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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Der amerikanische Autor T. C. Boyle über Lesungen – und warum sie so oft missglücken

"Literatur ist Unterhaltung"

Von Thomas Böhm

Wiener Zeitung : Ihr Roman "The inner circle" ("Dr. Sex" auf Deutsch) handelt von dem Sexualforscher Mac Kinsey, der ein brillanter Vortragender war, gerade vor sehr großen Gruppen. Was machte seinen Erfolg aus?

T. C. Boyle : Ganz einfach: sein Thema war Sex. Er sprach mit einer eher monotonen Stimme, war undynamisch, machte keine Witze, bewegte sich beim Sprechen kaum. Er war ein typischer Professor bei einer Vorlesung. Aber zu seiner Zeit, in den 1950er Jahren, faszinierte das Thema Sex die Zuhörer. Und er sprach sehr frei darüber. Ich habe ein Foto, das zeigt, wiee er vor 9000 Studenten in Berkeley spricht.

Sie haben in Ihren Büchern oft über charismatische Figuren geschrieben. Haben Sie deren öffentliche Auftritte studiert, um für Ihre eigenen zu lernen?

Ich bin interessiert an dem, was man darwinistisch als "Führer" und "Anhänger" bezeichnen kann. Denn ich habe als Schriftsteller ja auch Anhänger. Und mich interessiert das Verhältnis zu ihnen. Manche Menschen fürchten sich davor, eine Kultfigur zu sein, Fans zu haben, und gehen zu ihnen auf größtmögliche Distanz. Ich frage mich, warum das so ist.

Da ich in meiner Jugend rebellisch war – was Sie bestimmt nicht vermutet hätten ( lacht ) –, habe ich außerdem immer nach Wegen gesucht, Autorität zu untergraben, um unabhängig zu sein. Das ist Bestandteil des amerikanischen Nationalcharakters. Weniger des japanischen, denn in der japanischen Kultur ist es wichtig, zu einer Gruppe zu gehören, Teil von etwas zu sein.

Sie sagen, dass Sie Anhänger haben. In Ihren Lesungen beziehen Sie regelmäßig politisch Stellung. Nehmen Sie damit nicht Einfluss auf ihre Fans?

Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem Schreiben und den öffentlichen Auftritten, anders gesagt: zwischen dem Kunstschaffen und den Fragen, die darüber gestellt werden. Ich würde meine Bücher niemals erklären. Nur soviel: Ich schreibe keine politischen Bücher, weil ich glaube, dass Literatur und Politik nicht vermischt werden dürfen, denn das schadet der Literatur. Wenn Sie meine Bücher lesen, wissen Sie aber genau, wie meine Weltsicht ist, wofür ich stehe. Wenn ich also öffentlich auftrete und es geschieht gerade etwas in der Politik, das mich stört, beziehe ich natürlich Stellung und sage meine Meinung. Kurz vor der letzten Präsidentschaftswahl bin ich zum Beispiel in Texas aufgetreten. Die Stimmung war sehr herzlich, die Besucher mochten mich, ich unterhielt sie. Dann kamen die Publikumsfragen, auch die liefen gut, bis eine Frau fragte: "Wen werden Sie wählen?" Ich sagte: "Machen Sie Witze? Soll ich den wählen, der für die Rechte der Frau und den Schutz der Umwelt steht, oder soll ich meine Stimme dem Typen geben, der schlimmer ist als Attila, der Hunnenkönig?" Es folgte tödliches Schweigen im Zuschauerraum, denn dort waren nur Bush-Wähler. Na und? – Sie haben gefragt, ich habe geantwortet. Trotzdem: Meine Lesungen sind keine politischen Veranstaltungen. Ich spreche Themen an, die ich für wichtig halte, so zum Beispiel während meiner Lesereise mit dem Roman "Ein Freund der Erde", in dem es um unseren Umgang mit der Umwelt geht. Allgemein gesprochen, geht es mir darum, den Besuchern etwas für ihr Geld zu bieten und es ihnen selbst zu überlassen, welche Stellung sie zu Themen beziehen, die ihnen in Kunstwerken, Theaterstücken, Büchern vermittelt werden.

Lassen Sie uns bei der Kunsterfahrung bleiben. Worin unterscheidet sich für Sie die Lektüre eines Buches vom Besuch einer Lesung?

Es gibt in Amerika Kritiker – man kann auch sagen "Neider" oder "gescheiterte Schriftsteller" –, die stark gegen meine Art von Lesungen polemisieren. Ihrer Auffassung nach ist Literatur etwas Sakrosanktes, und keineswegs sollte sie von jemandem wie mir dargeboten werden, der ein großgemustertes Sakko trägt und zwischendurch Witze erzählt, damit sich die Besucher gut unterhalten.

