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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Eine Erinnerung an den in dieser Woche verstorbenen Schriftsteller Stanislaw Lem

Der Sokrates von Krakau

Äußerst belesen: Stanislaw Lem in seinem Arbeitszimmer in Krakau, 1975. Foto: Reuters/Jalusinski

Äußerst belesen: Stanislaw Lem in seinem Arbeitszimmer in Krakau, 1975. Foto: Reuters/Jalusinski

Von Peter Haffner

Er könne, pflegte er zu sagen, mit Wissenschaftern fast jeden Gebietes zwanzig Minuten lang fachsimpeln, ohne dass diese merken würden, dass er nicht vom Fach sei. Stanislaw Lem wusste, wer er war; ein Genie, das sich früh zeigte. 1921 als Sohn eines polnisch-jüdischen Arztes im galizischen Lemberg, dem heutigen Lwiw, geboren, galt der kleine Lem mit einem Intelligenzquotienten von 180 als das gescheiteste Kind weit und breit; ein "Monster" , wie er sich in seinen wunderlich-schönen Kindheitserinnerungen "Das Hohe Schloss" (1966) selbst nennt. Unbändiger Wissensdurst und eine ungezügelte Phantasie setzten die Kräfte frei für das literarische und philosophische Werk, das der vergangenen Montag in Krakau im Alter von 84 Jahren Verstorbene hinterlässt. Er persönlich hat es augenzwinkernd mit den Pyramiden verglichen – das Publikum solle davor stehen und sich fragen: Wie hat der das bloß gemacht? Wie auch immer – sicher auf amüsanteste Weise.

Verachtete Science fiction

Lem zu lesen, ist ein intellektuelles Vergnügen ersten Ranges; der Autor von gut drei Dutzend Büchern, die in einer Weltauflage von 27 Millionen erschienen und in vierzig Sprachen übersetzt sind, weiß auch dort zu unterhalten, wo es um die letzten Dinge geht – etwa um die Kant‘schen Fragen, was der Mensch ist, was er wissen kann, hoffen darf, tun soll. Zur Erörterung solcher Themata wählte Stanislaw Lem die Science fiction, ein Genre, das er verachtete und in dem er sich als "Philosoph im Ramschladen" sah. Die Gattungswahl entsprach sowohl seiner Neigung zu Gedankenexperimenten wie sie politischen Umständen geschuldet war. Lems erster, realistischer Roman, "Das Hospital der Verklärung", war 1948 von der kommunistischen Zensur verboten worden und konnte erst 1975 erscheinen. Dessen Aussage, dass es eine Frage des Charakters und nicht der politischen Ideologie sei, wie sich Menschen angesichts eines Terrorregimes wie jenem der Nazis im besetzten Polen verhielten, war den neuen Machthabern suspekt. Im Sowjetimperium ist Lems Werk in der Folge denn auch stets als Anklage und Satire auf die herrschenden Zustände gelesen worden.

Nur ganz am Anfang, etwa im Roman "Die Astronauten" (1951), hat Lem Konzessionen an die sozialistische Doktrin gemacht. Sein internationaler Ruf und das im Vergleich zu anderen Ostblockstaaten liberale kulturelle Klima in Polen sorgten dafür, dass er sich bald frei entfalten und sowohl im östlichen wie im westlichen Ausland publizieren konnte. 1976 verlieh ihm die Heimat den Großen Staatspreis für Literatur.

Doch nachdem am 13. Dezember 1981 der Kriegszustand ausgerufen worden war, mochte er den intellektuellen Nahrungsentzug, den das Militärregime mit sich brachte, nicht erdulden und emigrierte 1983 nach Wien, wo er mit seiner Frau und seinem Sohn bis 1988 blieb. Mit Österreich, dem Gastland, verband ihn die dort verbreitete Weltsicht, dass die Lage zwar hoffnungslos, aber nicht ernst sei. 1985 wurde Lem mit dem Großen Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur, 1991 mit dem Österreichischen Kafka-Literaturpreis geehrt.

