeld. Ihre ausladenden,
blauen Sonnenflügel erzeugen 110 kW Strom. Weiße Druckmodule bilden einen Wohn- und Arbeitsbereich für sieben Raumfahrer mit 1.200 m³ Volumen. Mit einer Geschwindigkeit von fast 27.500 km/h schießt
das 450 t schwere Gebilde in eineinhalb Stunden um den Globus.

Alpha ist weder als Weltraumbahnhof noch als fliegende Werft konzipiert. Statt dessen wird man dort 15 Jahre lang vor allem Auswirkungen der Mikrogravitation untersuchen. In der Station herrscht bloß
ein Millionstel der vertrauten Schwerkraft: Prozesse, die sonst von der Gravitation beeinflußt werden, laufen dort reiner und störungsfreier ab. So kann man sie besser studieren. Die gewonnenen
Erkenntnisse sollen später zu neuen Produktionsverfahren auf der Erde führen. Zweitausend einschlägige Forschungsanträge sind bereits eingelangt. Dazu zählt die Züchtung von Proteinkristallen, deren
Untersuchung die Entwicklung optimierter Arzneimittel erleichtern soll. Oder die Beobachtung von Krebszellen außerhalb des Körpers, an denen verschiedene Behandlungsmethoden ausprobiert werden
können. Auf Alpha lassen sich hochqualitative Halbleiter für elektronische Bausteine ebenso herstellen, wie neue Legierungen für feste, aber extrem leichte Werkstoffe. Die Analyse von
Verbrennungsvorgängen unter Mikrogravitation würde, könnte man damit die Energiegewinnung auf Erden auch nur um Promille effizienter gestalten, Milliarden sparen.

Weltraumbiologie, Medizin, Materialforschung und Erdbeobachtung sollen die Baukosten von mindestens 20 Mrd. US-Dollar und die etwa gleich hohen Betriebsausgaben wieder hereinspielen. Für die NASA ist
das Projekt dennoch eine schwere finanzielle Belastung, verschlingt sie doch ein Sechstel ihres Etats. Man wird andere, unbemannte Flüge zu fernen Planeten zurückstellen müssen und mit Neid auf das
Budget des US-Verteidigungsministeriums schielen: dort gibt man die Baukosten der Alpha alle ein bis zwei Monate aus.

Fernblick

Alphas Bahn ist wie die der MIR 51,6 Grad zum Erdäquator geneigt. Die Station überfliegt damit auch Mitteleuropa, kann zeitweise als rasch dahinziehender Lichtpunkt am Nachthimmel ausgemacht
werden. Ihr Wachsen spiegelt sich im steigenden Glanz wider. Bald wird sie alle anderen Satelliten und die prominentesten Sterne an Helligkeit übertreffen. Im Endausbau reicht ihre Spannweite sogar
fast an die Auflösungsgrenze scharfsichtiger Augen heran. Das Teleskop läßt dann sicher Details erkennen.

Österreich muß sich mit dem Fernblick begnügen. Denn es hat sich im Gegensatz zu den meisten anderen ESA-Mitgliedern nicht an der Station beteiligt. Einschlägige Aufträge bleiben damit Firmen aus
Belgien, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien, Niederlanden, Norwegen, Spanien, Schweden und der Schweiz vorbehalten.

Freitag, 20. November 1998 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 16:52:00

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