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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Vor 200 Jahren kam Hans Christian Andersen auf die Welt

Erschriebenes Glück

Von Otto A. Böhmer

Manchmal muss man abheben vom vertrautem Terrain, um sich neu zu entdecken und als den wiederzufinden, der man ist. In anderer Umgebung wird das Vertraute weniger vertraut, es mischt sich mit Neuem, das die Eindrücke besetzt, ohne das Althergebrachte vergessen machen zu können. "Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen", heißt es, womit allerdings nicht gesagt ist, dass Reiseberichte interessanter sein müssen als Kolportagen aus der Nachbarschaft.

Der dänische Dichter Hans Christian Andersen, der vor allem als Märchenerzähler bekannt wurde, obwohl er weit mehr war als das, findet erst auf Reisen wieder ins Schreiben zurück, in das er zuvor bereits beträchtlichen Mitteilungsdrang investiert hat.

Andersen reist nicht freiwillig; am liebsten möchte er, der schon immer ein berühmter Dichter sein wollte, zu Hause im überschaubaren Dänemark bleiben und alles aufschreiben, was ihm so in den Sinn kommt. Es kommt aber nicht mehr viel; Andersen, gerade einmal 28 Jahre alt, hat sich verausgabt. Ein väterlicher Freund, der Literaturkritiker Ingemann, gibt es ihm den schriftlichen Rat: "Pfeifen Sie auf das ganze leere gesellschaftliche Leben und nehmen Sie kein Flugblatt in die Hand! Kümmern Sie sich weniger um den Poeten und den Kranz, aber dafür umso mehr um die Poesie! Aber schlitzen Sie nicht den Singvogel auf, um alle seine goldenen Eier auf einmal herauszunehmen!"

"Reisen heißt leben!"

In der Tat war Andersen der Anerkennung zuvor förmlich hinterher gerannt. Das Kind armer Eltern, am 2. April 1805 in Odense geboren, meisterte seine Jugend, indem es sich überaus folgsam einem Lebensglück anvertraute, das allerdings erst durch Schreiben herbeizitiert werden musste.

Widerstrebend beugt sich das Glück zu ihm herab: Andersen findet Förderer. Er geht nach Kopenhagen und wird dort in eine wenig einfühlsame schulische Ausbildung gegeben, an der er fast zerbricht. Mit 23 macht er doch noch die Matura und entschließt sich, ganz Dichter und Künstler zu sein.

Es beginnt eine Zeit unerhörten Produzierens und Anschmeichelns an öffentliche Meinungsträger. Andersen gibt weit mehr, als er zurückbekommt, schließlich weiß er nicht mehr weiter. Er hat sich, ohne es wahrhaben zu wollen, leer geschrieben. Seine wenigen guten Freunde raten ihm dringend zu einem Ortswechsel. Er soll sich frischen Wind um die Nase wehen lassen. Man besorgt ihm ein Reisestipendium, das er nicht ausschlagen kann.

Am 22. April 1833 bricht er auf, ein Reisender wider Willen. Gerade weil er keine besonderen Erwartungen hat, wird er nicht enttäuscht, im Gegenteil: Er stellt fest, dass er auf Reisen mehr über sich selbst in Erfahrung bringen kann als durch unergiebiges Grübeln im stillen Kämmerlein: "Reisen heißt leben! . . . Das Reiseleben ist mir die beste Schule der Bildung geworden."

Andersens Ziel ist Italien, das er, wie nicht wenige Künstler vor ihm, als "Land meiner Sehnsucht und meines Glücks" bezeichnet. Das aber ist erst einmal nur sein Wunschbild von Italien, das sich an bewährten literarischen Vorbildern orientiert; in Italien selbst ist er damit noch nicht angelangt. Zuvor nämlich macht er in Paris Station, das ihm, der die wahre Verruchtheit allenfalls vom Hörensagen kennt, mächtig sündhaft vorkommt. Er gibt sich empört: "Paris ist die liederlichste Stadt unter der Sonne, ich glaube, dass es hier nicht auch nur ein unschuldiges Geschöpf gibt . . . Öffentlich auf der Straße hat man mir am Tage in den anständigsten Straßen 'ein hübsches Mädchen von 16 Jahren' angeboten . . ."

Dem unsittlichen Angebot kommt Andersen nicht nach; er bleibt brav. (Frivol ist er nur in Gedanken.) Das fällt ihm umso leichter, als er feststellen darf, wie die zuletzt so spröde gewordene Literatur wieder zu ihm zurückkehrt und sich wesentlich anschmiegsamer zeigt. In seinen Briefen tritt er bereits als Reiseschriftsteller auf, dem die Themen nur so zufliegen. Er entdeckt neue Möglichkeiten in sich, seine Sprache passt sich der Vielfalt wechselnder Eindrücke an.

Am 18. Oktober 1834 kommt Andersen in Rom an - ein Datum, das er in Erinnerung behält und später als seinen "römischen Geburtstag" zu begehen pflegt.