Lems Satiren blieben subversiv, und sie haben die Absurditäten des sozialistischen Wahns so methodisch entblößt, wie das eine direkte politische Anklage nicht vermocht hätte. Als 1989 das Sowjetsystem wie ein Kartenhaus zusammenbrach und die freie Markwirtschaft die Gesellschaften des Ostens mit der Wucht eines Hammers traf, hat Lem im Gespräch jedoch bisweilen selbstzweiflerisch geäußert, seine Beschäftigung mit Science fiction sei vielleicht eine Art von Eskapismus gewesen. Seine Enttäuschung darüber, dass seine Bücher aus den Regalen verschwanden und marktschreierischer Trivialliteratur amerikanischer Provenienz Platz machten, konnte er nicht verbergen. Umso mehr genoss er es, dass er wenige Jahre später wieder zur gefragten Autorität wurde; ein weltlicher Papst Polens, dessen Meinung zu allem Möglichen die Medien einholten in einer Zeit, in der alles im Umbruch und die Zukunft ungewiss war.

Dass Lems Werk aber Weltliteratur ist und damit weit mehr als eine Reflexion auf unhaltbare gesellschaftliche Zustände, verschaffte ihm Popularität bei einer Leserschaft, die vom abenteuerbegeisterten Jugendlichen bis zum verdienten Physiker und Philosophen reicht. Darwins Evolutionslehre, Norbert Wieners Kybernetik und die mathematische Spieltheorie sind nicht nur die Paradigmen, die Lems Denken zugrunde liegen, sondern auch Inspiration dafür, jede Nische literarischen Schaffens zu besetzen – Gedichte, Humoresken, Märchen, Fabeln, Erzählungen, Romane, Hör- und Fernsehspiele, Essays und philosophische Abhandlungen bilden den Korpus des Werkes. Formal konventionell, lotet es inhaltlich mehr das aus, was möglich, als das, was wirklich ist: Lem war, im Musilschen Begriff, der Prototyp eines Menschen mit Möglichkeitssinn. Seine Rezensionen ungeschriebener Bücher, publiziert in den Sammlungen "Die Vollkommene Leere" (1971) und "Imaginäre Größe" (1973), sind ein faszinierender Beleg dafür.

Phantastische Exkursionen

Dass er die geistige Nahrung, die er auf seinem intellektuellen Werdegang absorbierte, heutzutage niemals verdauen könnte, hat er immer wieder betont. Paradoxerweise war es gerade die Beschränkung des Sozialismus, die ihm zu so umfassenden Kenntnissen verhalf; außer Lesen gab es wenig Aufregendes zu tun im Arbeiter- und Bauernparadies. Im Krakauer Konservatorium für Wissenschaftslehre, dessen Leiter Mieczyslaw Choynowski er in den Nachkriegsjahren assistierte, hatte sich der ehemalige Medizinstudent Lem in die Fachzeitschriften und Neuerscheinungen aus Physik, Biologie, Kosmologie und Philosophie vertieft, die das Grundlagenmaterial für seine phantastischen Exkursionen und Experimente bildeten. Seine nicht minder solide Kenntnis der Belletristik offenbart der autobiographisch aufschlussreiche Band "Lem über Lem" (1984), das fast vierhundertseitige Protokoll eines Gesprächs mit dem Literaturkritiker Stanislaw Beres. Wahre Größe zeigt sich, was die schöne Literatur angeht, nicht zuletzt im Stil. In den "Sterntagebüchern" (1957), den "Robotermärchen" (1964) oder der "Kyberiade" (1965) hat Lem existenzielle und erkenntnistheoretische Fragen mit so leichter Feder erörtert, dass jedes aufgeweckte Kind daran Gefallen findet; nur der geistes- und naturwissenschaftlich versierte Leser erahnt, welche Bibliotheken sich dahinter verbergen, die der enzyklopädisch gebildete Verfasser verdaut hat. Lems "Geschichten vom Piloten Pirx" (1968) sind in Polen heute Schullektüre.

Getreu dem klassischen Bildungsroman des 19. Jahrhunderts, der Selbsterfahrung als Welterfahrung begreift, begleiten wir den Raumfahrer Pirx auf seinem Weg vom Kadetten zum Kommandanten. Ein Held der Technik, ist er doch kein Technokrat; in jungen Jahren fortschrittsgläubig, wird Pirx zum Skeptiker, der in der angeblich unfehlbaren Maschine den Menschen entdeckt, der sie konstruiert hat – und dem ja, wie das Sprichwort sagt, der Irrtum wesenseigen ist.

