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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

La Roche: Unschuldig schuldig geworden

Von Evelyne Polt-Heinzl

Aufzählung Vor 200 Jahren starb Sophie von La Roche. Ihre "Geschichte des Fräuleins von Sternheim" war ein Bestseller – und der erste deutsche Briefroman.

Ein Fräuleinwunder war es nicht, aber doch so eine Art Überraschungs-Bestseller. Sophie von La Roche war 40 Jahre alt, als 1771, drei Jahre vor Goethes "Werther", ihr Romanerstling "Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim" erschien, literarhistorisch am Schnittpunkt von Aufklärung und Empfindsamkeit gelegen, die beide den Brief als Ausdrucksform bevorzugten. Die reisenden Aufklärer berichteten den Daheimgebliebenen von Land, Leuten und Geschäftsgebaren in den bereisten Gegenden – das diente der belehrenden Unterhaltung wie den Handelsbeziehungen; die pietistisch-schwärmerische Gefühlskultur entwickelte sich im Freundschaftsbrief, für den ein ganz neues Vokabular des Intimen erarbeitet wurde.

Der Geniestreich des "Fräuleins von Sternheim" liegt darin, dass Sophie von La Roche die beiden Hauptstränge des Zeitgeistes miteinander verbindet und dabei zugleich als Autorin wie mit ihrer Hauptfigur der schreibenden Frau das erste Heimatrecht im literarischen Feld erobert. Dafür allerdings bedurfte es 1771 noch einiger Sicherheitsnetze: Das Buch erschien zunächst anonym und unter der fingierten Herausgeberschaft Wielands.

Heimliche Verlobung

Sophie von La Roche wurde am 6. Dezember 1731 in Kaufbeuren geboren, als erstes von dreizehn Kindern des Gynäkologen Georg Friedrich Gutermann. Sie erhielt zwar eine sorgfältige Erziehung, aber eine wissenschaftliche Ausbildung, wie sie der Tochter vorschwebte, gehörte nicht dazu, eher eine standesgemäße Heirat. Die heimliche Verlobung mit dem Cousin Christoph Martin Wieland, Pfarrerssohn aus Biberach, war das nicht, und deshalb wurde sie 1753 mit dem Hofrat Georg Michael Frank von La Roche verheiratet. Seine Karriere beginnt viel versprechend. 1754 bis 1762 lebt die Familie in Mainz, wo La Roche im diplomatischen Dienst des Ministers Graf Stadion steht.

Sophie von La Roche muss am pompös geführten Hof des Mainzer Kurfürsten repräsentieren und lernt hier wohl die Abgründe und Intrigen der kleinstaatlichen Hofwelt kennen, die ihrem Fräulein von Sternheim schließlich zum Verhängnis werden. Ab 1771 ist La Roche Staatsrat des Erzbischofs in Ehrenbreitstein, bis er 1780 seinen Posten verliert und fortan nicht mehr Fuß zu fassen vermag. Ab 1786 lebt die Familie in Offenbach, wo Sophie La Roche bis zu ihrem Tod am 18. Februar 1807 bleibt. Als sich das Leben des Ehepaars aufs Kleinbürgerliche redimensioniert hat und ihre acht Kinder erwachsen sind, versucht Sophie von La Roche, wohl auch durch den Überraschungserfolg ihres ersten Romans motiviert, sich als Berufsschriftstellerin zu etablieren.

"Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim" ist im deutschen Sprachraum der erste konsequent durchgehaltene Briefroman mit wechselnden Perspektiven – ein Modell, das rasch viele Nachfolger fand. Die Titelheldin ist die Tochter einer morganatischen (= standesungleichen) Ehe. Baron von P. lernt Oberst Sternheim, Sohn eines verdienstvollen, aber bürgerlichen Universitätsprofessors, kennen und schätzen. Sophie, eine der beiden Schwestern des Barons, verliebt sich in den Freund des Hauses. Nach einigem Zögern springen die hochadeligen Eltern über ihren Schatten, und die beiden werden – gegen den massiven Widerstand der zweiten Schwester Charlotte – ein Paar.

