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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Noch immer ist nicht ganz klar, was vor 90 Jahren über Sibirien geschah

Das Tunguska-Rätsel

Von Christian Pinter

Am 30. Juni 1908 spielen die Instrumente verrückt. Barometer in England schwanken, zeigen eine Luftdruckwelle, die zweimal um den Globus eilt. Seismometer in Washington zeichnen Bebenwellen
auf. Magnetometer in Irkutsk halten gut vier Stunden lang Variationen des Erdmagnetfelds fest, wie man sie später bei atmosphärischen Atombombentests registrieren wird.

Seit einer Woche sind Sonnenauf- und -untergänge in Europa ungewöhnlich farbig. Um das Tagesgestirn erscheinen hartnäckige Lichtringe. Nachts fällt in den USA geringere Transparenz des Sternenhimmels
auf. Dafür schimmern über Teilen Asiens besonders helle Nachtwolken am Firmament.

Bei Kagarlyk in der Ukraine fällt ein knapp 2 kg schwerer Steinmeteorit zu Boden. 4.000 km weiter östlich in Sibirien zieht ein Lokführer kurz nach 7 Uhr Ortszeit die Notbremse, da heftige Schläge
die Garnitur erschüttern. Über Vanavara an der Steinigen Tunguska schießt eine Feuerkugel fast so hell wie die Sonne Richtung Nordwest. Eine rasche Serie von Donnerschlägen folgt. Fenster bersten,
Menschen werden zu Boden geworfen. Ein Hitzeschwall zieht über sie hinweg. Manchen scheint es, als wäre "der Himmel auseinandergebrochen".

Nördlich der Handelsstation sind nur wenige Nomadenzelte der Ewenken in der Taiga verstreut. Sie werden fortgerissen, Vorratslager zerstört. Hirtenhunde und Rentiere verbrennen. Ganze Herden gehen in
Flammen auf. Menschen sind stundenlang bewußtlos.

Ein Hirte fliegt 12 m durch die Luft, stirbt Tage später an offenem Armbruch. Das Herz eines alten Mannes hört zu schlagen auf. Schwarzer Regen fällt. Der zornige Ewenkengott Ogdy ist mit Blitz und
Donner zu Boden gefahren; das Gebiet wird tabu. Kaum jemand will es noch betreten.

Telegrafenstangenwald

1921 soll der in Tartu geborene Mineraloge Leonid A. Kulik die Meteoritenfälle in der noch jungen Sowjetunion dokumentieren. Dabei stößt er auf alte Zeitungsberichte, die vom längst vergessenen
Vorfall in der Tunguska erzählen. Im März 1927 bricht er zur Expedition auf. Mit Transsibirischer Bahn und Pferdeschlitten geht es zunächst nach Vanavara. Von dort aus kämpft er sich mit Pferden,
Rentieren und Flößen Kilometer um Kilometer durch die Taiga vor.

Als er endlich 90 km geschafft hat, wird das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe offenbar. Auf 2.000 km² · das entspricht der fünffachen Fläche Wiens · ist der Wald kahl geschlagen. Millionen
gefällter Bäume bedecken den Boden. Sie weisen meist zum selben, zentralen Punkt.

In der Mitte des Terrains blieben die Riesen jedoch stehen. Ihrer Äste beraubt ragen die Stämme wie Pfähle in den Himmel. Dieser "Telegrafenstangenwald", notiert Kulik, ist von oben her versengt
worden; kein Waldbrand, sondern ein atmosphärischer Hitzeblitz muß verantwortlich zeichnen.

Kulik dokumentiert das gespenstische Bild. Die Fotografien helfen, weitere Expeditionen zu finanzieren. Immer wieder suchen Kuliks Männer nach eindeutigen Beweisen eines Meteoritentreffers. Runde
Eintiefungen im Boden, zunächst für Einschlagskrater gehalten, stellen sich als Sumpflöcher heraus. Zu Kuliks Überraschung fehlen Meteoritenfragmente völlig. Was immer die Katastrophe auslöste · es
hat sich in Luft aufgelöst.