Diese Kritiker haben nicht begriffen, dass Lektüre und Lesung zwei gänzlich unterschiedliche Dinge sind. Lesen ermöglicht eine Reise in Zeiten und zu Orten, die uns auf keinem anderen Weg zugänglich sind. Und wir können intensiv über grundlegende Themen nachdenken: über Sexualität, die Ehe, unsere tierische Natur, die unserer Vorstellung von Kultur widerspricht. All das ist in Büchern enthalten, will entdeckt werden. Auf der Bühne werde ich vor allem Stellen aussuchen, die das Publikum unterhalten, meistens kurze, witzige Geschichten. Ich möchte, dass die Besucher die Lesung wie eine Show erleben, wie ein Stück im Theater. Also muss ich überlegen: Was funktioniert auf der Bühne? In der Regel die witzigsten Passagen des Buches. Allerdings ist mir jüngst bewusst geworden, dass ich auch dramatische, ergreifende Texte auf der Bühne lesen kann. In meiner neuen Erzählungssammlung "Tooth and Claw" gibt es eine Geschichte namens "Chicksaloop". Chicksaloop ist jener Krater in Mexiko, der von jenem Meteoriteneinschlag verursacht wurde, der zum Aussterben der Dinosaurier führte. Dieses wissenschaftliche Detail sowie das Element des Unfalls spielen in der Geschichte eine Rolle. Der Erzähler hat eine siebzehnjährige Tochter. Eines Abends bekommt er einen Anruf; die Tochter ist überfahren worden. Er beginnt, die Geschichte zu erzählen, ist aber von seinen Gefühlen so überwältigt, dass er das Thema wechselt und von Chicksaloop spricht. Die Story springt danach ständig zwischen dem Geschehen in der Gegenwart und der Geschichte des Kraters hin und her. Es gibt keine Witze darin. Als ich sie vorlas, lachte niemand. Aber ich spürte, dass sie einen großen Effekt auf das Publikum machte, einen Effekt, den ich nie zuvor erlebt hatte. Es war so, als könnte ich die Anwesenheit jedes einzelnen Besuchers fühlen. Alle waren voll konzentriert. Das war eine tolle Erfahrung für mich, die Schauspieler sicher öfter machen.

Was war Ihre bisher bestbesuchte Lesung?

Eine Lesung im New Yorker Central Park vor rund 7000 Besuchern. Aber ich war nicht allein, sondern trat mit Patti Smith auf. Die Besucher saßen sogar in den Büschen. Es wurde eine richtig wilde Nacht.

Mir kann das Publikum nicht groß genug sein. Solange jeder bequem sitzt, gut hören kann und die Bühne richtig ausgeleuchtet ist, bin ich umso glücklicher, je mehr Besucher da sind. Weil ich eben wie jeder Performer und wie jeder Schriftsteller ein Egomane bin und eine Mission habe. Ich glaube an die Literatur und leide darunter, dass sie gegenüber den Unterhaltungsmedien immer mehr an Boden verliert. Ich möchte gegen all die Vorbehalte von Professoren und Kritikern daran erinnern, dass auch Literatur Unterhaltung ist, wie jede Kunst. Sie nimmt uns emotional wie körperlich in Anspruch, aber eben auf unterhaltsame Art.

Als Besucher Ihrer Lesungen spürt man Ihre Leidenschaft für Literatur. Eine Leidenschaft, die viele professionelle Literaturvermittler und -kritiker in der Öffentlichkeit vermissen lassen. Würden Sie so weit gehen und sagen, dass diese deshalb keine guten Vermittler von Literatur sein können?

Für Europa kann ich diese Frage nicht beantworten. Für Amerika muss man feststellen, dass die Universitäten von Theoretikern übernommen worden sind. Man studiert nicht mehr Literatur, sondern Theorie und entfernt sich von der Literatur.

Ein anderes Problem ist der Zwang. Meine Bücher sind Schullektüre, in Europa wie in Amerika. Das freut mich einerseits, andererseits mag ich es nicht, wenn Schüler dazu verpflichtet werden, meine Bücher zu lesen. Das nimmt den Spaß. Lesen sollte immer auch etwas Subversives haben, etwas, was die Eltern überhaupt nicht mögen.

Sie erhalten Einladungen zu Lesungen auf der ganzen Welt. Wonach wählen Sie aus, ob Sie eine Einladung annehmen?

