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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Der Bruch mit der Realität

Joris-Karl Huysmans.  Foto: Wikimedia

Joris-Karl Huysmans. Foto: Wikimedia

In der Kathedrale von Chartres erlebte Huysmans seine Hinwendung zum katholischen Glauben.  Foto: OT Chartres/ G. Osorio

In der Kathedrale von Chartres erlebte Huysmans seine Hinwendung zum katholischen Glauben. Foto: OT Chartres/ G. Osorio

Von Ingeborg Waldinger

Aufz„hlung Vom Sadismus zum Katholizismus – Vor 100 Jahren starb Joris-Karl Huysmans, der Meister der französischen Dekadenzliteratur.

Exzessive Lebensstile und fiebrige Phantasien wuchern in Epochen der "Dekadenz". Die Raserei nach raffinierter Ästhetik und verbotenen Genüssen entspringt dem vagen Endzeitgefühl, der Zivilisationsprozess könnte gescheitert sein. Bei sensiblen Zeitgenossen des Fin-de-siècle äußert sich diese Befindlichkeit als spätromantischer Weltschmerz, und ihr Leiden an der Gesellschaft als tiefer Lebensekel. Die literarische Schule der Dekadenz ist eine Schule des Pessimismus. Der Rückzug in künstliche Paradiese erscheint ihr der einzig mögliche Ausweg. Doch auch die falschen Elysien haben ihren Preis. Sie kosten Lebensenergie und Geld. Immerfort gilt es die Dosis der Reizmittel zu steigern, mag es sich um Drogen, Culinaria oder Kurtisanen handeln.

Oder um bizarre Klausen, die man mit exquisiten Buchausgaben, mechanischen Fischen und künstlich wirkenden Naturblumen ausstattet. Eine Schildkröte mit Edelsteinen im Panzer fügt sich perfekt ins Bild. Diesen artifiziellen Kosmos hat sich Herzog Des Esseintes geschaffen, in einem Haus bei Paris. Er ist der dunkle Held der "Bibel der Dekadenz", des Romans "Gegen den Strich". Sein Schöpfer, der 1848 in Paris geborene Charles-Marie-Georges Huysmans, hat mit diesem Werk einen Meilenstein gesetzt. Aus Stolz auf seine holländischen Vorfahren (darunter der Maler Cornelius) "naturalisierte" Huysmans seinen französischen Vornamen in "Joris-Karl".

Ein dichtender Beamter

Nach der Matura begann Huysmans‘ 30-jährige Laufbahn als Beamter des Innenministeriums; das Jusstudium blieb Episode. Stattdessen schrieb der Staatsbeamte erste Theater- und Kunstkritiken. Den Krieg gegen Deutschland und die Pariser Kommune erlebte er als Nationalgardist. Danach widmete er sich der Schriftstellerei und der Kunstkritik. Die über 20 Jahre währende Liaison mit der Schneiderin Anne Meunier endet mit deren Einlieferung in eine Nervenanstalt, wo sie 1895 verstirbt. Huysmans wendet sich häretischen Geheimkulten zu und schließlich dem christlichen Glauben. Wiederholt sucht er Zuflucht in Klöstern. Er bereist Deutschland, die Schweiz und den Elsass. Ein weiteres Ziel ist Lourdes, dessen Pilgerscharen seinem letzten Werk den Titel geben: "Les foules de Lourdes." Am 12. Mai 1907 erliegt der pensionierte Ministerialbeamte, Offizier der Ehrenlegion, "Dekadenzdichter" und Laienbruder in Paris einem Krebsleiden.

Huysmans‘ literarisches Werk spiegelt den Epochengeist der Jahre 1880 bis 1900 wider. Die frühen Romane ("Marthe", "Die Schwestern Vautard") sind noch dem Naturalismus verpflichtet. Die Bekanntschaft mit Zola und dem Kreis von Médan hinterließ klare Spuren. Doch schon im Roman "En ménage" (1881, deutscher Titel: "Trugbilder") zeichnet sich die Wandlung des Autors vom Naturalisten zum Verfechter einer neuen Ästhetik ab, die mit dem Prinzip der Mimesis, der Nachahmung der Natur, bricht.