Der österreichische Geologe Franz E. Suess kennt Kuliks Berichte. Er glaubt 1937, daß ein Meteorit, ohne den Boden zu berühren, an den dichtesten Luftschichten abgeglitten und wieder ins All
zurückgekehrt sei. Allein die Druckwelle hätte den Wald vernichtet. Andere Forscher meinen, ein kleiner Komet wäre über der Tunguska explodiert.

Zündung über Grund

Der Zweite Weltkrieg unterbricht die Forschung. Kulik stirbt 1942 in einem deutschen Gefangenenlager. Drei Jahre später machen Atombomben Hiroschima und Nagasaki dem Erdboden gleich. Der erste
sowjetische Wissenschafter, der die zerstörten Städte besucht, erkennt Ähnlichkeiten mit dem Tunguska-Ereignis.

Doch unter dem Eindruck der Radioaktivität zieht er 1946 den falschen Schluß. Er glaubt, ein außerirdisches Raumschiff mit Nuklearantrieb wäre über der Taiga explodiert. Allerdings finden sich dort
keine Spuren von Radioaktivität.

Später werden immer wieder exotische Erklärungsversuche für das Tunguska-Rätsel auftauchen: manche sprechen von der Kollision mit einem Brocken aus Antimaterie, andere vom Einschlag eines winzigen
Schwarzen Lochs. Die eine Spekulation macht explodierte Sumpfgasblasen verantwortlich, die andere begnügt sich mit einem schweren Erdbeben. Doch stets fehlen brauchbare Indizien.

Tatsächlich gibt es Parallelen zwischen dem Angriff auf Hiroschima und Nagasaki und den Geschehnissen an der Steinigen Tunguska. Die US-Atombomben wurden mehrere hundert Meter über Grund gezündet.
Die Mauern der Handelskammer von Hiroschima, direkt unter dem Zündungspunkt gelegen, trotzten der Zerstörung. Sie finden ihre Entsprechung im "Telegrafenstangenwald", der aus dem Zentrum der
verwüsteten Taiga ragt. Immer kam der tödliche Schlag aus der Luft. Hitzeblitz und Druckwelle wirkten von oben.

Heute sind sich fast alle Forscher einig, daß im Himmel über der Tunguska tatsächlich eine Bombe detoniert ist. Sie stammte allerdings aus dem All und zählte zu jenen abertausenden kleinen Objekten,
die unser Sonnensystem bevölkern. Der Bolide dürfte zunächst über Westchina und den Baikalsee gezogen und vielleicht 20 km pro Sekunde zurückgelegt haben. Nördlich von Vanavara zerriß es ihn in 6.000
bis 10.000 m Höhe. Die Explosionsenergie erreichte 10 bis 40 Megatonnen TNT und übertraf damit jene von Hiroschima mehrere hundertmal.

Zerstörungskraft und Höhe des Detonationspunkts lassen sich aus der Charakteristik des verwüsteten Gebiets abschätzen. Die Druckwelle schlug wie eine Faust auf die Taiga nieder, wirbelte Asche und
Staub in die Atmosphäre. In 40 bis 70 km Höhe wurden die Partikel zu Kondensationskeimen für Eiskristalle. Sie sorgten ab dem 30. Juni für die in weiten Teilen der Welt beobachteten Anomalien am Tag-
oder Nachthimmel.

Für kleine Himmelskörper, die mit mehreren zehntausend km/h in die Lufthülle schießen, geraten deren Moleküle zur Wand. Winzige Eindringlinge aus Eis verglühen als Sternschnuppen. Etwas größere
aus Stein oder Eisen werden rasch gebremst und landen schließlich im freien Fall als Meteorite am Erdboden.

Anders bei mächtigen Himmelskörpern von vielen Dutzend oder Hunderten Metern Durchmesser. Hier funktioniert die atmosphärische Bremse nicht effizient genug. Beim Aufprall ist die Geschwindigkeit noch
so groß, daß die kinetische Energie explosionsartig freigesetzt wird. Krater von einigen Metern bis Kilometern Weite entstehen.

