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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Das aufregende und schwierige Leben der Romanautorin Jean Rhys

Gnadenlos anstrengend

Von Stefanie Holzer

Niemand, der die ersten vier Romane von Jean Rhys gelesen hat, kann annehmen, dass sie ihr Leben im Griff hatte; aber niemand, der sie nicht persönlich kennen gelernt hat, konnte wissen, wie wenig sie es im Griff hatte. (Diana Athill)

Jean Rhys, eigentlich Ella Gwendoline Rees Williams, wurde 1890 auf Dominica geboren. Sie hieß Ella nach der im Kindesalter verstorbenen Schwester ihrer Mutter und Gwen nach ihrer eigenen, ein Jahr vor ihrer Geburt verstorbenen Schwester Gwenith. Wer auf Zeichen etwas gibt, den mag nicht weiter überraschen, dass Jeans langes Leben reich an schrecklichen, makabren und auch widerwärtigen Aspekten war.

Jeans Familie lebte auf einer Insel mit 30.000 Einwohnern, von denen insgesamt 300 weiß waren. Der Tochter aus gutem Haus wurde wegen ihrer Neigung zu den Schwarzen ein "sozialistischer Anfall" attestiert, dem ein Weilchen später ein religiöser folgte: Wegen der schmuckreichen Schönheit der Kathedrale und wohl auch weil die Schwarzen katholisch waren, wandte Jean sich für ein Weilchen schwärmerisch dem Katholizismus zu. Für Protestanten waren die Toten tot, die Katholiken aber zündeten ihren Verstorbenen Kerzen an und schmückten die Gräber mit Blumen. Und es sagte ihr zu, dass der Katholizismus selbst in den bedrohlichsten Winkeln Hoffnung zuließ: Eine Nonne erklärte Jean, dass die Existenz der Hölle zwar eine unerschütterliche Glaubenswahrheit sei, allerdings gebe es keinen Beleg dafür, dass dort in der Hölle tatsächlich jemand brate.

Kulturschock in England

1907 geht Jean nach Großbritannien. Und sie ist bodenlos enttäuscht. England, wussten alle Weißen auf Dominica, war das Paradies. Folglich hatte sie eine üppig blühende, betörend duftende Insel erwartet. Tatsächlich erwies sich England als kalt und grau. Die Straßen mit ihren kleinen schäbigen Häusern sahen alle gleich trostlos aus. Die Rhys-Heldinnen haben stets Mühe, sich in London nicht zu verlaufen.

Das einzige, was ihr in der Schule, die sie in Großbritannien besucht, Freude macht, sind die Theateraufführungen. Bald erlangt sie die väterliche Erlaubnis, an eine Schauspielschule zu wechseln. Dort erweist es sich, dass sie die singende Sprechweise der Schwarzen angenommen hat, die sie laut Ansicht ihrer Sprecherzieher nie würde ablegen können. Mit der großen Bühnenkarriere sah es also schlecht aus. Seit dieser Zeit sprach Jean Rhys - wenn sie nicht gerade einem ihrer Wutanfälle nachgab - mit leiser Stimme.

Die Familie legt ihr nahe, nach Dominica zurückzukehren. Davon will sie nichts wissen. Sie braucht Geld. Also tingelt sie als Revuegirl singend und tanzend durch die Lande. Jean verabscheut "Snobs". Das sind alle, die vernünftig sind. Sie wendet sich stets denen zu, die das Gefühl über den Verstand stellen. Populär waren damals Stücke wie "Our Miss Gibbs", in dem ein junges armes Mädchen einen Aristokraten heiratet. Zwischen den Vorstellungen plaudern die Mädchen ausdauernd über schöne Kleider - und über Männer. Das Buch, das alle lesen, ist eine Schmonzette mit dem Titel "Forest Lovers": Ein hochwohlgeborenes Mädchen verliert den Boden unter den Füßen, landet in der Gosse, aus der sie - o Glück! - von einem Ritter errettet wird.

