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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Harars Hyänen

Ein Augenpaar leuchtet in der Dunkelheit auf – und Addis, der "Hyänenmann", wird seinem Ruf gerecht. Foto: Zinggl

Ein Augenpaar leuchtet in der Dunkelheit auf – und Addis, der "Hyänenmann", wird seinem Ruf gerecht. Foto: Zinggl

Von Martin Zinggl

In der äthiopischen Stadt Harar wird ein nächtliches Stelldichein mit den Aasfressern als Touristenattraktion zelebriert.

Ein kühler Abend im östlichen Hochland Äthiopiens. Auch wenn sich Harar außerhalb seiner mittelalterlichen Mauern bereits zu einer modernen Stadt entwickelt hat, steht das Leben in der Altstadt still, und zwar schon seit einigen Jahrhunderten: Ein paar Ziegen im Schatten verrosteter Wellblechdächer, Frauen sitzen in weiten, mit Gold bestickten Gewändern aus purpurfarbener, oranger oder türkisblauer Seide auf ausgebreiteten Tüchern. Sie verkaufen kunstvoll gefertigte Korbflechtarbeiten und Silberschmuck. Männer kauen traditionsgemäß Qat -Blätter, eine pflanzliche Rauschdroge. Und sie brauen Quti , ein mit Kaffeeblättern aufgekochtes Getränk, das mit oder ohne Salz getrunken wird.

Ruhe und Harmonie werden nur von kreischend umherlaufenden Kindern eine Zeitlang gestört, ehe diese durch die kleinen Eingangstüren in den weißgekalkten Harari-Häuschen verschwinden. Bunte Holzbalkone verzieren die Fassaden. Palmen, Akazien und Eukalyptus schmücken die Straßen. Üppige Blätterdächer hängen weit über die Gehsteige hinaus. Hin und wieder sieht man Kamele oder Esel in den kopfsteingepflasterten Gässchen. Aufgrund der einzigartigen Qualität traditioneller muslimischer Architektur verlieh die UNESCO Harar 2006 das Prädikat "Weltkulturerbe".

Als die Sonne hinterm Horizont verschwindet und die Nacht beginnt, ergreift Addis einen aus einem alten Benzinkanister gebastelten Kübel und verabschiedet sich von seiner Frau. In dem Kübel befinden sich Tierabfälle: Ziegenknochen mit Fleischresten, Häute von Kamelen und Kühen, Schafsinnereien.

Wie jeden Abend wird Addis außerhalb der alten Stadtmauer von Harar eine Nebenrolle in einem kurios anmutenden Tourismusspektakel spielen. Nachdem er auf einem großen Stein Platz genommen hat, lassen auch die Hauptdarsteller nicht mehr lange auf sich warten. Addis kreischt ein paar irritierende Laute in die schwarze Nacht hinein. Angeblich ruft er die Namen der Protagonisten. Ein paar herumstreunende Hunde bellen und keifen. Die Stimmung ist irgendwie mystisch und angespannt. Irgendetwas liegt in der Luft. Das wissen auch die Zuschauer.

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Hin und wieder begegnen einem Kamele oder Esel in den Gässchen von Harar, das 2006 das Prädikat "Weltkulturerbe" erhielt. Foto: Zinggl

Bewaffnet mit Stirnlampen, Kameras und "Lonely Planet"-Reiseführern sitzen die Schaulustigen nur wenige Meter von Addis entfernt, der wie ein Popstar seinen Platz auf der Bühne eingenommen hat. Doch Addis ist kein Popstar, sondern ein äthiopischer Hirte, und seine Bühne die trockene Halbwüste Harars.

Und dann blitzen ein paar leuchtende Augenpaare in der Dunkelheit auf und reflektieren das Licht der Stirnlampen des Publikums. Langsam lösen sich Schatten aus dem pechschwarzen Hintergrund und dann treten fünf höllenhundähnliche Gestalten leise und langsam auf uns zu. Ihre wuchtigen Schädel gesenkt, schielen sie ab und zu nach oben. Schritt um Schritt schleichen sie sich näher an Addis heran, der jetzt lässig eine Knochenkeule in seiner Hand hält. Blut tropft auf den staubigen Boden.