Was er inzwischen als Autor zu leisten vermag, wird in einem Brief deutlich, der von einer Fahrt nach Neapel und der Besteigung des Vesuv berichtet: "Von der Eremitenhütte ging es zu Fuß durch tiefe Asche den Berg hinauf, ich war in einer glückseligen Stimmung, sang laut . . . und war der erste, der ganz nach oben gelangte; der Mond stand plötzlich gerade über dem Krater, aus dem kohlschwarzer Rauch aufstieg, glühende Steine wurden in die Höhe geschleudert und fielen fast senkrecht wieder zurück; der Berg unter uns erbebte. Bei jedem Ausbruch ward der Mond von Rauch verhüllt, und dann wurde es dunkle Nacht, so dass wir stehenbleiben und uns an den großen Lavablöcken festhalten mussten."

Im Spätsommer 1834 kehrt Andersen nach Kopenhagen zurück. Er hat eine Fülle von Aufzeichnungen und Notizen mitgebracht, die er ursprünglich in einem opulenten Reisebericht zusammenfassen will. Dann aber ändern sich seine Pläne: Unter der Hand entsteht ein Roman, der die italienischen Erfahrungen in einer anmutigen Erzählung vom Reise- und Selbstfindungsweg eines jungen Dichters aufgehen und neu entstehen lässt. "Der Improvisator" heißt dieser Roman, der 1835 erscheint und zu einem bemerkenswerten Erfolg wird.

Märchen als Markenzeichen

Andersen, der sein Leben lang geradezu süchtig nach Lob war, ist glücklich, und er wird noch glücklicher, als sich ein weiterer Erfolg abzeichnet: Sein erstes kleines Märchenbuch erscheint, das u. a. "Die Prinzessin auf der Erbse" und "Das Feuerzeug" enthält. Es findet erstaunliche, lang anhaltende Aufmerksamkeit, sodass Fortsetzungen ausdrücklich erwünscht sind. Andersens Märchen, von ihm selbst zunächst nur zögerlich in Angriff genommen, dann jedoch mit bemerkenswertem Geschick niedergeschrieben, werden schließlich zu seinem eigentlichen Markenzeichen - was ihm nicht immer geheuer ist.

Dennoch zeigt er sich von nun an noch dankbarer seinem Schicksal gegenüber, an dem er zuvor schon nicht zweifeln mochte. Im Frühjahr 1837 gönnt er sich einen behaglichen Rückblick: "So sitze ich in bunten Pantoffeln und Schlafrock mit den Beinen auf dem Sofa, der eiserne Ofen schnurrt, die Maschine singt auf dem Tisch, und das Rauchwerk tut gut. Ich denke dann an den armen Jungen in Odense, der in Holzpantinen lief, und dann wird mein Herz weich, und ich segne den gütigen Gott!"

Der arme Junge in Holzpantinen - das ist der Dichter als Kind: Der Vater ist Schuhmacher mit einem Hang zur Schwermütigkeit und verworrenen religiösen Ideen, die Mutter bringt aus früheren Beziehungen zwei uneheliche Töchter mit in die Ehe und stirbt als Trinkerin im Armenhaus. Andersens Großvater, der als geisteskrank galt, scheint seine Anlage an den Sohn weitergegeben zu haben; so ist es nicht verwunderlich, dass auch der Enkel fürchtet, von einem unheilbaren Familienleiden infiziert zu sein.

Als Andersen im Frühjahr 1840 seine Geburtsstadt Odense besucht, vermerkt er in seinem Tagebuch: "Ich sah einen armen, halbblöden Burschen vor meinen Fenstern; er hatte ein edel geformtes Gesicht, die Augen waren glanzvoll, aber über dem ganzen Menschen lag etwas Gestörtes, und die Jungen foppten und hetzten ihn. Ich dachte dabei an mich selber, an meine Kindheit, meinen geistesschwachen Großvater; wenn ich in Odense geblieben wäre, dort in die Lehre gekommen wäre, wenn die Kräfte der Phantasie, die mich damals erfüllten, nicht durch die Zeit und die Verhältnisse gezügelt worden wären, oder wenn ich nicht gelernt hätte, mit meiner ganzen Umgebung zu verschmelzen, wie würde ich dann wohl angesehen worden sein? "

War der absonderliche Großvater für die Gefährdung des Geistes zuständig, so kann Andersens Großmutter für die Kräfte der Fantasie stehen. Sie scheint eine fantasiebegabte, liebenswürdige Person gewesen zu sein; wer ihr weniger wohlgesonnen war, konnte auch sagen, dass sie eine notorische Lügnerin mit Charme war. Für den Hausgebrauch legte sie sich eine Ahnentafel zu, die nachweisen sollte, dass sie aus nordhessischem Adelsstand stammte, den außer ihr allerdings niemand kannte. Auch sonst schmückte sie ihr Leben gern so aus, wie sie's für richtig hielt; zu Schaden kam dadurch niemand.

