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Julian Schutting: Jäger, Sammler und Hüter

Julian Schuttings literarische Devise: Ich ist kein anderer.  Foto: Marko Lipus

Julian Schuttings literarische Devise: Ich ist kein anderer. Foto: Marko Lipus

Von Astrid Graf-Wintersberger

Aufzählung Julian Schutting wird am 25. Oktober 70 Jahre alt: Seine langjährige Lektorin würdigt diesen stillen, empfindsamen österreichischen Schriftsteller und sein Werk, das dem Leben, dem Tod und der Liebe nachspürt.

"Heute habe ich einen Schriftsteller eingeladen", verkündete der Leiter eines Seminars über Ludwig Wittgenstein, "nämlich Julian Schutting". Bei dessen Anblick hatte ich ein Déjà-vu-Erlebnis: allein, dem Menschen fehlte etwas zum vollständigen Erinnerungsbild, und dieses Etwas war ein Hund. Ein Hund, der Geschichte schreiben sollte. Aber das wusste ich damals noch nicht, als ich ihn in schöner Regelmäßigkeit mit diesem Dichter durch unsere Gassen streifen sah.

Später hatte ich als Lektorin im Residenz Verlag meinen ersten Text von Julian Schutting zu bearbeiten – und traute mich nicht recht an ihn heran. (Geschriebenes pflegt er mit J. Sch. zu zeichnen, und so soll er im Folgenden auch genannt werden.) Seine Manuskripte waren eine gute Schule für Lektoratsnovizen. Zum einen reizte die eigenwillige Satzstellung dazu, sich einzubringen und ungebührlich zu glätten, so lernte man sich zu mäßigen. Zum anderen hatte J. Sch. die Angewohnheit, in seinen – stets auf der mechanischen Schreibmaschine abgefassten – Texten handschriftlich Hakerl zu plazieren, überall dort, wo er sagen wollte: Deiner-einer mag das für einen Fehler halten, aber ich will es genau so. Als Mittelschulprofessor, der er im "Hauptberuf" war, kannte er wohl den Übereifer des Rotstifts.

Unterwegs sein

Das erste Buch, das ich zu betreuen hatte, hieß "Reisefieber" – Erzählungen, Skizzen vom Unterwegs-Sein. Es ist in vieler Hinsicht paradigmatisch für J. Sch.s Leben und Werk. Er ist kein Autor, der am Schreibtisch sitzt und komplexe Romankonstrukte entwirft, sondern ein literarischer Jäger und Sammler. Wo er hinkommt, liest er Bilder auf, Szenen, Dialoge und wirft sie in eine gedankliche Botanisiertrommel.

Das Selbsterlebte ist stets als solches erkennbar. Man läuft nicht Gefahr einer ungebührlichen Verwechslung von Autor und Ich-Erzähler, denn die Affinität zwischen beiden ist klar: Ich ist kein anderer. Beschreibend die Dinge begreifen, in einem Ton, der nie pointiert sein, nie den Nagel auf den Kopf treffen will, sondern sich herantastet an das zu Erkennende. Oft fehlt den Absätzen der Schlußpunkt, weil es nicht darum geht: einen Punkt zu machen, sondern des Lesers Gedanken anzuregen, eigene Wege einzuschlagen.

In diese Reise-Welt hatte ich mich also eingelesen, als ich mit J. Sch. die Erzählungen aus Warschau und Rom, Santorin und Südtirol durchging. Es war vermutlich über diesem Buch, dass wir uns lachend einigten: " Venedig " lässt sich auch bei der vierten Wortwiederholung nicht durch " die Lagunenstadt" ersetzen. Ein Text, der "die Lagunenstadt" zulässt, erlaubt auch einen " Drahtesel " oder einen " Glimmstängel " und gehört definitiv nicht in das Sprachspiel, wie Wittgenstein sagen würde, wo die Texte von J. Sch. spielen. Zu Tode bemühte Umschreibungen gibt es da nicht, sie sind nicht vereinbar mit der Neugier des Betrachters.