Die Ehe ist glücklich, der Oberst ein Prototyp des idealen, reformerisch gesinnten Gutsbesitzers, so wie ihn die Aufklärung in unzähligen literarischen Entwürfen herbeizuschreiben versuchte. Auch die einzige Tochter Sophie wird sorgfältig nach – heute würde man sagen – ganzheitlichen pädagogischen Prinzipien erzogen. Neunzehnjährig steht Sophie plötzlich verwaist da und kommt zu ihrer Tante Charlotte in die Residenzhauptstadt, wo das junge Mädchen unverzüglich in das Hofleben eingeführt wird. Instinktiv fühlt sich Sophie hier nicht wohl, alles scheint ihr zu pompös, die Rituale und die "Eventkultur" des Hoflebens sind ihr nur lästig und langweilig.

Was ihr bleibt, sind die schwärmerischen Briefe an ihre Jugendfreundin Emilia, in denen sie von ihren Erlebnissen berichtet, sich Gedanken macht über das Treiben der Gesellschaft und die Frage, ob und wie ein richtiges Leben im falschen möglich sei. Von den Plänen ihrer Tante ahnt sie nichts: Charlottes Gatte hat einen aussichtslosen Prozess laufen und will sich den Fürsten verpflichten – durch die Zuführung seiner hübschen Nichte als Mätresse.

Dieser Plot erinnert von fern an Schnitzlers "Fräulein Else": die arme Nichte (im Falle Sophies nicht ökonomisch, sondern sozial) zu Gast bei der reichen Tante, Prozessprobleme des männlichen Verwandten (bei Sophie der Onkel, nicht der Vater), das junge Mädchen als Sexualopfer, um den sozial Überlegenen günstig zu stimmen. Von diesem Plan erfahren wir aus den Briefen des skrupellosen Lord Derby und des in Sophie verliebten Lord Seymour.

Als Sophie die Intrige ihrer Tante erkennt, flieht sie über Nacht in die Heirat, allerdings mit dem Falschen. Lord Derby improvisiert eine fingierte Trauung, fährt mit ihr auf "Hochzeitsreise" und verlässt die Betrogene rasch wieder. Sophie ist tief gefallen, unschuldig schuldig geworden, so wie auch Goethes Mignon – das ist ein tragisches Schicksal, wie es die Zeitgenossen liebten. Die mit der Scheinhochzeit düpierte Sophie zieht sich gebrochen aufs Land zurück und findet ein mit dem Frauenbild der Zeit kompatibles Betätigungsfeld: sie organisiert ein Mädchenerziehungsinstitut, wie später die Schwestern Natalie und Therese in Goethes "Wilhelm Meister". Fräulein von Sternheim muss noch viele Winkelzüge des Schicksals erleiden, gerät nach England, wird von Lord Derby entführt, der die unangenehme Zeugin seiner Skrupellosigkeit beiseite schaffen will – nach Jahren der Prüfung folgt das Happyend in Form einer Heirat mit Lord Seymour, der ihr schon am Fürstenhof als einziger sympathisch gewesen war.

Was wie Kolportage klingen mag, ist dem Zeitgeschmack geschuldet, der bis hin zu den klassischen Bildungsromanen für eine Überfülle von schicksalhaften Verflechtungen, Zufällen und Begegnungskapriolen verantwortlich ist. Das Buch wurde denn auch weitgehend einhellig begeistert aufgenommen, es gefiel Herder ebenso wie dem Aufklärer Nicolai und dem jungen Goethe, der in den "Bekenntnissen einer schönen Seele" im "Wilhelm Meister" Sophies Ablehnung der höfischen Tanz-, Spiel- und Putzsucht aufgreift.

