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Welsh, Renate: Purzelbaum der Fantasie

„Ich schreibe für Kinder, weil ich Kinder mag – und weil es mir Spaß macht“: Renate Welsh.  Foto: privat

„Ich schreibe für Kinder, weil ich Kinder mag – und weil es mir Spaß macht“: Renate Welsh. Foto: privat

Von Jürgen Koppensteiner

Aufzählung Am 22. Dezember wird Renate Welsh 70 Jahre alt. Die Bandbreite ihrer Bücher reicht von fantastischen Erzählungen über Kinder- und Jugendliteratur bis zum historischen Roman.

"Liebe Renate ich bin Agnes D. und habe Dir vor ca. drei Jahren geschrieben, ich habe Deine Adresse in einem Deiner Bücher gefunden. Damals habe ich Dir einen Brief geschrieben, wie ich mich fühlte, denn damals ging es mir sehr schlecht. Ich hatte keinen Lebensmut mehr. Vielleicht kannst Du Dich an mich erinnern. Ich muss mich bei Dir bedanken. Du hast mir mit Deinen zwei Briefen und mit Deiner Karte viel geholfen. Ich war ein kleines Kind, und jetzt habe ich zu mir gefunden; meinen Körper, meine Seele und meinen Geist konnte ich vereinen, ich liebe mich, so wie ich jetzt bin. Damals, als ich Dir meine Probleme geschildert habe, hast Du gesagt, dass ich nicht schlecht bin, ich viel nachdenken und nachspüren soll und selbst einen eigenen Weg finden kann. Du hast gesagt, ich soll die Augen aufmachen, denn nur wenn man die Augen weit aufmacht, sieht man auch etwas Schönes. Schau Dir einen Zweig an, bis Du spürst, dass darin der Frühling pocht, schau Dir ein Gesicht an, hast Du gesagt, bis Du siehst, was darin schön ist, hast Du gesagt. Dann habe ich in den Spiegel geschaut und habe mir selbst zugewunken. Für die schönen Briefe danke ich Dir. Deine Agnes."

Dass es sich bei der "lieben Renate" um die international bekannte, vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin Renate Welsh handelt, die am 22. Dezember 70 Jahre alt wird, werden literarisch Interessierte rasch erraten haben. Der Brief der jungen Frau enthält im Grunde die Lebensphilosophie, das Programm der Autorin. Sie schreibt nur über selbst Erlebtes oder gründlich Recherchiertes. So besuchte sie etwa für die später als Theaterstück adaptierte Dokumentation "Der Staatsanwalt klagt an" (1975) fünf Wochen lang das Wiener Jugendgericht, führte dort Tag für Tag Protokoll und sprach mit Richtern, Angeklagten, Sozialarbeitern und Rechtsanwälten.

Genauso sorgfältig recherchiert ist der Roman "Constanze Mozart" (1990), in dem die alt gewordene Witwe Mozarts, "eine unbedeutende Frau", wie der Untertitel lautet, auf ihr Leben zurückblickt. Welshs Arbeitstechnik zeigt sich auch in ihrem großen Roman "Das Lufthaus" (1994), der Lebensgeschichte einer jungen Frau aus der Biedermeierzeit, die gegen den Willen ihres Vaters einen steckbrieflich gesuchten Revolutionär heiratet und mit diesem nach Amerika flieht. Bevor sie auch nur eine Zeile schrieb, musste sich die Autorin durch einen Karton voll alter Briefe und anderer Dokumente durcharbeiten.

Stille Helden

Dass Renate Welsh auf ein genaues Hinschauen und auf gründliches Quellenstudium Wert legt, macht auch ihr Buch "In die Waagschale geworfen" (1988) deutlich, in dem sie das Thema Widerstand im Dritten Reich behandelt und von mutigen, opferbereiten Menschen erzählt, "stillen Helden", von denen niemand spricht. Keine der Geschichten ist bloße Fiktion. Wieder hatte Welsh viele Dokumente gesichtet und Gespräche mit Angehörigen und Zeitzeugen geführt.