In dieser Erkenntnis gründet Lems Pessimismus; enttäuschter Weltverbesserer, der er ist, hat er früh erfahren, dass der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist. Die "Experimenta Felicitologica" aus der Kyberiade wie die Versuche in "Transfer" (1974) und "Lokaltermin" (1985), das Böse mittels "Betrisierung" oder der Schaffung einer "Ethikosphäre" aus der Welt zu schaffen, sind notgedrungen zum Scheitern verurteilt. Lem wäre nicht Lem, wenn wir dabei nichts zu lachen hätten.

Die drei großen quasiwissenschaftlichen Werke von Lem, "Summa technologiae" (1964), "Philosophie des Zufalls" (1968) und "Phantastik und Futurologie" (1970), haben kaum Eingang in die akademische Welt gefunden, nicht zuletzt deshalb, weil der Autor deren Regeln verletzt und seine Theorien ohne Herleitungen oder Quellenangaben präsentiert. Doch sie gehören zu der Art von Büchern, von denen Lichtenberg bemerkt hat, dass nur ihre Anmerkungen schon den Stoff bieten, den mindere Autoren zu ganzen Bänden auswalzen. Schließlich hat man das auch in den Elfenbeintürmen der Universitäten wahrgenommen; in seinen letzten Jahren ist Lem für seine Leistungen mit Ehrendoktoraten überhäuft worden.

Mehr als das hat dem Gefeierten jedoch die Tatsache Genugtuung verschafft, dass sich seine Prognosen über virtuelle Realität, Gentechnologie und Informationsrevolution erfüllt haben. Wenn auch nichts so rasch veraltet wie die Zukunft – im Falle Lems hinkt der Fortschritt seiner Phantasie immer noch hinterher.

Meisterwerk "Solaris"

Als Schöpfer von möglichen Welten neben der angeblich besten, in der wir leben, hat Lem die moralischen Fragen, die am Anfang seines Werkes standen, nie aus den Augen verloren. In der Tatsache, dass der Mensch die anpassungsfähigste Spezies dieses Planeten ist, hat er Gefahr gewittert; wer so flexibel ist wie wir, muss auch eine dehnbare Moral haben. In der Konfrontation mit dem "ganz Anderen", wie sie beispielsweise der Roman "Solaris" (1961) schildert, begegnet der forschende Mensch letztlich sich selber; die Grenzen seiner selbst sind die Grenzen seiner Gattung. Der rätselhafte Ozean auf dem fremden Planeten, ein Lebewesen mit der Fähigkeit, schicksalshafte Gestalten aus der Psyche seiner Erforscher zu materialisieren, stellt diese auf eine Probe, die ihren Erkenntnishorizont übersteigt. Das Buch, ein literarisches Meisterwerk, besticht durch seine kristalline Klarheit und die eindringliche Darstellung von Motiven wie Freuds Unbewusstem und Kants Ding an sich. Andrej Tarkowskis kongeniale Verfilmung von 1972 hat Lem ihrer religiösen Akzente wegen missfallen; Steven Soderberghs Adaption von 2002, die das Ganze auf eine Liebesgeschichte reduziert, hat er dann mit der Milde des Alters das Recht auf "künstlerische Freiheit" zuerkannt.

Wer in den Genuss einer Privataudienz beim "Sokrates von Krakau" kam, wie Lem bisweilen genannt wurde, durfte einen höchst witzigen Gastgeber erleben, der einen einstündigen Vortrag über den Kosmos und die Weltlage halten und sich dann ausgiebig darüber wundern konnte, dass es in der Schweiz keinen polnischen Weißkäse gibt. Was die Zukunft betreffe, pflegte er die ratsuchenden Pilger aus aller Welt zu trösten, könnten sie von ihm alles über die nächsten tausend Jahre, jedoch rein gar nichts über den morgigen Tag erfahren.

Peter Haffner , 1953 geboren, ist Journalist und lebt in der Nähe von San Francisco.

Printausgabe vom Samstag, 01. April 2006
Update: Freitag, 31. März 2006 16:33:00

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