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Die Grande Dame der Avantgarde

Evelyn Steinthaler geboren 1971 in Klagenfurt, lebt und arbeitet als Autorin und freie Journalistin in Wien.

Evelyn Steinthaler geboren 1971 in Klagenfurt, lebt und arbeitet als Autorin und freie Journalistin in Wien.

Von Evelyn Steinthaler

Aufzählung Vor sechzig Jahren starb die geniale, widersprüchliche Dichterin und Kunstsammlerin Gertrude Stein.

Niemand hat die experimentelle Literatur des 20. Jahrhunderts stärker beeinflusst als Gertrude Stein. Dass dabei ihr eigenes Werk nie im Zentrum des Interesses stand, ist auch heute, 60 Jahre nach ihrem Tod, noch zu bedauern. Am 27. Juli 1946 starb die geniale, widersprüchliche Grande Dame der literarischen Avantgarde.

Immer wieder bezeichnete Gertrude Stein sich selbst als Genie – und zwar ohne jeden Anflug von Selbstironie. Sie war von sich und ihrem Schaffen mehr als überzeugt und wusste eine treue Gefolgschaft um sich versammelt, die ihre Meinung teilte.

Eine Frau mit Einfluss

Obwohl sie ihre eigene Kreativität ganz und gar der Literatur verschrieben hat, wird Gertrude Stein bis heute nicht nur wegen ihrer literarisch-avantgardistischen Leistung geschätzt, sondern vor allem auch wegen ihres Einflusses auf die moderne Literatur und wegen ihrer Leidenschaft für die bildenden Künste, die in einem ausgeprägten Kunstverständnis und einer nicht weniger ausgeprägten Förderinnen-Leidenschaft zum Ausdruck kam.

Literatur hatte für Gertrude Stein immer experimentellen Charakter. Sie war die erste Autorin, die auf die Verwendung von Interpunktion verzichtete und mit ihren endlos aneinander gereihten Wortketten die Grenzen des damaligen Literaturverständisses sprengte.

Für Ernest Hemingway war Steins Buch "The Making of Americans" das wichtigste aller Bücher; er war es auch, der dafür sorgte, dass Auszüge aus Steins Hauptwerk in der "Transatlantic Review" erschienen. Dennoch war es nicht dieses Buch, das Stein in die Bestsellerlisten brachte und ihr über die Intellektuellen- und Künstlerzirkel hinaus Ruhm einbrachte. Populär wurde sie mit dem Roman "Die Biographie der Alice B. Toklas", in dem sie aus der Sicht ihrer Lebensgefährtin ihr eigenes Leben schildert.

Auch das Kinderbuch "Die Welt ist rund" brachte ihr große (indirekte) Popularität ein, denn der Satz "Rose ist eine Rose ist eine Rose" , (Rose is a Rose is a Rose), der bis heute zu den beliebtesten Zitaten der modernen Literatur gehört, entstammt dieser Erzählung, die von einem Mädchen namens Rose handelt. (In der Formulierung "a rose is a rose is a rose" taucht der geflügelte Satz auch in anderen Texten der Dichterin auf.)

Stein besaß neben ihrem literarischen Talent auch alle Voraussetzungen zu einer genialen Mäzenin, war sie doch am Beginn ihrer Sammlerinnen-Karriere jung genug, um die Künstler zu verstehen, gebildet genug, um sie zu fördern und reich genug, um Bilder in großer Zahl kaufen zu können.

Ehe Gertrude Stein den mondänsten Salon von Paris führte und bedeutende Künstlerinnen und Künstler ihrer Zeit um sich versammelte, versuchte sie sich in ganz anderen Bereichen. Sie studierte zunächst Biologie und Philosophie am Radcliff-College, der Harvard-Abteilung für Frauen, und dann Psychologie und Medizin an der Johns Hopkins Medical School in Baltimore.

Anstatt Ärztin zu werden, erkannte Stein jedoch, dass die Medizin sie langweile. So fand dieses Unternehmen ein Ende, und das von Kunst geprägte Leben der Gertrude Stein konnte Form annehmen.