Man könnte im Werk von Julian Schutting zwischen Büchern Paare bilden: zwischen "Hundegeschichte" und "Katzentagen", zwischen dem Buch vom Vater und dem vom Tod der Mutter, zwischen dem "Liebesroman" und dem zuletzt erschienen Werk "Zu jeder Tageszeit".

Die Protagonistin der "Hundegeschichte" ist Polly, ein Pflege- oder Leihhund. Es ist eine Liebesgeschichte und eine Geschichte vom wechselseitigen Wachsen an der neuen Beziehung, sie erzählt von einer Mensch- und von einer Hundwerdung. Für den Menschen ist es eine Erziehung der Gefühle, und der Hund darf erstmals Hund sein.

Aber weil die Liebesgeschichte mit dem Hund von einer Liebesgeschichte mit einem Menschen unterlegt ist, mit der Besitzerin, wird die eine von der anderen mitbestimmt und um ihr Happy End gebracht. Während in der "Hundegeschichte" eine Beziehung vorgeführt wird, nimmt in den "Katzentagen" der Autor eine Beobachterrolle ein. Die Tiere sind zu zweit, und er ist als Kurzzeit-Sitter bestellt, da gibt es keinen Anlass, sein Herz zu verlieren. Aus den Katzen spricht auch nicht das Glück, einen Lebensmenschen gefunden zu haben, sie legen sich zu jedem ins Bett und auf den Schreibtisch.

Abschied nehmen

Julian Schutting betätigt sich mit Vorliebe als Hüter, wenn nicht von anderer Leute Getier, dann von deren Häusern und Gärten. Das Buch "Wasserfarben" erzählt von solchen Sitterdiensten am Ferienhaus einer "Freundin". In gewisser Weise bilden die "Wasserfarben" ein Paar mit dem "Reisefieber", nach dem Motto: Wozu in die Ferne schweifen?, oder profaner: mach Urlaub in Österreich. Das naheliegende Gute ist hier das Salzkammergut, der Wolfgangsee und die umliegenden Berge und Almen. Doch das Glück ist ebensowenig von Dauer wie die gemeinsame Zeit mit Polly: Der Nachbar metzelt die alten Bäume nieder, die "Freundin" erträgt den Anblick nicht und verkauft das Haus.

Verluste sind Anlässe, Verlorenes festzuhalten, etwas von dem, was nicht mehr ist und nicht mehr sein wird, in einem Buch zu verewigen. Der Tod eines Elternteils bringt einen unvergleichlichen Einschnitt ins Dasein: sowohl der Umstand, dass derjenige, dem man das Leben verdankt, nun nicht mehr da ist, als auch der Prozess seines Sterbens.

"Der Vater" (1980) versammelt Momentaufnahmen und Erinnerungen, Träume, willkommene Ablenkungen in den Tagen zwischen dem Tod des Vaters und seinem Begräbnis. Als Tierarzt und passionierter Jäger war Vater Schuttting kein zart besaiteter Mann, und so fällt auch der Katalog seiner Schandtaten nicht zu knapp aus, wenngleich es nicht um eine Abrechnung geht, sondern um die Vergewisserung, dass dieser Abschied ein endgültiger ist. Öfter schon war er in der Kindheit geprobt worden, wenn der Vater in den Krieg zog, doch damals hatte ein Gedanke vorgeherrscht: " wie furchtbar ein Abschied von der Mutter wäre."

Um den letzten Abschied von der Mutter geht es, siebzehn Jahre später, in dem Buch "Der Tod meiner Mutter"; hier wird nicht post mortem rekapituliert, sondern am Sterben entlang geschrieben. Als sie bettlägrig wird, gilt es die Sterbende, deren baldiges Ende man mit medizinischer Gewissheit vor sich sieht, nicht spüren zu lassen, dass man Angst um sie hat.

Ein literarisches Requiem ist auch das Buch "Salzburg, retour", der Bericht einer Reise nach Salzburg zu einem Treffen mit der Lektorin Gertrud Frank. Er erzählt von der schüchternen Annäherung zweier Menschen, die eine spontane Sympathie verbindet; sie hätte der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein können, wäre sie nicht getrübt gewesen durch die Ahnung eines baldigen Endes. Wie wenige ist Julian Schutting ein Denkmal-Setzer, ein begnadeter Finder der rechten Worte des Adieu.

