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Ein Dichter im Aufwind

Kasimir Edschmid, Foto von E. Wasow, 1919.  Foto: Aus dem genannten Buch

Kasimir Edschmid, Foto von E. Wasow, 1919. Foto: Aus dem genannten Buch

Von Hermann Schlösser

Aufzählung Der Expressionist Kasimir Edschmid begann seine literarische Laufbahn mit gewagten Erzählungen, einem Prozess wegen Unsittlichkeit und drei Büchern im Kurt Wolff-Verlag.

Die Zeit, in der der junge Literat Kasimir Edschmid vom Schreiben zu leben begann, war den Aufbrüchen günstig. In den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg kündigte sich in der Malerei, der Musik, der Literatur Unerhörtes an, und der 1890 geborene Edschmid nahm an der großen Bewegung teil. In Paris, wo er sich zwischen 1910 und 1911 als Student aufhielt, trat er – nach einer glücklichen Formulierung Kurt Schleuchers – als "halb gewollter Bohemien, halb besonnener Student" in Erscheinung. Er besuchte zwar Seminare an der Sorbonne und der École des Chartes, war aber zugleich in der künstlerischen Boheme unterwegs, verdiente Geld als Theaterstatist und Zeitungsverkäufer, begegnete unter anderem Guilleaume Apollinaire, mit dem er um die Wette Gedichte schrieb: Wer als erster fertig war, hatte gewonnen.

Doch traf er auch in anderen Universitätsstädten auf junge Poeten. In Straßburg lernte er Ernst Stadler kennen, den Germanisten und Lyriker, der über Wolfram von Eschenbach dissertiert hatte, Gedichte in neuester Tonart verfasste und mit der englischen und französischen Kultur vertraut war. Dieser vielseitig interessierte und interessante Mann, der 1914 als deutscher Kriegsfreiwilliger in den frühen Tod marschierte, beeindruckte Edschmid nachhaltig.

Da er sich aber immer entschlossener der Prosa zuwandte, ließ er sich literarisch nicht von Apollinaire oder Stadler anregen, sondern von dem Erzähler Arnold Zweig. Ihm war er schon in seinen ersten Münchener Semestern begegnet, und er hatte die Intelligenz und Ausdrucksfähigkeit des drei Jahre älteren Kommilitonen bewundert. 1912 erschienen dann Zweigs "Novellen um Claudia" und Edschmid sah in ihnen manches von dem verwirklicht, wonach er selbst suchte.

"Aus tiefsten Gründen"

Mit seinem Interesse an diesem Buch stand Edschmid nicht allein: Die "Novellen um Claudia" waren Zweigs erster großer Erfolg. Dieser Zyklus aus sieben Erzählungen handelt wesentlich von der Sexualität. Claudia, eine künstlerisch begabte Frau aus gutem Hause, heiratet den Gelehrten Walter. Doch finden diese ästhetischen Menschen nur unter Schwierigkeiten zueinander. Ihre Seelen- und Geistesfreundschaft lässt ihren Körpern keine Entfaltungsmöglichkeit. In der fünften Novelle, "Die keusche Nacht", erzählt Zweig, wie unendlich zartfühlend das Paar die Hochzeitsnacht einzuleiten gedenkt und wie kläglich es dabei scheitert. Schließlich erhebt sich ein Streit, Aggressionen werden frei – und da kommt es plötzlich wie von selbst zu dem, was die beiden durch Zartheit und Delikatesse nicht zustande brachten:

"Seine Küsse erstickten ihr im Munde etwas, das ein Stöhnen sein konnte und auch ein jauchzendes, triumphierendes Gelächter: eins, das aus tiefsten Gründen und Dickichten hervorsprang, ein Elf. Es lachte über alle Ängste und alle Schwierigkeit, über Claudia und Walter, über den ganzen Geist und alle Scheidungen und Hemmnisse; es lachte über die ganze Seele."