Nicht Zola, sondern Baudelaire ist Huysmans‘ Lehrmeister. Nicht dem Verfall der sozialen Verhältnisse, sondern der Psyche neurotisch-sinnlicher Helden gilt sein Interesse. Die beiden Hauptfiguren des Romans "En ménage", der Maler Cyprien und der Schriftsteller André, sind von ähnlichen Dämonen beseelt wie Huysmans selbst. Der melancholisch-maßlose Cyprien kämpft um eine moderne, kühne Ästhetik – und muss sich letztlich als billiger Plakettenmaler bescheiden. Der hypersensible, wankelmütige André wiederum hat tausend Gründe, mit seiner Schriftstellerei nicht vom Fleck zu kommen. Akribisch beobachtet er das Leben auf den Straßen von Paris oder von seiner Wohnung aus die "Langeweile dieser Unglücklichen" im gegenüberliegenden Ministerium. Literatur wird daraus keine.

Auch das ausschweifende Privatleben der beiden Anti-Bourgeois (mit zuweilen recht kleinbürgerlichen Wünschen nach einem vollen Bauch, frischer Wäsche und warmen Füßen) erweist sich als Jagd nach Trugbildern. Gnadenlos tritt die "Trivialität der Wirklichkeit . . . an die Stelle ihrer Träume" . Der militante Junggeselle Cyprien zieht sich in die wilde Ehe mit einer hässlichen, aber häuslich-mütterlichen Dirne zurück, und André in die Langeweile eines Vorstadthäuschens, um mit seiner Frau (nach langer Trennung) die Lauheit der Zweisamkeit fortzusetzen. Zynisch zieht Cyprien Bilanz: "Es hat seinen Vorteil, so leer zu sein wie wir, denn jetzt, wo alle Zugeständnisse gemacht sind, wird die ewige Dummheit der Menschen vielleicht auch bei uns Einzug halten und uns genau wie unseren Mitbürgern das Recht zubilligen, endlich angesehen und stumpfsinnig zu leben."

Huysmans‘ Parade-Décadent Des Esseintes, der späte Spross eines glorreichen Adelsgeschlechts, ist aus anderem Holz geschnitzt. Er verkörpert die radikale Verweigerung jeglicher Konzession. Der Romanheld lebt "gegen den Strich", also wider die Natur. Er sucht die totale Isolation, verzichtet fortan selbst auf exzentrische Gesellschaften wie das legendäre Trauerbankett: Dafür hatte er einst den Speisesaal schwarz drapiert, die Parkwege mit Asche geschwärzt und die schwarzen Speisen (die Palette reichte von Trüffeln, Kaviar und Blutwurst bis zu Schokolade und Weinen der Kategorie "tinto") von nackten "négresses" auftragen lassen. Sein Spleen, sein Bruch mit der Realität entspringt einer pessimistischen Weltsicht, die sich weder vom Glanz der Belle-Époque noch vom Triumph des Fortschritts blenden lässt. Die Diesseitsgewandtheit der Gesellschaft produziert ein metaphysisches Defizit.

Schopenhauers Philosophie (er steht zu dieser Zeit in Frankreich hoch im Kurs) bietet da wenig Halt. In seinem Vorwort zum Roman "Gegen den Strich" vertritt Huysmans den Standpunkt, Schopenhauers Ideengut über den Schrecken des Daseins und die Dummheit der Welt führe zu nichts. Denn im Unterschied zur Kirche, welche die Ursachen aller Übel, aber auch deren Gegenmittel aufzeige, erkläre der "deutsche Quacksalber" den Menschen erst für unheilbar krank, um ihm dann den Rücken zu kehren.

In jener Spätzeit wächst die Entfremdung zwischen dem Künstlertum und der Bourgeoisie. Zugleich mehren sich die Stimmen gegen eine Amerikanisierung Europas und gegen ein demokratisches Massenzeitalter. In diesen Kanon stimmt Huysmans mit ein, der, wie seine literarischen Helden, noch einen weiten Weg vor sich hat. Er führt zunächst aus der verachteten Realität in die verbotenen Reiche der Décadence. Des Esseintes schließt sich in einem ästhetischen Kokon ein und manövriert sich mit seinen "Hautgoût"-Experimenten in die Paralyse: "Was immer er unternahm, ein ungeheurer e n n u i (Überdruss, Anm.) drückte ihn zu Boden." Erlösung verheißen einzig die exzentrischen, morbiden Bilderwelten der Kunst. Des Esseintes erwirbt Meisterwerke des Symbolisten Gustave Moreau, darunter die berühmte "Salome". Sie verkörpert den Typus des Vamps, "die sinnbildliche Gottheit unzerstörbarer Wollust, die Göttin der unsterblichen Hysterie, die verfluchte Schönheit" . Niemand Geringerer als Wildes Dorian Gray wird sich mehrere Exklusiv-Ausgaben von "A Rebours" schicken lassen.