Europäische Kindheit

Gertrude Stein kam am 3. Februar 1874 als fünftes Kind von Amelia, geb. Keyser, und Daniel Stein in Allegheny, Pennsylvania, zur Welt. Nach beruflichen Schwierigkeiten in den USA zogen Daniel und Amelia mit ihren fünf Kindern 1875 nach Wien, wo sie drei Jahre lang wohnten, bevor es zu Gertrudes erstem Paris-Aufenthalt kam, der aber nur ein knappes Jahr dauern sollte.

Nach der Rückkehr in die Vereinigten Staaten wohnte die Familie bei Amelias Verwandtschaft in Baltimore, dann zog sie nach Oakland, Kalifornien, wo Gertrude eine unbeschwerte Jugend verlebte, und der Vater durch Geschäfte mit den eben installierten Straßenbahnen zu Wohlstand gelangte.

1888 erlag Gertrudes Mutter einem Krebsleiden, nur drei Jahre später folgte ihr der Vater in den Tod. Die Vormundschaft für Gertrude und deren Bruder Leo übernahm ihr ältester Bruder Michael, der auch den Umzug der Geschwister nach San Francisco veranlasste. Schon früh hatte Gertrude ein besonderes Naheverhältnis zu ihrem nur zwei Jahre älteren Bruder Leo entwickelt. Es vertiefte sich nach dem Tod der Eltern, zumal sie als die jüngste der fünf Geschwister wenig Gefallen daran finden konnte, von ihrem ältesten Bruder Michael bevormundet zu werden.

Nach ihren Studienversuchen zog es Gertrude im Sommer 1902 nach Europa, wo Leo bereits lebte. Nach gemeinsamen Aufenthalten in Italien und England kehrte sie noch einmal für kurze Zeit in die USA zurück. 1904 war es dann aber soweit: Gertrude Stein nahm sich gemeinsam mit Leo eine Wohnung in der Rue de Fleurus in Paris. Diese Wohnadresse wurde bald berühmt, denn Stein begann dort ihre mondänen Salons abzuhalten.

Im selben Jahr 1904 begannen die Geschwister Stein auch mit ersten Bildkäufen. Dabei lernten sie den noch unbekannten Matisse kennen und schlossen Bekanntschaft mit dem jungen Picasso.

Bald begann sich ein Künstlerkreis um Gertrude Stein zu bilden. Alice B. Toklas, die später als famose Köchin zu Ruhm und Ehren gelangen sollte, trat 1907 in Steins Leben. Bis zum Tod der Dichterin blieben die beiden Frauen ein Paar. Auf der einen Seite die dominante Stein und auf der anderen Seite die servile Toklas – anscheinend eine ideale Kombination. Toklas unterstützte Steins Arbeit in allen Aspekten. So führte sie nicht nur den gemeinsamen Haushalt, sondern tippte auch Steins umfangreiche Manuskripte fein säuberlich ab und übernahm Sekretariatsarbeiten. Alice B. Toklas war also die ideale Gattin für Gertrude Stein.

Zu Steins frühen Käufen gehörten Werke von Gauguin, Cézanne, Monet, Renoir, Daumier, die damals alle noch verkannte Genies gewesen sind. Mit ihrem Bruder Leo geriet sie aber immer öfter in Streitereien über neu erworbene Bilder. In ihren Salons gingen die Größen der französischen Intelligenzia und der internationalen Literatur- und Kunstszene ein und aus. Max Jacob, Alfred Jarry, Guillaume Apollinaire gehörten ebenso zu Steins Salonbesuchern wie Georges Braque und Man Ray. Durch den Ersten Weltkrieg verlor Stein viele ihrer Freunde, der Charakter der Zusammenkünfte änderte sich maßgeblich. Ernest Hemingway, Ezra Pound, Thornton Wilder, T. S. Eliot, F. Scott Fitzgerald, Edith Sitwell, John Dos Passos und Jean Cocteau gehörten nun zu Steins Gästen.