Bei ihren Recherchen geht Welsh bisweilen ungewöhnliche Wege. Ein Beispiel ist der Roman "Johanna" (1979), eines ihrer erfolgreichsten Bücher. Johanna, ein uneheliches Kind, wächst in den dreißiger Jahren auf einem Bauernhof im Burgenland auf, wo sie unterdrückt und ausgebeutet wird. Aber es gelingt ihr, dem "Bauern-KZ" (Franz Innerhofer) zu entkommen und am Ende eine selbstständig denkende, selbstbewusste Frau zu werden.

Zu den Grundvoraussetzungen jeder schriftstellerischen Tätigkeit gehören, wie Welsh sagt, ein "ausgeprägter Beobachtungssinn" , die "Bereitschaft zum Zuhören" , zum "Nachspüren" und "Nachdenken" , aber auch zum "Mitleiden" . Vor allem geht es darum, eigene Wege zu suchen, um am Ende etwas Schönes zu finden. Daran hat sich Welsh in ihrem rund hundert Bücher umfassenden Werk stets gehalten.

Sie begnügt sich aber nicht mit dem Bücherschreiben, sondern organisiert auch in aller Welt "Schreibwerkstätten", und geht gerne auf Lesereisen. Man kann sie in Gänserndorf antreffen oder in den Weiten von Iowa, an der chinesischen Mauer oder neuerdings in Afrika. Und wer Glück hat, dem öffnet sie die Tür ihres liebevoll restaurierten Biedermeierhauses in Wien, einer Oase der Ruhe im Trubel des 7. Bezirks, und lädt einem zum Bleiben ein.

"Ich schreibe für Kinder, weil ich Kinder mag" , erklärt sie ihre Beweggründe, Kinderbücher zu verfassen. "Weil es mir Spaß macht!" , ergänzt sie. "Weil ich auf Ideen komme, die ich sonst bestimmt nicht hätte." "Weil es mir Freude macht, Kindern vorzulesen, zu erleben, wie ihre Fantasie Purzelbäume schlägt."

Für Kinder hat sie das "Vamperl" erfunden, einen Kinderbuchklassiker, an dem freilich auch Erwachsene ihren Spaß haben dürfen. Beim Vamperl handelt es sich um einen Minivampir, der sich bei Frau Lizzi, einer schrulligen älteren Dame, eingenistet hat, während diese auf Kur war. Der kleine Vampir hat ein besonderes Talent: Er kann den Menschen das Gift aus der Galle saugen, schlechte Gedanken vertreiben und Böses verhindern. Realität und Fantasie vermischen sich zu einer humorvollen Erzählung, die zugleich das für Renate Welsh so typische soziale Engagement reflektiert.

Dass Welsh auf die Frage nach anderen für sie denkbaren Berufen spontan den der Lehrerin nennt, überrascht nicht. Lehrer dürfen "eine Klasse über eine lange Zeit begleiten und nicht nur für eine Stunde oder einen Vormittag mit den Kindern arbeiten" . Gern wäre sie auch Kinderärztin geworden, aber eigentlich sei es für sie heute unvorstellbar, nicht Autorin zu sein.

Attraktives Angebot

Renate Welsh erzählt von sich und von ihrer – nicht sehr glücklichen – Kindheit, in die freilich ihre ersten schriftstellerischen Versuche fallen. Die Mutter starb, als Renate vier war, der autoritäre Vater hatte keine Zeit für die Tochter, und der geliebte Großvater starb ebenfalls früh.

"Knallrote Haare", klein, schüchtern und mit Schuldgefühlen, aber zugleich wissbegierig und voller Fragen: So sieht sie sich selbst als Kind. Eine einzige Provokation für die Buben in ihrer Klasse. Von ihren Mitschülern wurde sie gehänselt und verspottet, aber sie hatte ein nützliches Talent: sie konnte Geschichten erzählen.

So bekam sie eines Tages ein attraktives Angebot, und zwar ausgerechnet vom Größten und Stärksten in ihrer Klasse. Er versprach ihr, sie auf dem Heimweg zu beschützen, wenn sie für ihn die Hausaufgaben machen und ihm täglich eine Geschichte erzählen würde. Sie ging auf das Angebot ein und produzierte die Geschichten, die er dann für Butterbrote, Äpfel oder gar für Schokolade verkaufte. Die Sechsjährige gewann so ihr Selbstvertrauen zurück, verlor ihre Ängste und lernte überdies, dass Geschichten "sehr nützlich" sein können.