Dass Passagen wie diese Eindruck auf den jungen Edschmid machten, lässt sich denken. Auch er suchte nach Lebensäußerungen, die aus "tiefsten Gründen und Dickichten" hervorkämen. In seiner nie mehr neu aufgelegten Novelle "Der Soldat" aus dem Jahr 1914 geschieht zum Beispiel Folgendes: Cecile, eine höhere Bürgerstochter, nähert sich ihrem Geliebten mit dem kostbaren Namen Laurenze nur keusch und in schicklichen Formen. Dies führt dazu, dass er seine sexuellen Bedürfnisse mit einer anderen Frau befriedigt. Als er Cecile seinen Seitensprung gesteht, gerät ihr Blut in Wallung. Sie will sich im Fluss ertränken, hört aber am Wasser "ein wollüstiges Lachen" . Ein Soldat kommt auf sie zu und redet sie ordinär an: "Her auf mein Schoß!" Zu ihrem Schrecken gefällt ihr das sehr gut. Sie erhört den Soldaten zwar nicht, flüchtet aber nach Hause, entkleidet sich und freut sich zum ersten Mal an der Schönheit ihres nackten Körpers. Als ihr jahrelang Angebeteter am nächsten Morgen um ihre Hand anhält, lehnt sie ab.

Bei allen Unterschieden im Detail haben Zweigs "keusche Nacht" und Edschmids "Soldat" das Entscheidende gemeinsam: Sie brechen ein Tabu, indem sie kultivierte, d.h. gehemmte Menschen mit der Erfahrung konfrontieren, dass die Wünsche und Bedürfnisse ihrer Körper durch einen noch so feinen Geist und eine noch so schöne Seele nicht zu domestizieren sind. Diese Einsicht bewirkte bei Claudia, Walter und Cecile, aber vermutlich auch bei ihren Erfindern und bei den damaligen Lesern einen heilsamen Schock.

Was aber fängt ein heutiger Leser mit den Tabubrüchen und Schockerfahrungen vergangener Tage an? Die Frage ist leichter gestellt als beantwortet. Gewiss spiegelt sich die Spannung zwischen "Ästhetizismus" und "Vitalismus", die sich in der damaligen Literatur häufig zeigte, auch in der erotischen Thematik. Dennoch wird man dieser (und jeder anderen) "Einordnung" nicht froh, mag sie im Übrigen noch so zutreffend sein. Denn gerade die Autoren des frühen 20. Jahrhunderts mochten sich mit der Proklamation neuer literarischer Richtungen nicht begnügen. So bedeutsam der jeweils kursierende "-ismus" für ihr Selbstverständnis auch gewesen ist – wichtiger waren ihnen Kraft und Unabhängigkeit des persönlichen Ausdrucks.

Dass es einigen Mutes bedurfte, um sich so frei auszudrücken, zeigt sich auch daran, dass Edschmid wegen eines erotischen Textes im Frühjahr 1914 vor Gericht gestellt wurde. Er hatte die "Lieder des Mönchs von Montaudon" aus dem Provenzalischen übersetzt und publiziert. Dass dies keine Fleißarbeit des Romanistikstudenten Edschmid war, sondern eine freie Nachdichtung des Literaten, beweist schon der Publikationsort: die expressionistische Zeitschrift "Aktion", die vorher auch schon eigene Verse Edschmid gebracht hatte.

Die Ausgabe der "Aktion", in der die Übersetzungen enthalten waren, wurde wegen Verstoßes gegen die Paragraphen 111 und 184 des Strafgesetzbuches gerichtlich beschlagnahmt. Das Vorgehen der Justiz richtete sich nicht nur gegen Edschmid, sondern gegen die Zeitschrift als solche und ihren Herausgeber Franz Pfemfert.

Unsittliche Texte

Als belastendes Material wurden insbesondere drei Beiträge angeführt: In dem einen lobte Hugo Kersten eine Madame Cailloux, weil sie den Chefredakteur des "Figaro" umgebracht habe, und er empfahl zur Verbesserung des deutschen Pressewesens Ähnliches. Dieser Artikel wurde als Aufruf zum Widerstand gegen die Staatsgewalt verstanden, obwohl er gegen die Presse mobil machte. Als "unzüchtig" sah man dagegen eine satirische Erzählung Ferdinand Hardekopfs an, in der sich u.a. Sätze wie die folgenden fanden: "Manon, in frühe Mannbarkeit eingerückt, warf sich heftig in die Passion, ja in die Raserei zu einem gewissen Marcel, einem jungen Wollüstling aus guter Familie, den praktische Rücksicht hinderte, bei der Manon über die geläufigsten, der Reputation unschädlichen Handgriffe hinauszugehen."

Ebenso anstößig wie diese witzigen Desillusionierungen romantischer Liebesideen erschienen dem Staatsanwalt die Lieder des provenzalischen Mönchs. In Edschmids Version klingen sie unter anderem so:

Ich liebe, Freunde, vor allem / Musik, Radau und rauschvolle Dinge tun / Und eine Dame, die gute Glieder hat./ O, wie funkelschön sind Gespräche, die hochzucken / Gleich Dolchen und aufeinanderzischen, und dies / Liebe ich: Honette Reiche und den, der dem Feind / Ins Gesicht spuckt.