"Märchen meines Lebens"

Ihr Enkelsohn blieb davon nicht unberührt; er lernte schnell, der öden Wirklichkeit Schauer- und Glanzlichter aufzusetzen. In seiner gewollt gutgläubigen Autobiographie "Das Märchen meines Lebens", die seine Dichterexistenz so mild und andächtig schildert, dass Vorsicht angebracht ist, beschreibt er zum Beispiel die Irrenanstalt von Odense. Sie erscheint ihm als gruselig, weil die Geschichten, die sich um Geisteskranke spinnen lassen, nie ganz entschieden sind; Normalität und Abartigkeiten kommen für ihn aus dem gleichen, uneinsehbaren Grund der Seele.

Andersen erinnert sich, wie er als kleiner Bub aus dem Garten der Großmutter davonschleicht und, unbemerkt vom Wachpersonal, in das Innere der Anstalt vordringt: " . . . drinnen saß ein nacktes Frauenzimmer auf einem Haufen Stroh, ihr Haar hing ihr über die Schultern hinab, und sie sang mit einer ganz herrlichen Stimme; plötzlich sprang sie auf, stürzte mit einem Schrei auf die Tür zu, vor der ich lag, der Wärter war fortgegangen, ich ganz allein, sie haute so heftig gegen die Tür, dass die kleine Luke über mir, durch die ihr das Essen hineingereicht wurde, aufsprang, sie sah von dort zu mir hinunter, streckte einen ihrer Arme nach mir aus; ich schrie vor Grauen und drückte mich fester an den Fußboden. Dieser Anblick und dieser Eindruck sind noch immer nicht aus meiner Seele getilgt . . ."

Das gute Ende

Andersens Seelenleben ist indes gefestigter, als man meinen möchte. Das Märchen seines Lebens ist eine Geschichte, die, absichtsvoll bis zuletzt, im Guten zu enden hat:

"An diesem oder jenem Tag im Herbst ging meine Mutter auf die Felder hinaus und sammelte Ähren, ich war dann mit dabei . . . Eines Tages kamen wir an einen Ort, wo ein Verwalter war, der als böse bekannt war; wir sahen ihn mit einer fürchterlich großen Hundepeitsche ankommen; meine Mutter und alle anderen rannten, meine nackten Füße staken in Holzpantinen, und ich verlor diese . . .; ich konnte nicht rasch genug wegkommen und blieb allein zurück; schon hob er die Peitsche, ich sah ihm ins Gesicht und sagte unwillkürlich: 'Wie getraust du dich, mich zu schlagen, da Gott es sehen kann!' - und der strenge Mann wurde mit einem Mal ganz milde, streichelte mir die Backe, fragte, wie ich heiße, und schenkte mir Geld . . ."

Das mag arg märchenhaft klingen oder ein bisschen dick aufgetragen sein; auf jeden Fall zeigt es die Gutgläubigkeit an, mit der Andersen in seine Welt späht. Über die eigene Biographie beugt er sich wie ein liebevoller Puppenspieler, der jede Aufführung seiner Figuren erst einmal für gelungen hält - es sei denn, er würde eines Schlechteren belehrt. Auch das geschah ihm, gewiss, aber die dann einsetzenden Depressionen hielten nicht lange an; den Optimismus, den er sich aneignete, wurde er nie mehr los.

Als ihm nach seiner ersten Auslandsreise der Weg in den Erfolg vorgezeichnet wurde, durfte er sich noch überrascht geben; dabei erfüllte sich nur das in seinem Sinne Vorhersehbare. Vom Reisen mochte er, einmal inspiriert und belohnt, nicht mehr lassen: Unter den Schriftstellern seiner Zeit ist er am meisten unterwegs; insgesamt 29 Auslandsreisen hat er unternommen, und keine davon erschien ihm als verlorene Liebesmüh'. Der ersten Reise indes bewahrte er eine besondere Anhänglichkeit; da sie ihm wesenhafte Klarheit bescherte, machte er sie zu einer eigenen Gedenkveranstaltung: "Es war, als ob von diesem Tag an die Frühlingssonne in meinem Leben beständiger scheinen sollte . . ."

Andersens Lebensphilosophie setzt auf ein Gottvertrauen, in dem der Gott, an den man sich wendet, kein persönlicher Gott sein muss; es genügt zu wissen, dass er da ist und seine ruhige, alles in sich bergende Gegenwart zeigt - eine Gewissheit, die sich der Dichter auf seinen Reisen gern bestätigen ließ. Andersen in Wien

Anlässlich des 200. Geburtstages von Hans Christian Andersen zeigt das Wien Museum Karlsplatz noch bis 30. April die Ausstellung "Andersen in Wien". Bildfahnen präsentieren Andersens Leben und Werk. Eine vom Wien Museum konzipierte Spezialausstellung legt den Schwerpunkt auf Andersens Beziehung zu Wien: Der Märchenerzähler hielt sich zwischen 1834 und 1872 immer wieder in Wien auf. Weitere Informationen über die Ausstellung befinden sich in der morgigen Ausgabe des "Wiener Journal" - und im Internet unter:

http://www.wienmuseum.at

Freitag, 01. April 2005 00:00:00
Update: Montag, 11. April 2005 14:50:00

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