Blutige Einladung

Ein Dutzend Menschen verfolgen atemlos aufmerksam mit Videokameras und Fotoapparaten die Bewegungen der seltsamen Geschöpfe. Den Schwanz zwischen den Hinterbeinen eingeklemmt und die kleinen Ohren gespitzt, starren die gefleckten Kreaturen ihr menschliches Gegenüber mit boshaftem Blick an.

Noch etwas vorsichtig, trauen die Unwesen der blutigen Einladung zunächst nicht so recht, aber die Gier ist stärker. Eine rund siebzig Kilogramm schwere Tüpfelhyäne schnappt geschwind und geschickt nach Addis Keule und bohrt ihre Zähne hinein. Ein Blitzlichtgewitter folgt. Die Hyäne aber schrickt nicht zurück, sondern hoppelt, den Knochen im Maul, eilig im Rückwärtsgang davon. Ein paar Meter weiter entfernt verschlingt sie die Beute hastig, um wieder zu kommen und ein neues Stück zu ergattern.

Ein paar solche Auftritte lang dauert die Vorstellung. Mittlerweile sind schon ein Dutzend Hyänen eingetroffen. Ruhig und gelangweilt nimmt Addis ein Stück nach dem anderen aus dem Kübel und füttert die domestizierten Wildtiere wie ein Dompteur von Hand. Später, zum Erstaunen der Zuseher, sogar von Mund zu Mund. Eifersüchtig grummeln die Hunde und beobachten ängstlich das bizarre Spektakel. Seelenruhig stolzieren die sichtlich zufriedenen Hyänen an ihnen vorbei. Ihr Auftritt ist eine Provokation.

Schließlich werden sogar Touristen gebeten, an dieser surrealen Begegnung zwischen Mensch und Tier persönlich teilzunehmen – ganz so, wie es "Lonely Planet" verspricht. Während die Fütterung für die meisten ausländischen Gäste ein gewaltiges Abenteuer ist, gesellen sich jetzt ein paar Harari gleichgültig zur Gruppe und beobachten distanziert das Spektakel. Dass sich Addis täglich aufs Neue zum Clown für die Touristen macht, hat anscheinend einen traditionellen Hintergrund.

Der Legende nach wurden Hyänen früher regelmäßig von Harars Bewohnern gefüttert, um so zu verhindern, dass sie nachts Tiere reißen oder gar schlafende Menschen attackieren. Denn Hyänen können mit ihrem kräftigen Gebiss sogar Elefantenknochen durchbeißen.

Obwohl Jahrhunderte lang (kultur-)unabhängig, entwickelte sich Harar zu einem Zentrum der streng islamischen Wissenschaften. Mehrere hundert, teilweise noch aus dem 10. Jahrhundert stammende Moscheen, Gräber und Sufischreine verehrter lokaler Heiliger schmücken die Altstadt. Nicht nur für äthiopische Muslime gilt Harar, die "heilige Stadt", daher als eines der einflussreichsten und wichtigsten spirituellen Zentren des Islam weltweit.

Für Europäer blieben Harars Tore bis zu der unter Kaiser Menelik II. erfolgten Angliederung Harars an Äthiopien allerdings verschlossen. Der Ruf der verbotenen, geheimnisvollen Stadt wird heute vor allem von der Tourismus-Werbung ausgeschlachtet – und zwar erfolgreich. Doch mit dem Öffnen seiner Pforten und der Ankunft ausländischer Gäste zog auch so manche Veränderung in den Stadtstaat ein.