Näher zum Abgrund

Immer näher tastet sich Huysmans an den Abgrund heran. Freuds "Traumdeutung" ist noch nicht geschrieben, als der Held des Romans "Zuflucht" (1885) schon dem Bilderrausch surrealistisch-erotischer Träume erliegt: Der hoch verschuldete Pariser Jacques Marles flieht samt kränkelnder Gattin vor den Gläubigern in ein verfallenes Schloss auf dem Land (Huysmans hatte ebendort einen Sommer mit Anne Meunier verbracht). Auf beeindruckende Weise wechselt der Autor von der metaphorischen Aufladung der schönen Landschaft zur ernüchternden Darstellung der Landbevölkerung, von der finanztechnischen Schilderung krasser Geldnot zur Deutung jener "unterirdischen Zündschnur in der Dunkelheit der Seele" , die man Traum nennt, und der Jacques festen Lebensrahmen – seine Ehe – unterminiert. Denn auch dieser Held hegt eine nachhaltige Geringschätzung für alles Nutzdenken, hat keinen Beruf, nur eine uferlose Bildung, die keine Orientierung gibt. Es folgt die Flucht vor der Zuflucht – zurück nach Paris.

Die letzten Stufen nimmt Huysmans im Roman "Là-bas" ("Tief unten"). Im Zentrum steht das mittelalterliche Monster Gilles de Rais, alias Blaubart, an dessen Biographie der Romanheld Durtal schreibt. Okkultismus und Satanismus faszinieren Huysmans schon seit geraumer Zeit. Schwarze Messen, Hexensabbat, Blasphemie, nichts davon darf "dort unten" fehlen. Der Sadismus, so Huysmans, brauche den Katholizismus, um ihn profanieren zu können. Schon in seinem Kurzporträt des symbolistischen Malers Félicien Rops hatte er erklärt: "Im Grunde ist niemand so obszön wie keusche Menschen."

Nach der Revolte gegen das christliche Keuschheitsdogma folgte die Hinwendung zum Katholizismus. In "Die Kathedrale" (1898; gemeint ist jene von Chartres) thematisiert der Autor seinen Glaubenskampf, den er – abermals gespiegelt im Helden Durtal – dank Beschäftigung mit sakraler Kunst und Musik besteht.

Huysmans scheint am Ziel. Er wollte die Fenster aufreißen, mit Vorurteilen aufräumen, und die naturalistischen Grenzen des Romans sprengen. Ob seine religiöse Läuterung von Bestand gewesen wäre, bleibt indes Spekulation.

Werke von Joris-Karl Huysmans auf Deutsch:

Aufz„hlung Zuflucht". Ãœbersetzt von Michael Kleeberg, dtv, München 2007, 336 Seiten, 9,80 Euro.
Aufz„hlung "Trugbilder". Ãœbersetzt von Caroline Vollmann, dtv 2007, 240 Seiten, 9,80 Euro.
Aufz„hlung "Gegen den Strich". Ãœbersetzt von Brigitta Restorff, dtv 2003, 269 Seiten, 9, 50 Euro.
Aufz„hlung "Tief unten". Ãœbersetzt von Ulrich Bossier, Reclam 1994, 375 Seiten, 8,10 Euro.
Aufz„hlung "Die Kathedrale" ist zurzeit nicht auf Deutsch lieferbar.

Ingeborg Waldinger

geboren 1956, lebt als freie Journalistin in Wien und schreibt regelmäßig Reportagen und kulturhistorische Beiträge fürs "extra" und fürs "Wiener Journal".

Printausgabe vom Samstag, 12. Mai 2007
Online seit: Freitag, 11. Mai 2007 17:03:28

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