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Nostalgiker der Ewigkeit

Wann ist der Berg erstiegen?  Foto: Bilderbox

Wann ist der Berg erstiegen? Foto: Bilderbox

Von Leopold Federmair

Aufzählung Wenn man die Mitte des Lebens hinter sich hat, beginnt man viele Dinge neu zu verstehen – aber wann ist das, die "Mitte des Lebens"?

In der Ewigkeit ist alles am Anfang, duftender Morgen . . ." – Dieser Satz stammt von Elias Canetti (Aufzeichnungen 1942 – 1985); er hat ihn im Sommer 1945 geschrieben, kurz nach den Atomexplosionen über Hiroshima und Nagasaki, die er keineswegs ignorierte. Das Bild, das der Satz beschwört, erinnert mich an das Bild der Stadt Mexiko vor der Ankunft der Spanier, wie es Diego Rivera an eine Wand dort im Präsidentenpalast gemalt hat: klarer, duftender Morgen; Frühzeit einer später dem Verfall preisgegebenen Gesellschaft.

Die Ewigkeit erstreckt sich nicht nur in eine ferne Zukunft, sondern auch in eine ferne Vergangenheit. Canetti war nicht so naiv, nicht so geschichtsgläubig wie Rivera. Trotzdem wollte er den Glauben an die Paradiese nicht einfach über Bord werfen. Bis zur Mitte seines Lebens stand die Analyse der Macht im Zentrum seines literarischen Tuns; danach nahm die Kritik des Todes diesen Platz ein. Vielleicht ist der Tod ja nur der letzte Inhaber der Macht, sozusagen der Vorgesetzte der vielen kleinen Mächtigen.

Canetti wusste, dass man Paradiese nicht gewinnen kann: man kann sie nur verlieren. Dennoch setzte er alles auf den Kampf gegen den Tod. Er blieb insofern Kind oder wurde es wieder, als er sich in seinem Trotz versteifte. Er lehnte sich gegen das Unvermeidliche auf. Dieser kindliche Starrsinn und Eigensinn schien mir lange Zeit unsinnig. Jetzt nicht mehr, denn ich sehe, dass der Eigensinn Sinn erzeugt, ohne an eine höhere Instanz, einen Altar, einen versiegelten Brief zu appellieren.

Vergänglichkeit

Wann habe ich diesen Gedanken zu denken begonnen? Ich glaube, in der Mitte meines Lebens. In der Mitte des Lebens, obwohl ich weiß, dass kein Mensch diese Mitte selbst bestimmen kann. Es ist schon möglich, dass ich diese Mitte längst überschritten habe; vielleicht aber auch nicht. Canetti verwendete keine, heute kann man sagen: vergebliche Mühe auf das Ausmalen von Utopien. Er will die Zeit vielmehr aus dem Jetztpunkt in die Ewigkeit hinein verlängern. Er notiert alle Anzeichen dafür, dass jemand oder etwas irgendwo der Vergänglichkeit ein Schnippchen geschlagen hat.

Natürlich müssten die Fortschritte der Genforschung bei den Nostalgikern der Ewigkeit, zu denen ich mich zähle, Hoffnungen wecken: Wir setzen uns nicht mehr mittelbar durch das von uns Geschaffene fort, sondern unmittelbar uns selbst. Vor ein paar Jahren hat sich Karl-Markus Gauß in einem Buchtitel über den "Mann, der ins Gefrierfach wollte", lustig gemacht, und ich habe mit ihm gelacht. Es stimmt ja, die Ewigkeit, mag sie metaphorisch verstanden oder in irgendeiner Weise wörtlich gemeint sein, nimmt dem Leben jeden Reiz. Mit dem Risiko schwindet auch der Antrieb, etwas zu tun, zum Beispiel Werke zu schaffen, die ihren Schöpfer räumlich übergreifen oder zeitlich überdauern. Und ganz wörtlich genommen – aber das ist wohl ein Widersinn – macht die Ewigkeit jedes Bemühen unnötig oder unmöglich, überhaupt etwas zu tun, zum Beispiel sich zu ernähren.

Wer unsterblich ist, isst nicht. Ich bin sicher, dass im Paradies der Geschmackssinn verloren geht. Selbst das Raffinement der immer feineren Unterschiede verliert sich in der Unendlichkeit. In der Unendlichkeit ist alles gleich, es gibt keine Unterschiede: Grau in grau, verwaschenes Unschuldsweiß. Auch keine Geschlechtsunterschiede, man reproduziert sich ja selbst. Auch keine Lust, keine Unlust. Keine Spannung, alles erschlafft, schlurft, schläft. In der Hölle haben sich die Gepeinigten längst an die Pein gewöhnt, im Himmel die vom göttlichen Licht Geblendeten an die Finsternis der Blendung.

Sinn für Sterblichkeit

Also in der Mitte meines Lebens habe ich begonnen, Canetti zu verstehen, auch wenn ich nicht wissen kann, wo sie sich befindet, die Mitte des Lebens. Ich weiß sie nicht, aber ich spüre sie. Der Sinn für die eigene Sterblichkeit wächst mit fortschreitendem Leben. Auch die Geschütztesten sehen sich langsam vom Tod bedroht.

In einer Gegend in Oberösterreich gibt es einen "Baum mitten in der Welt" – die Ortschaft ist nach diesem Baum benannt. Natürlich sind derlei Taufakte reine Willkür, vielleicht Wunschdenken, denn kein Ort bildet auf der Erdkugel die Mitte, – oder jeder Ort. Und ich hier bestimme jetzt kraft meiner Willkür: Dieser Moment ist die Mitte meines Lebens. Nicht der erste Tag vom Rest – eine solche Aussage wäre trivial, sie gäbe keine Auskunft; sondern die genaue Mitte: dazu mache ich ihn, diesen Moment, jetzt.

Das, glaube ich, ist die Chance, die Canetti geahnt hat; oder jedenfalls lese ich ihn, Canetti, jetzt so. In dieser Art von Jetzt-Paradies werde ich nicht eingeschläfert, im Gegenteil, ich wache auf. Alles kommt auf meine Aufmerksamkeit an. Ich bin mitten drin, das heißt: ich bin bedroht, das heißt: ich muss um jeden Augenblick kämpfen.

Im Roman "Paradiso" von Lezama Lima gibt es eine wunderbare Geschichte von einem alten Musikkritiker, den seine Frau einschläfert, damit er länger lebt. Der Mann wird 114 Jahre alt, und die Geschichte beweist, dass das ewige Leben eine Mimikry des Todes ist.

Diese Vision, vor einem halben Jahrhundert geschrieben, versucht man heute mit medizinischen Mitteln zu verwirklichen. Encore un petit effort , noch ein kleiner Fortschritt, und die westliche Welt wird von zeitlosen Zombies bevölkert. Jetzt bin ich wieder bei Gauß und lache über mich selbst. Es kommt noch die Zeit, da werden wir uns die todbringenden Krankenschwestern zurückwünschen.

Leopold Federmair, geboren 1957 in Oberösterreich, ist Schriftsteller, Essayist, Kritiker und Übersetzer. Er lebt in Wien und Osaka, und hat Essaybände und Romane veröffentlicht.

Printausgabe vom Samstag, 21. Juli 2007
Online seit: Freitag, 20. Juli 2007 16:32:00

Lexikon



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