Die Begabung, sich ebenso herzlich wie frei von Sentimentalität zu verabschieden, zeigte sich auch in einer Rede, gehalten für Wolfgang Schaffler, seinen Verleger, als dieser ankündigte, sich ins Privatleben zurückzuziehen. Am 31. März 1989 findet zu seinen Ehren ein Fest statt. J. Sch. stellt in Form eines lyrischen Briefes Fragen eines schreibenden Arbeiters. Da heißt es: " Wer wird in Hinkunft als niemals abgebrühter Routinier, vor jeder Schnaggerlveranstaltung nervös sein, (. . .) wer wird Salzburger Äpfel mit Salzburger Büchern nach Frankfurt mitnehmen?" Es ist ein kurzer Brief zum langen Abschied: Am 22. April stirbt Wolfgang Schaffler.

Mit Übereinstimmungen und Zu jeder Tagezeit kehrt J. Sch. zu seinem großen Thema zurück. Zu jeder Tageszeit ist, fast ein Vierteljahrhundert nach dessen Erscheinen, der Nachfolger des "Liebesromans" (1983). Die "Übereinstimmungen" (2006) sind eine schüchterne, keusche Einstimmung darauf, eine Art Vorfühlen, ein erstes Bekenntnis.

Sehnsucht haben

"Der Held dieses Romans ist die Liebe selbst" , hieß es im Klappentext zum "Liebesroman", das ist eine hübsche Formulierung mit einem ironischen Unterton, denn es ist klar, dass es sich zum einen bei dem Buch mit der schlichten Gattungsbezeichnung um keinen Roman im engeren Sinn handelt. Zum anderen wird deutlich, dass der eigentliche Held, ein junger Maler, nur ein Platzhalter ist, es geht nicht um ein imaginiertes Liebesszenario, sondern um die Liebe, und diese ist, wie könnte es anders sein, die des Autors. Dass das in vergleichbaren Texten stets unverblümt sich präsentierende Autor-Ich hier bis zur Kenntlichkeit maskiert erscheint, macht den "Liebesroman" zu einer Ausnahme im Werk, die die Regel bestätigt. Die Angebetete ist um einiges älter und von dem fieberhaften Werben des jungen Mannes gleichermaßen verstört wie bezaubert. Das Cover des Buches: blau und rot mit einer silbernen Welle und einem Mond in Form eine Sichel, wobei jedoch die volle Gestalt angedeutet ist: ein treffendes Bild für diese Liebe, bei der die Vollform zu ahnen ist, aber unerreicht bleibt.

In der Welt des Films würde man "Zu jeder Tageszeit" ein Remake des "Liebesromans" nennen; ähnlicher Plot mit veränderten Darstellern, genauer, mit einer veränderten Hauptdarstellerin: eine Mitschrift des täglichen und nächtlichen Liebens, ein Tagebuch des Begehrens, ursprünglich nur für jene gedacht, die es betrifft. "Liebe mondscheinige Federica", bekennt er, "länger als lang ist es her, dass ich ähnlich geliebt habe; nämlich eine, die wie du zum Mond aufgeschaut hat, wie nur du nach ihm Ausschau hielt": da haben wir sie, die Brücke zum "Liebesroman": zu dem Mond, der eine Sichel ist, mit der Hoffnung aufs Ganze und der schneidenden Ungewissheit. In diesen Büchern erweist sich J. Sch. als einer, der über ein rar gewordenes Gut verfügt und es der Geliebten im Übermaß zu geben bereit ist. Er schenkt ihr Zeit: Gedankenzeit, Arbeitszeit, Lebenszeit. Heute wie vor 25 Jahren.

70 Jahre, und kein bisschen . . .

Astrid Graf-Wintersberger, geboren 1963. Studium der Philosophie in Wien und Chicago. Von 1987 bis 2006 Lektorin, später Programmleiterin im Residenz Verlag. Seit 2007 freischaffende Lektorin, Autorin, Übersetzerin.

Printausgabe vom Samstag, 20. Oktober 2007
Online seit: Freitag, 19. Oktober 2007 13:19:34

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