Der Fortgang der Rezeptionsgeschichte war weniger glücklich. Zunächst wurde die Figur der Sophie von Sternheim mit der Autorin Sophie von La Roche verwechselt, die eben keineswegs eine dem weltlichen Hof-Treiben abgewandte Natur war. Dann geriet das Buch in Vergessenheit, und als die feministische Literaturwissenschaft es wieder entdeckte, wurden die mangelnde politische Fortschrittlichkeit und das konventionelle Frauenbild nicht selten mit großer moderner Geste gebrandmarkt.

Natürlich peilte Sophie von La Roche mit diesem Buch keinen politischen Umsturz und keine radikale Neudefinition der Geschlechterrollen an, aber gemäß der Tradition der Aufklärung ging es doch um eine Reform der Feudalordnung und um den Kampf gegen Machtarroganz, Herrscherwillkür und Despotie. Im Mikrobereich impliziert das auch den Anspruch der Frauen, als handelnde Personen wahrgenommen zu werden, sich im vorsichtig erweiterten Rahmen des Möglichen selbst zu definieren und sich für eine Lebensform entscheiden zu können. Sorgfältig vermeidet es Sophie von La Roche, bestimmte Grenzen zu überschreiten, und relativiert das eigene Tun mit Gesten der Verkleinerung, die sie für ihre literarische Figur ebenso einsetzt wie für sich als Autorin. Das macht "Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim" auch zu einem Paradigma für die Paradoxien weiblichen Schreibens im 18. Jahrhundert.

Nach 1780 steht Sophie von La Roches Schreiben zunehmend unter dem Zwang, Geld verdienen zu müssen. Doch wie schon "Rosaliens Briefe an ihre Freundin Marianne von St." (1789) sinken auch die "Briefe an Lina" (1785), die "Geschichte von Miss Lony und der schöne Bund" (1789) oder der späte Roman "Erscheinungen am See Oneida" (1798) deutlich ins Triviale ab. In literarischer Hinsicht konnte Sophie von La Roche weder damit noch mit ihrem autobiographischen Buch "Mein Schreibtisch" (1799) an ihren Romanerstlings anknüpfen.

Wohlfeile Neuausgabe

Aus heutiger Sicht interessanter sind die Reisetagebücher, die ein kulturhistorisches Bild der bereisten Länder (Schweiz und Frankreich 1787, Holland und England 1788) entwerfen und die besonderen Unbilden aufzeigen, mit denen reisende Frauen damals fertig werden mussten. Eine große Breitenwirkung hatte La Roches Zeitschrift "Pomona für Teutschlands Töchter" (1783/84), die in einer Reprintausgabe im Francke Verlag vorliegt (340 Euro); es ist die erste von einer Frau herausgegebene deutsche Frauenzeitschrift, die für Bildungsprogramme ebenso wirbt wie für eine Annerkennung der häuslichen und kulturellen Leistungen der Frau.

Einen Großteil des Werks von Sophie von La Roche hat der deutsche Reprint Verlag Petra Wald ( http://www.verlag-petra-wald.de ) wieder zugänglich gemacht, die Preise pro Band bewegen sich allerdings um die 60 Euro. "Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim" ist soeben im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen, leider nur mit einer kargen Lebenstafel ausgestattet und ohne Zusatzinformationen, die eine Wiederbegegnung erleichtert hätten. Trotzdem könnte die wohlfeile Neuausgabe helfen, Sophie von La Roche endgültig aus der literarhistorischen Fußnotenrolle als Großmutter von Clemens Brentano und Bettina von Arnim zu befreien.

Evelyne Polt-Heinzl, geboren 1960, lebt als Literaturwissenschafterin und -kritikerin in Hirschwang (NÖ). Im März erscheint im Sonderzahl-Verlag ihr neues Buch, "Ich hör‘ dich schreiben. Eine literarische Geschichte der Schreibgeräte".

Printausgabe vom Samstag, 17. Februar 2007
Online seit: Freitag, 16. Februar 2007 16:16:00

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