Ich bin altmodisch. Meine Bücher sind in fast allen Ländern von Anfang an bei den selben Verlegern erschienen. Dafür bin ich dankbar. Sie haben in mich investiert, und das möchte ich ihnen zurückzahlen. Schließlich haben wir ein gemeinsames Ziel: Wir möchten Bücher verkaufen. Dabei geht es mir nicht um Geld, davon habe ich genug. Es geht darum, die Bücher, an die man glaubt, an Leser zu bringen, die durch die Lektüre hoffentlich glücklich werden oder zumindest eine Erfahrung machen.

Geld spielt in einem anderen Sinne eine Rolle. Wenn ich nicht auf Lesereise bin, möchte ich schreiben. Wenn mich dann einladen will, muss er viel zahlen, weil ich eigentlich ja nicht kommen will. Ich bin beispielsweise immer wieder nach Australien eingeladen worden. Aber der Flug von Los Angeles dorthin dauert siebzehn Stunden. Und ich hasse lange Flüge. Die nehme ich nicht auf mich, um fünf Tage in einem Hotel in Sydney zu sitzen und über meine Bücher zu sprechen. Wenn ich einen Monat bliebe und mir Australien ansehen würde, wäre das etwas anderes. Aber auch dafür wird mir die Zeit fehlen, denn ich möchte jedes Jahr ein neues Buch schreiben – und es dann auf einer zweimonatigen Lesereise vorstellen.

Wie stellen Sie sich auf das Publikum in den verschiedenen Ländern ein?

Das ist schwierig, weil ich ja die Sprache des Landes meist nicht spreche. In diesem Sinne ist Deutschland ideal, weil die meisten Menschen Englisch sprechen. Trotzdem habe ich für die deutschen Passagen gerne einen Vorleser. Denn das Publikum wird nicht alles genau verstehen, wenn ich es lese. Wenn ein deutscher Sprecher liest, ist der Fokus ein anderer, jede Nuance wird hörbar, die Intensität ist eine andere.

Wenn ich das deutsche Publikum mit dem amerikanischen vergleiche, würde ich sagen, dass sie einander ähnlich sind: locker und auf Spaß aus. Das ist nicht überall so. Briten und Japaner lachen viel mehr in sich hinein. Deshalb habe ich in Japan zum ersten Mal eine Geschichte vorgelesen, die nicht komisch war. Ich wusste, dass es mir schlecht gehen würde, wenn ich etwas Komisches läse und das Publikum nicht lachte.

Welches Verständnis erwarten Sie von den Veranstaltern von Lesungen?

Die Frage bringt mich auf etwas, das immer wieder misslingt: Ich werde oft in Buchhandlungen eingeladen, die nach der Lesung viele Bücher verkaufen. Die Veranstalter wünschen immer, dass die Lesung in der Buchhandlung selbst stattfindet. Sie begreifen nicht, dass es für eine effektvolle Lesung einer professionellen Umgebung bedarf. Das heißt zum Beispiel, die Bühne muss richtig ausgeleuchtet sein und der Publikumsraum dunkel. Allein schon deshalb, weil die Menschen im Publikum anders reagieren, wenn sie sich nicht beobachtet fühlen. Abgesehen davon, wird ihre Aufmerksamkeit solcherart viel besser auf die Bühne gelenkt. Bei ausgeschaltetem Licht verwandelt sich selbst ein Klassenraum. Auch die Tonanlage ist wichtig. Sie muss es mir erlauben, auf und ab zu gehen und zu modulieren, wenn ich spreche. Wenn alle diese Details nicht stimmen, wird die Lesung nicht erfolgreich sein.

7000 Menschen im Central Park, Lesungen überall auf der Welt – welche Lesung ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Eine Lesung irgendwo in NordKalifornien. Sie war der Höhepunkt meiner Karriere als Schriftsteller, und zwar wegen folgender Episode: Es war auf der Tournee zu "Drop City", im Frühjahr 2003, als Bush mit den Planungen zum Irakkrieg begonnen hatte und alle auf den Angriff warteten. In der Schlange am Signiertisch stand ein Mädchen, so um die Fünfzehn, mit einer Hardcover-Ausgabe des Buches, die für eine Jugendliche relativ teuer ist. Sie kam zu mir und sagte: "Ich habe Ihre Lesung sehr gemocht und die Art, wie Sie gesprochen haben. Ich weiß, dass ein Krieg bevorsteht und ich habe Angst. Aber ich es gibt zwei Künstler, die mich trösten: Sie und Britney Spears."

Thomas Böhm , geboren 1968, ist Programmleiter des Literaturhauses Köln und Herausgeber des Buches "Auf kurze Distanz. Die Autorenlesung: O-Töne, Geschichten, Ideen" (Tropen Verlag, 2003). Ein Fortsetzungsband (mit dem Boyle-Interview) ist für Herbst 2006 geplant.

Printausgabe vom Samstag, 18. März 2006
Update: Freitag, 17. März 2006 17:00:00

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