Die Mädchen sind nicht so dumm wie ihre Lektüre. Sie wissen, dass sie beizeiten nach einem geeigneten Heiratskandidaten Ausschau halten müssen. Jugend und Schönheit sind ihr vom Fortgang des Lebens bedrohtes Kapital. Dieses Wissen durchdringt die ersten vier Romane der Autorin. Rhys lernt von ihren Revue-Kolleginnen nicht nur anzüglich-lose Reden, sondern auch, dass Männer entweder Beschützer oder Ausbeuter, und dass Frauen entweder Gewinner oder Verlierer sind. "Und das, was sie gewannen oder verloren, waren Männer."

Der erste Mann, den Rhys verlor, war der reiche Börsenmakler Lancelot Grey Hugh Smith. Diese Liaison fand in "Voyage in the Dark" ihren Niederschlag. Die junge Ich-Erzählerin weiß, wie die Beziehung mit Walter Jeffries enden wird: Der Gentleman wird ihrer eines Tages müde werden. Sie möge, raten ihr die Freundinnen, soviel Geld aus ihm herausholen, wie nur möglich. Doch Anna liebt ihn. Geld interessiert sie nicht: "Jeder sollte Geld haben. Es müsste wie Wasser sein. Das merkt man daran, dass man sich so schnell daran gewöhnt."

Als Walter Jeffries die Beziehung beendet, stürzt sie in ungeahnte Tiefen. Sie zieht zu Ethel, die einen Massagesalon betreibt, in dem Anna die Grenze von der ausgehaltenen Frau zur Prostituierten überschreitet. Als sie schwanger ist, hilft der ehemalige Geliebte mit Geld für die Abtreibung aus. Der Arzt, der Anna nach ihrer Abtreibung behandelt, meint am Ende des Romans resigniert, dass sie wieder gesund wird, allerdings nur, um das ganze sofort von Neuem zu beginnen. Die Geschichte läuft ab wie eine Reihe nach einander umfallender Domino-Steine.

Dieses Gefühl der Resignation macht auch dem Leser zu schaffen. Die Rhys-Heldinnen tun sehenden Auges den Schritt in die Finsternis. Im Dunkeln überlegen sie, ob die Seine oder ein Autobus die Lösung aller Probleme sein könnten. Bevor sie sich jedoch endgültig entscheiden, trinken sie: Brandy, Vermouth, Gin, Whisky, Pastis, Wein - alles in rauen Mengen. Sie verbringen ihre Tage in Trance: müde, schlapp und aggressiv.

Gefährdete Heldinnen

Die Rezensenten der Rhys-Romane haben stets hervorgehoben, was für eine brillante Schreiberin Rhys ist, allerdings erregten die Heldinnen Marya ("Quartet"), Julia ("After Leaving Mr Mackenzie"), Anna ("Voyage in The Dark") und Sasha ("Good Morning, Midnight") häufig Widerspruch. Rebecca West (1892-1983) schrieb 1930, dass es höchst zweifelhaft sei, ob jemand "After Leaving Mr Mackenzie" überhaupt aufschlagen sollte, wenn er nicht glücklich verheiratet, immens reich und bei bester Gesundheit sei.

Carole Angier zeigt in ihrer einfühlsamen und penibel recherchierten Biographie, dass im Leben der Autorin stets wie durch ein Wunder ein Freund auftauchte, der sie in ihren dunkelsten Momenten rettete. Dieses Glück spiegelt sich in den ansonst streng der eigenen Biographie folgenden Romanen nicht. Angier berichtet, dass sich Zeitgenossen oft darüber gewundert haben, dass eine Frau, die ihr Leben fast ohne Pause an der Seite von Gatten und Geliebten verbracht hat, über nichts als die Einsamkeit schrieb.