Explosionen über Grund treten im Zwischenbereich, beim Eindringen eines mittelgroßen Himmelskörpers auf. An dessen Frontseite wird die Luft extrem komprimiert. Dahinter entsteht ein Vakuumtunnel.

Der Druckunterschied verformt den Boliden. Schließlich zerplatzt er. Den Fragmenten geht es Augenblicke später genauso. Die Bewegungsenergie entlädt sich in Hitzeblitz und atmosphärischer Druckwelle.
Ein Brocken von mehreren hunderttausend Tonnen Masse kann sich in Sekundenbruchteilen auflösen.

Entscheidend sind Größe, Geschwindigkeit und Eintauchwinkel · aber auch die Zusammensetzung des Eindringlings. Und genau hier scheiden sich die Geister. Die einen Tunguska-Forscher favorisieren
Kometen-, die anderen Asteroidenfragmente.

Eis, Stein und Eisen

Kometen und Asteroide entstanden vor 4,5 Milliarden Jahren aus Planetesimalen. Diese "Bausteine des Sonnensystems" konnten sich wegen der Schwerkraft der großen Planeten nicht überall zu richtigen
Welten zusammenfinden. Vor allem zwischen Mars und Jupiter blieben Asteroide zurück. Größere schmolzen auf, bekamen dabei steinerne Mäntel und eiserne Kerne. Kollisionen zersplitterten sie.

In Meteoritensammlungen liegen Materialproben. Eisenmeteorite stammen aus dem Kern großer, zerborstener Körper; die steinernen gewöhnlichen Chondrite aus kleineren Asteroiden, die nie aufgeschmolzen
waren. Ähnliches gilt für dunkle, kohlige Chondrite. Ihre Mutterkörper konzentrieren sich im äußeren Bereich des Asteroidengürtels. Dort waren die Temperaturen so niedrig, daß auch
Kohlenstoffverbindungen und Wasser eingebaut werden konnten.

Kometen wurden noch weiter draußen geboren, wo dank der Kälte auch Wassereis in reichen Mengen zur Verfügung stand. Lange glaubte man, sie bestünden vorwiegend aus Eis. Heute räumt man die
Möglichkeit ein, daß Silikate den Hauptanteil stellen könnten. Die Frage bleibt offen. Denn leider besitzen wir keine sicheren Materialproben aus Kometenkernen.

Computermodelle

Seit Jahren rückt man dem Tunguska-Rätsel mit Computern zu Leibe. Modellrechnungen versuchen, Erdatmosphäre, Ballistik und die Eigenschaften des Geschosses zu imitieren. Vor allem russische
Forscher halten an der Kometenthese fest. Bestünde das Geschoß primär aus Eis, ließe sich das Fehlen meteoritischer Funde leicht erklären.

Kometare Gase könnten mit Bestandteilen der Lufthülle überdies ein hochexplosives Gemisch bilden, was die Sprengkraft noch erhöhte. Schließlich dürfte man einen vorauseilenden Kometenschweif für jene
Himmelsanomalien verantwortlich machen, die schon Tage vor der eigentlichen Kollision auftraten.

"Kometenfragmente sind viel zu fragil!" werfen vornehmlich amerikanische Forscher seit 1983 ein; solch ein Objekt hätte sich schon viele Kilometer über dem tatsächlichen Detonationspunkt aufgelöst.
An seine Stelle sei das Bruchstück eines Asteroiden zu setzen. Die massiven Eisenmeteorite würden allerdings erst allzu knapp über dem Boden detonieren oder gar einschlagen. Viel besser passen
Steinmeteorite mit rund 60 Metern Durchmesser in die Rechnung. Allerdings gibt es Kritik, da es den Computern nicht immer gelingt, auch tatsächlich alle Fragmente in der Luftexplosion zu vernichten.
Gefunden wurden ja, wie erwähnt, keine.

Doch exakt kennen wir das Verhalten der Lufthülle bei extremen Temperaturen und hohem Druck nicht. Der Eintauchwinkel läßt sich aus den 900 gesammelten, nicht ganz widerspruchsfreien
Augenzeugenberichten nur grob rekonstruieren und auch die Eintrittsgeschwindigkeit ist bloß innerhalb weiter Grenzen absteckbar.