"Zweimal jährlich findet die Fütterung als Zukunftsorakel statt", erklärt Dawid, einer der gelangweilten Hararis und zieht an einer selbstgedrehten Zigarette. Seine Begeisterung für Mozart bekundet der 21-Jährige durch den Aufdruck auf seinem T-Shirt, wo die Anfangsnoten der "Kleinen Nachtmusik" zu sehen sind. "Klar machen wir das hier für die Touristen", sagt er, "die Hyänen sind die Attraktion in Harar. Touristen bringen Geld und schaffen Arbeitsplätze". Doch leider bewirken sie auch Korruption und Dreistigkeit.

Jagd auf Touristen

Im frühen Morgengrauen, als noch Nebel über der Stadt liegen und einige Marathonläufer bereits ihr Training aufgenommen haben, umringen unzählige Menschen am Busbahnhof die eintrudelnden Busse. Touristguides, Gepäckträger und Besserwisser stürzen sich auf die Neuankömmlinge, wie ausgehungerte Hyänen auf ein Stück Fleisch. Die Szene erinnert an Addis Abendvorstellung. "Da wird gefeilscht und gelogen, nur um ein paar Dollar rauszuholen", meint Dawid. "Eine Fahrt mit der Rikscha die Straße hinauf kann dann sogar sechs Dollar kosten. Auch wenn du wild dagegen protestierst."

Die wirklichen Hyänen kennen das Ritual natürlich längst und spielen gerne mit. Gehorsam folgen sie Addis Rufen. Schließlich bekommen sie von ihm kostenloses Fressen. Einige Tiere kichern. Es klingt wie zufriedenes Lachen, als ob sie die Touristen verhöhnen wollten.

Ist das Spiel mit den Raubtieren Mut, Leichtsinn oder Dummheit? "Nichts davon", versichert Addis. "Ich lebe einfach davon. Es ist gutes, schnell verdientes Geld." Über zwanzig "Hyänenmänner" soll es in Harar schon geben. Gefahr von Jägern drohe nicht, meint Addis. "Die kennen mich doch und sind das Theater gewöhnt. Sie würden es nie wagen, mich zu attackieren", sagt er selbstsicher. Über die Sicherheit der Touristen verliert der Hyänenmann kein Wort.

Harars Hyänen sind aber nicht nur Objekte des touristischen Interesses. Sie haben seit altersher eine gewissermaßen sozialhygienische Funktion und gehören zum Inventar des Stadtlebens. Nachts, wenn die sieben mächtigen Holztore verschlossen sind, kriechen die Tiere durch Löcher in der gewaltigen Mauer und durchstreifen auf der Suche nach essbaren Abfällen die engen, verwinkelten Gassen der Altstadt. Diese Löcher wurden bereits zweckgemäß vor Hunderten von Jahren von den Stadtbewohnern in die Mauern geschlagen. Als animalische "Müllmänner" reinigen die Aasfresser Harar von den übel riechenden Abfällen. Außerhalb der Stadtmauer zanken sich die Hyänen dann um Essensreste. Als das Morgengebet des Muezzin ertönt, kämpfen drei Hyänen mitten am roterdigen Fußballplatz um einen Kamelkopf.

Nachdem auch der letzte Happen verschlungen und Addis’ Fütterung vorbei ist, verschwinden die Hyänen in der kalten, kargen Steppe. Knapp eine Stunde dauert die Vorstellung, ehe abgerechnet wird. Fünfzig äthiopische Birr pro Zuschauer, umgerechnet etwa drei Euro sind zu zahlen. Viel Geld für Äthiopier und anscheinend auch für die Gäste aus Deutschland. Man streitet über den Preis, weil es keinen Gruppenrabatt gibt. Gezahlt wird schließlich murrend, aber doch. Wo gibt es denn sonst noch so eine tolle Show?

Zufrieden mit dem Kopf nickend, nimmt Addis das Geld entgegen und steckt es in die Brusttasche seines zerschlissenen Hemdes. Den leeren Kübel in seiner linken Hand haltend, verschwindet der Hyänenmann in der Dunkelheit.

Martin Zinggl, geboren 1983 in Wien, ist Diplomand am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien und Dokumentarfilmer.

Printausgabe vom Samstag, 06. März 2010
Online seit: Freitag, 05. März 2010 14:36:00

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