Bevor sich Rhys aus Liebeskummer zu Weihnachten 1913 aus dem Fenster stürzen kann, kommt eine Freundin, die ihr erklärt, dass das Haus für einen tödlichen Sturz nicht hoch genug sei. In den autobiographischen Skizzen "Lächeln, bitte!" erzählt sie, wie sie kurz nach dieser schrecklichen Nacht das Schreiben für sich entdeckt: Sie hatte zur Dekoration für einen allzu leeren Tisch in einem kahlen Zimmer Notizhefte und ein Schreibset gekauft. Auf die erste Seite schrieb sie noch am selben Abend: "Das ist mein Tagebuch." "Doch es war kein Tagebuch. Ich erinnerte mich an alles, was mir in den vergangenen eineinhalb Jahren zugestoßen war."

Mit finanzieller Unterstützung von Lancelot Grey Hugh Smith beginnt sie ein Bohemien-Leben. Sie schläft tagsüber und geht nachts aus. Sie lernt ihren ersten Gatten kennen: Jean/John Lenglet ist Holländer. 1920 wird ihr gemeinsamer Sohn William geboren, der nur drei Wochen nach der Geburt stirbt. Jean war weder für William noch für seine zwei Jahre später geborene Schwester Maryvonne eine auch nur ansatzweise kompetente Mutter.

Reiche Freunde vermitteln Lenglet einen Posten als Sekretär

einer japanischen Delegation bei einer Abrüstungskommission in Wien. Zuerst in Wien und dann in Budapest, verschafft sich John einen beachtlichen Zuverdienst, indem er illegal Devisen an Wiener verkauft. Die Lenglets haben plötzlich Geld und lassen sich das Leben gefallen. In der Kurzgeschichte "Vienne" schildert Jean Rhys, wie sie und ihr Mann anlässlich einer Party auch eine Apachen-Tänzerin in ihrer Wohnung im 4. Bezirk in Wien zu Gast haben, die erst in der Früh die Wohnung verlässt und auf der Stiege der wohl mehr als erstaunten Tochter des Hauses begegnet. Die Erzählerin entschuldigt sich bei der protestierenden Vermieterin, allerdings setzt sie nach: "Gott weiß, wenn es eine Scheinheiligkeit gibt, die mir widerwärtiger ist als alle anderen, dann ist es die Fiktion der 'guten' und der 'schlechten' Frau."

Um diese Unterscheidung geht es auch im ersten Roman: In "Quartet", erschienen 1928, verarbeitet Jean Rhys ihre Beziehung mit dem Romancier und Herausgeber der Zeitschrift "Transatlantic Review", Ford Madox Ford: Marya Zelli, die Heldin von "Quartet", lernt in Paris Lois und Hugh Heidler kennen; sie beginnt mit Hugh ein Techtelmechtel. Die betrogene Lois zieht sich den Hass der jungen Geliebten ihres Gatten zu, nicht weil sie dieser Liebe im Wege stünde, sondern weil sie darauf beharrt, dass der Schein gewahrt bleibt. Jean Rhys porträtiert Ford als gänzlich unliebenswürdiges Monster - was eine gravierende Schwäche dieses Romans ist. Denn man kann bei bestem Willen nicht begreifen, was die junge Dame an diesem "deutsch aussehenden" Ungetüm findet.

Wutanfälle

Jean Rhys war eine schreckliche und schrecklich verzweifelte Frau. Ihr zweiter Mann Leslie Tilden Smith war ein sanfter Mensch. Er unterstützte sie beim Schreiben, tippte ihre Manuskripte und kümmerte sich in jeder Hinsicht um sie. Im Zuge von Trinkorgien und Wutanfällen schlug sie ihn grün und blau. Kratzer im Gesicht wurden der Katze zur Last gelegt. Der Schriftstellerin Rosamond Lehmann (1903-1990) erzählte der humpelnde Leslie, dass Jean zu einem vereinbarten Treffen nicht kommen könne, weil sie beide einen Autounfall gehabt hätten. Jean Rhys litt darunter, dass sie schnell und oft bei geringfügigem Anlass die Kontrolle über sich verlor.