So hängt viel vom verwendeten Modell und den gewählten Ausgangswerten ab. Beim einen schafft es ein gewöhnlicher Chondrit, bis zur Detonationshöhe vorzudringen, beim anderen ist ein kohliger Chondrit
erfolgreich. Mitunter siegt auch ein Stück Komet.

Der gewöhnliche Chondrit, der fast gleichzeitig in der Ukraine niederging, hilft kaum weiter. 1908 gab es nur sechs beobachtete Meteoritenfälle, was Kagarlyk auf den ersten Blick besonderes Gewicht
verleiht. Doch da wir nur einen Bruchteil aller Fälle registrieren, ist Zufall nicht ausgeschlossen.

Jahresringe

Westliche Forscher durften die Tunguska erst 1989 nach Intervention Michail Gorbatschows betreten. Menotti Galli und Giuseppe Longo untersuchten Fichten, die der Druckwelle widerstanden hatten.
Dünne Jahresringe nach der Katastrophe erzählen von den Folgen der Entlaubung. Doch rasch verbesserten sich die Bedingungen. Offenbar stießen die überlebenden Pflanzen im nun lichten Wald auf weniger
Konkurrenz.

Mit Hilfe des Elektronenmikroskops machten die Italiener außerdem im Harz gefangene Kügelchen aus, die als die ersten sicheren Spuren des Himmelsgeschosses interpretiert werden. Leider verrät ihre
Zusammensetzung nicht zweifelsfrei, ob sie aus einem Asteroiden oder Kometen stammen.

So fanden auch die 50 Teilnehmer der bislang letzten internationalen Tunguska-Konferenz 1996 in Bologna keinen Konsens. Während der eine "ein steinernes Projektil nicht nur für plausibel, sondern
für praktisch sicher" hielt, verriet einem anderen die Mathematik, "daß der Tunguska-Meteorit ein kleiner Komet war". Ein leichter Meinungsumschwung hin zum Stein war allerdings spürbar.

Einmal in 100 Jahren

Viele tausend Asteroide kreisen zwischen Mars und Jupiter um die Sonne. Mittlerweile gibt es dort auch einen Kulik, einen Longo, eine Tunguska oder eine Vanavara.

Suchprogramme machten in den letzten Jahren außerdem viele erdbahnkreuzende Objekte aus. Es dürften mehrere hunderttausend mit Durchmessern über 100 m existieren. Die wahrscheinlich kleineren Körper
vom Format des Tunguska-Boliden sind noch schwieriger und kaum vollständig zu erfassen · dazu müßte man die teuersten Teleskope der Welt jahrzehntelang nur diesem Zweck widmen.

Statistisch dürfte sich ein Ereignis ähnlich dem über der Tunguska einmal pro Jahrhundert einstellen. Über See wäre es recht harmlos, über Mitteleuropa könnte es Millionen Menschen umbringen. "Im
Schnitt" rechnen manche Forscher mit 1.000 Toten. Erfahrungen fehlen, da sich in der Menschheitsgeschichte keine weiteren, eindeutigen Berichte über derartige Vorkommnisse finden. In entlegenen
Gebieten wären solche "Luftexplosionen" unserer Aufmerksamkeit früher allerdings entgangen.

In jedem Fall müssen sie häufiger sein als Einschläge großer Himmelskörper, wie sie mittlerweile beliebtes Thema für Romane, spekulative Sachbücher aber auch für Hollywood geworden sind: seit Mitte
Mai läuft Spielbergs "Deep Impact"; "Armageddon" folgt Anfang Juli. Im ersten Streifen bedroht ein Komet, im zweiten ein Asteroid die Erde. Beide warten mit Starbesetzung auf.

Ab 28. Juni treffen einander Wissenschafter in Krasnojarsk zur heurigen internationalen Tunguska-Konferenz. Hubschrauber bringen sie zum Originalschauplatz. Eine endgültige Klärung wird aber wohl
auch am 90. Jahrestag der Katastrophe nicht gelingen.

Freitag, 26. Juni 1998 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 16:55:00

Lexikon



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