Lob aus dem Mund irgendeines / Strömend gefällt mir und Siesta, wenn es nicht hagelt. / Und ein fetter Lachs um die Stunde Neun.

Und diese Wonne: Ich liege / Im Sommer / An Quellen, am Bach und / Die Ebenen sind grün, Blumen neu, / Lerchensang rauscht immer, hoch / Über mich / Und ich sehe heimlich im Duft wo die Freundin / Und beschlafe sie rasch einmal.

Diesen Zeilen also machte man kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs den Prozess. Pfemfert wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, Edschmid freigesprochen. In einem Leitartikel der "Aktion" hatte Franz Pfemfert ihn mit der anscheinend unwiderleglichen Behauptung unterstützt, ein Gedicht, "das an Hochschulen Unterrichtsstoff ist" , könne nicht unzüchtig sein. Vor Gericht bestätigten dann mehrere Gutachter den literarhistorischen und künstlerischen Wert der Verse, so dass der Vorwurf des Unzüchtigen schließlich fallengelassen wurde.

Diese derben – oder wie es so schön literaturwissenschaftlich heißt: "grobianischen" – Lieder des mittelalterlichen Mönchs sind aber nicht nur interessant, weil sie Gegenstand obrigkeitlicher Zensurversuche wurden. Sie illustrieren überdies die Wünsche und Idealvorstellungen des vierundzwanzigjährigen Literaten, der sie aus der toten Sprache der Vergangenheit in das Idiom seiner Gegenwart herüberholte. Ein Mann, der eine Dame liebt, die gute Glieder hat, und der zugleich dem Feind ins Gesicht spuckt: das war nach dem Geschmack des jungen Edschmid.

Ästheten unter sich

Doch ist damit nicht gesagt, dass er selbst als Mann von tatkräftigem Schlag aufgetreten wäre. In ganz und gar anderem Ton schrieb Edschmid über den Unsittlichkeitsprozess rückblickend 1915 in einem Brief: "Die Verhandlung war von vorneherein sehr günstig für mich, das Gutachten des Dr. Storck vom Türmer als ger. Sachverständigen war sehr gut und freundlich für mich. Ich war sehr froh, daß diese Geschichte, deren Unvornehmheit und deren Rahmen mir aufs äußerste peinigend war, nun aus der Welt geschafft ist."

Das ist nicht die Sprache eines Mannes, der seine Gegner zu bespucken pflegt. Statt dessen begegnet man einem empfindlichen Ästheten, der froh ist, wenn man ihn vor Gericht "sehr gut und freundlich" behandelt, weil er "Unvornehmheiten" nun einmal nicht leiden kann.

Der Adressat dieses Berichts ist allerdings auch kein Grobian gewesen, sondern ein ästhetischer Mensch par excellence : Kurt Wolff, ein junger Verleger aus gutem Haus, der sein nicht unbeträchtliches Privatvermögen darauf verwandte, die damals neueste Literatur bekannt zu machen.

Auch Kasimir Edschmid gehörte in jungen Jahren zu den Autoren des Hauses Wolff: 1915 erschienen dort seine beiden Novellenbände "Die sechs Mündungen" und "Das rasende Leben", 1916 folgte "Timur" – und mit diesen drei Erzählungsbänden begann ein erfolgreiches Literatenleben, das erst 1966 mit Kasimir Edschmids Tod endete.

Auszug aus "Kasimir Edschmid. Expressionist – Reisender – Romancier." Eine Werkbiographie. Aisthesis Verlag, Bielefeld, 2007, 480 Seiten, 29,80 Euro.

Am Donnerstag, den 17. Jänner, präsentiert Edschmid-Biograph und "extra"-Redakteur Hermann Schlösser im Rahmen der Kurt Wolff-Ausstellung (siehe S. 9) die Texträusche und Wortekstasen "seines" Autors : "Eine unfassbare Sehnsucht nach Glühendem. Der Expressionist Kasimir Edschmid." Der Vortrag findet um 19.00 Uhr im Literaturhaus Wien, Seidengasse 13, 1070 Wien, statt.

Printausgabe vom Samstag, 12. Jänner 2008
Online seit: Freitag, 11. Jänner 2008 14:33:58

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