Reale Sprachwelten

Die Bandbreite von Renate Welshs Veröffentlichungen reicht von Bilderbüchern und fantastischen Erzählungen über Kinder- und Jugendliteratur bis zum historischen Roman. Welsh thematisiert die Welt der Kinder und der jungen Leute – und diese Welt ist nicht immer schön. Ihre Helden sind oft Außenseiter, Schwache, Kranke, Drogensüchtige. Sie selbst sieht sich gerne als Sprachrohr von Randgruppen und schreibt immer wieder von deren Hoffnungen und Träumen, in der Gewissheit, dass "Sprachwelten die reale Welt mit- und umgestalten können" . Dass sich Welsh primär einen Namen als Autorin von Kinder- und Jugendbüchern gemacht hat, akzeptiert sie, nicht aber einen "verdünnten" Literaturbegriff, eine "abwertend gemeinte Abgrenzung" , die die Jugendliteratur als eine quasi unebenbürtige Form des Schreibens betrachtet.

Bis in die 1960er Jahre war die österreichische Kinder- und Jugendliteratur stark pädagogisch ausgerichtet. Sie sollte inhaltlich den Gesetzen der "Wahrheit, Schönheit und Sittlichkeit" entsprechen und von "lauteren, belehrenden Absichten" getragen sein (Richard Bamberger). Die gegenwärtige Jugendliteratur weist hingegen sozialkritische Züge auf, ist offen gegenüber Problemen und Konflikten und stellt vieles in Frage.

Dass die Jugendliteratur heute sogar von der Germanistik zur Kenntnis genommen wird, ist nicht zuletzt den Bemühungen von Renate Welsh zu verdanken. 1994 hielt sie auf Einladung der Universität Innsbruck eine "Poetik-Vorlesung" zum Thema Kinderliteratur, die unter dem Titel "Geschichte hinter den Geschichten" veröffentlicht wurde. Auch Literaturkritik und Feuilleton scheinen die Kinder- und Jugendliteratur entdeckt zu haben. Neuerscheinungen von Welshs Büchern werden von renommierten Zeitungen im Ausland, wie "Die Zeit", "Neue Zürcher Zeitung", "Süddeutsche Zeitung", besprochen und haben dadurch bessere Chancen, von einem breiteren Lesepublikum zur Kenntnis genommen zu werden.

Was könnte man Renate Welsh zum Geburtstag wünschen? Die Antwort fällt nicht schwer. Dass ihre Liebe zu Kindern nie aufhöre und dass Kinder nie aufhören mögen, sie mit ihrer Fantasie zu begeistern.

Lesetipps:

Drei Erzählungen:

"Rotschädlerte Hexerei" (siehe im Internet: http://www.amgs.org/renate_welsh.html )

"Die Ohrfeigen". Aus: Jürgen Koppensteiner (Hg.): Österreich erzählt 2 (Bundesverlag, 1989).

"Die Kriegslinzertorte". Aus: Welshs Buch "In die Waagschale geworfen. Österreicher im Widerstand" (Verlag Jugend & Volk, 1988).

Romane:

"Das große Buch vom Vamperl" (dtv, 2003. Enthält die drei Vamperlbücher.)

"Johanna" (rororo rotfuchs. Neuausgabe.)

"Liebe Schwester". (dtv, 2003. "Ein wunderbar humorvoller Roman über zwei Schwestern und das Leben und die Liebe im Alter", "Süddeutsche Zeitung".)

"Dieda oder das fremde Kind." (dtv, 2006. Autobiographischer Roman über die unglückliche Kindheit einer Achtjährigen.)

Jürgen Koppensteiner, ist Professor für deutsche Sprache und deutschsprachige Literatur an der University of Northern Iowa (USA). Vor kurzem erschien von ihm der Band "Österreich: Ein landeskundliches Lesebuch" im Praesens-Verlag in dritter Auflage.

Printausgabe vom Samstag, 22. Dezember 2007
Online seit: Freitag, 21. Dezember 2007 13:55:00

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