"Lost Generation"

Für all jene, die ihre produktivsten Jahre im Krieg verloren hatten, prägte Stein damals den Begriff "Lost Generation". Sie selbst war während des Krieges, gemeinsam mit Toklas, für den "American Fund for French Wounded" im Einsatz gewesen und war mit ihrem als Lastauto umfunktionierten Ford durch die französische Provinz gefahren. Wie erwähnt, wurden nach dem Krieg zunächst Teile von "The Making of Americans" in der "Transatlantic Review" veröffentlicht. 1925 erschien das schwer lesbare Hauptwerk Steins in einer Komplettausgabe.

Die 30er Jahre brachten für Stein unzählige Reisen, auch wieder in die USA. Jetzt stellte sich endlich der literarische Erfolg ein: "Die Autobiographie der Alice B. Toklas" erschien 1933.

Nachdem der Mietvertrag für die berühmt gewordene Rue de Fleurus Nr. 27 nicht verlängert werden konnte, zog das Paar 1937 in die Rue Christine 5. Doch mehr und mehr Zeit verbrachten die beiden Frauen nun in einem gemieteten Landhaus in Bilignin. Dort erlebten sie auch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Als es zur Besetzung von Paris kam, blieben Stein und Toklas auf dem Land. Es gelang ihnen nach einem Umzug von Biligin nach Culoz, die Kriegsjahre in relativer Sicherheit hinter sich zu bringen, oft bekamen sie sogar eine Extra-Essensration. Obwohl sie die Mittel gehabt hätten, Frankreich zu verlassen, blieben sie dort.

Dank ihrer Verbindungen zur Spitze rund um das Vichy-Regime von General Pétain blieben die beiden Jüdinnen während der deutschen Besatzungszeit unbehelligt. Gertude Steins Kontakte zu der Regierung, die mit der deutschen Besatzung kollaborierte, blieben den Amerikanern natürlich nicht verborgen. Doch interessierte sich das FBI für sie vor allem wegen angeblich linker Sympathien, die Kontakte zu Pétain dagegen waren für den USGeheimdienst eher uninteressant.

Politisch unbedarft

Politisch gesehen, litt Stein tatsächlich an einem Mangel an Realitätssinn, denn sie bezeichnete Pétain in einem Text als mutigen Mann, der Frankreich retten wollte. Sie zeigte sich bekümmert um Pétains schlechten Ruf in Amerika. Im Zentrum ihres Interesses stand aber einzig und allein sie selbst, dann kam die Kunst; die Politik war für sie lediglich eine unwichtige Randerscheinung.

Nach dem Krieg gelang es Gertrude Stein aber, sich selbst zur unbeugsamen amerikanischen Patriotin zu stilisieren. Sie wurde vom "Life Magazine" eingeladen, die Stützpunkte der Amerikaner in Deutschland und Österreich zu besuchen. Als sie auf ihren Reisen in Brüssel Station machte, wurde bei ihr Magenkrebs diagnostiziert. Nach einer überaus beschwerlichen Reise nach Paris wurde sie ins American Hospital eingeliefert. Eine Operation galt als aussichtslos, ein Arzt wollte sie dennoch operieren. Die 72-Jährige Gertrude Stein erwachte jedoch nicht mehr aus der Narkose.

Gertrude Stein liegt auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise begraben. Neben ihr Alice B. Toklas, die sie um 21 Jahre überlebte, ihre eigene Autobiografie, die unter dem Titel "What is Remembered" erschien, aber mit Steins Tod enden ließ.

Zu Lebzeiten mokierte sich Gertrude Stein immer wieder über die französischen Behörden, weil die den Namen ihres Geburtsortes Allegheny oft falsch geschrieben hatten. Eine Ironie des Schicksals war es wohl, dass sich auch bei Steins Sterbedaten ein Fehler eingeschlichen hat: Auf ihrem Grabstein steht zu lesen, Gertrude Stein sei am 29. Juli gestorben. In Wahrheit starb sie jedoch schon zwei Tage früher, am 27. Juli 1946.

Printausgabe vom Samstag, 22. Juli 2006
Update: Freitag, 21. Juli 2006 17:27:00

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