Sie hat ihren Gatten wohl zeitweilig gehasst. Dieser zurückhaltend feine Mensch erschien ihr als lebender Vorwurf. In dieser Zeit wurde sie auch erstmals wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet.

Als "Good Morning, Midnight" erschien, waren die Besprechungen zwar viel versprechend - allerdings begann bald darauf der Zweite Weltkrieg, und Jean Rhys trat in eine Lebensphase ein, die sonst nur bei William Shakespeare aktenkundig ist: Sie verschwand gewissermaßen von der Erdoberfläche.

Während des Krieges dreht sie fast durch. Sie tut immer wieder das, was ihre Umgebung ganz gewiss gegen sie aufbringt: 1942 brüllt sie "Heil Hitler!" in einem Pub, weil sie sich angestarrt fühlt. Sie ist - wie es in "Good Morning, Midnight" heißt, "unglücklich wie ein Hund in der Türkei oder eine Frau in England".

Als Leslie an einem Herzinfarkt stirbt, stellt seine Famile die finanzielle Unterstützung für sie ein. Leslies Testamentsvollstrecker Max Hamer wird ihr dritter Mann. Er war ebenso wenig wie Leslie in der Lage, mäßigend auf sie einzuwirken. Sie kommen immer mehr herunter. Wie elend die Menage der beiden war, möge folgende Geschichte erhellen: Max kränkelte, dazu schmerzten ihn seine Füße so sehr, dass er nicht mehr gehen konnte. Eines Tages bemerkte eine Besucherin, dass bloß niemand daran gedacht hatte, dem kranken Max die Fußnägel zu schneiden.

Die letzte große Heldin

In den 50er Jahren nahm man an, Jean Rhys sei tot. Sie habe sich ertränkt oder sei sonstwie verkommen. 1957 erschien das berühmte Inserat im "New Statesman", das nach dem Verbleib der Schriftstellerin Jean Rhys fahndete. Da tauchte sie wieder auf. Neun Jahre dauerte es, bis sie unter reger Anteilnahme u. a. von Diana Athill, der legendären Lektorin bei André Deutsch, ihre keckste Erzähl-Idee umsetzen konnte: Charlotte Brontes "Jane Eyre" gibt Jean Rhys das Schicksal ihrer letzten großen Heldin vor. Die gefühlvolle Antoinette in "Sargassomeer" heiratet auf Betreiben ihrer Familie den gefühlskalten Engländer Rochester. Er meidet seine Frau, weil sie in ihm jene Leidenschaft entfacht, die ihn um seine Selbstkontrolle fürchten lässt. Antoinettes Liebe wird verschmäht, sie ist ihm ausgeliefert und wird wahnsinnig. Grace Poole - die Irrenwärterin aus "Jane Eyre" - ist nur einen Moment unachtsam, Antoinette befreit sich und begeht Selbstmord. Das ist der einzige Ausweg für eine Rhys-Heldin.

"Sargassomeer" brachte Rhys Ruhm, Preise und endlich auch Geld. Sie genoss den Ruhm und ihre zahlreichen Besucher und Bewunderer: V. S. Naipaul, Sonia Orwell, Diana Athill und viele andere. Mit über 80 Jahren fühlt sie sich, als ob ihr Leben gerade eben beginnen würde. 1979 stirbt Jean Rhys im Alter von 89 Jahren, nicht ohne zuvor alle ihre treuen Freunde undankbar bis zum Äußersten strapaziert zu haben.

Jean Rhys auf Deutsch:

  • Lächeln bitte! Unvollendete Erinnerungen. Übersetzt von Anna und Victoria Laube. Ullstein Frankfurt 987.
  • Guten Morgen, Mitternacht. Übersetzt von Grete Felten. bvt Berlin 2002. - Sargassomeer. Übersetzt von Anna Leube. bvt Berlin 2002.

Freitag, 11. Februar 2005 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 12:10:00

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