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Mercè Rodoreda: Wien, das Tor zum Haltlosen

Das Grabmal Mercè Rodoredas in Romanyà. Foto: Garstenauer

Das Grabmal Mercè Rodoredas in Romanyà. Foto: Garstenauer

Von Werner Garstenauer

Die katalanische Erzählerin Mercè Rodoreda (1908 bis 1983) muss hierzulande noch entdeckt werden – da sie auch Österreichs Hauptstadt beschrieben hat, fehlt es dazu keineswegs an Ansatzpunkten.

Frühling 1971. Mercè Rodoreda, die große Erzählerin der katalanischen Moderne lebt seit 32 Jahren im Exil. In Paris, Genf – und nun irrt sie nächtens durch Wien: "Desorientiert, fand ich mich in einem großen Park zwischen sehr großen Gebäuden wieder. Die säuberlich voneinander getrennten Paläste konnte ich wegen der wuchernden Pflanzen und der großen, hundertjährigen Baumgruppen kaum ausmachen. Der Wind wurde immer stärker. Die Äste ächzten. Auf einmal hatte ich das Gefühl, als ob ich nie mehr von dort drinnen herauskäme, als ob alle Wege ins Leere laufen würden. Ich befand mich mitten in einer toten Stadt."

So empfindet es Rodoreda, die sich wegen eines Krankenbesuchs zum ersten Mal in Wien aufhält. Gegen Mitternacht hat sie ihren todkranken Lebensgefährten Joan Prats im AKH zurückgelassen. Im Morgengrauen wird sie todmüde und durchfroren beim Naturhistorischen Museum ankommen. Ihre Route lässt sich nicht mit Gewissheit rekonstruieren, sie erwähnt die Garnisongasse als Ausgangspunkt ihrer Odyssee, als weitere Punkte den Rooseveltplatz und die Votivkirche, aber auch die Lazarettgasse wird genannt. Durchquerte sie vielleicht das Gelände des alten AKH, bevor sie die Richtung änderte und auf das Rathaus, die Hofburg, die Museen zusteuerte und auf die dort gelegenen Gärten stieß?

Verzerrte Spiegel

In Mercè Rodoredas Roman "Der zerbrochene Spiegel", der – Anfang der 60er Jahre begonnen und erst 1974 abgeschlossen – das Spätwerk der Dichterin einläutet, kommen auch noch das Demel und der Donaukanal vor. Nach mehreren Wien-Aufenthalten und parallel zu den Vorbereitungen für ihre endgültige Rückkehr nach Katalonien 1979 steht die hier erzählte Geschichte von der Gründung und dem Zerfall einer Familie im Zentrum ihres Schaffens. Schon im Romanauftakt erfährt das zentrale Motiv des Spiegels eine wegweisende Brechung. In Wien lernt der Familiengründer Salvador Valldaura die melancholische Geigerin Bàrbara kennen, von der es heißt: "Sie musste Wienerin sein; nirgendwo auf der Welt hatte er so zierliche Mädchen gesehen, die ein so reizendes Profil besaßen."

Bàrbaras abweisendes Verhalten gründet, wie bald klar wird, in traumatischen Familienverhältnissen. Den Vater habe das Mädchen nie kennen gelernt, und von der Mutter sei sie früh verlassen worden. Jetzt erscheine ihr im Traum stets ein goldgerahmter Spiegel, der an die Wandspiegel des luxuriösen Restaurants erinnere, in dem Bàrbara und Salvador soupieren. Aus diesem rufe eine Stimme sie in den Tod. Bald darauf ertränkt sie sich im Donaukanal und Salvador kehrt ernüchtert nach Barcelona zurück.

Wien wirkt nach. Rodoredas Erlebnisse müssen im Hinblick auf den einschneidenden Wendepunkt gelesen werden, den der Tod Joan Prats Mitte August 1971 bildet. Mit ihrem langjährigen Lebensgefährten verliert Mercè die wichtigste Basis ihres mitteleuropäischen Exildaseins zwischen Genf und Paris. Zudem kommt sie einer schmerzhaften Wahrheit auf die Spur: Joan Prats, der als UNO-Übersetzer 1960 die gemeinsame Wohnung in Genf verließ, um sich in Wien niederzulassen, hatte eine jüngere Geliebte. Dies zerstört eine tragende Illusion in Rodoredas Leben.

Ein Jahr nach ihrer endgültigen Rückkehr in die Heimat veröffentlicht Rodoreda den Roman "Quanta, quanta guerra . . .": Die Geschichte vom jungen Adrià, der in einen ungenannten Krieg zieht und solchermaßen sein ganzen Leben abdient – eine illusionslose Abrechnung mit einer sinnentleerten Welt.

Der deutsche Titel "Weil Krieg ist" mildert den schonungslosen Gestus des Textes und gaukelt dem Leser eine klare, kausale Beziehung des Geschilderten vor. Der Text aber schlingert in teils kürzeren, teils längeren Abschnitten zeit- und haltlos durch Enttäuschungen, Verblendungen und Grausamkeiten. So bedeutet denn auch der Originaltitel so viel wie "Wie viel, wie viel Krieg . . ." Zwar bildet die militärische Auseinandersetzung, deren Details an den Spanischen Bürgerkrieg denken lassen, für Adrià den Rahmen seiner Erlebnisse, doch wird bald deutlich, dass im Grunde in allen menschlichen Beziehungen Krieg herrscht.

Zwei Kardinalpunkte von Rodoredas Kritik sind die Unterdrückung der Frau und die illusorische Sicherheit von Identität. Eva, eine selbstbewusste Frau und einer der wenigen Lichtblicke auf Adriàs Lebensfahrt, wird von einer abgestumpften Alten zur Prostitution gezwungen und von ihren Freiern auf bestialische Weise ermordet. Später lernt Adrià das Geheimnis eines alten Mannes kennen: einen magischen Spiegel, in dem er verführerische Augen und einen vom Leben gezeichneten Arm erblickt. Dem Bann des Spiegels kann er sich nur durch dessen Zerstörung entziehen. Schließlich endet – ein Verweis auf die entscheidende Schlacht am Ebro – der Krieg just an dem Fluss, der die Abenteuerfahrt mehrmals kreuzt. Die Naturgewalt trägt das Geheimnis des Lebens ins Meer.

Im (bisher nicht ins Deutsche übersetzten) Vorwort zu diesem Roman verdichtet Rodoreda ihr (eingangs zitiertes) Wiener Nachterlebnis zum poetologischen Manifest ihres Spätwerks. Sie verknüpft die Erfahrung des unheimlichen Wien mit Verweisen auf Baudelaire, C. G. Jung, die Verfilmung von Potockis "Handschrift aus Saragossa" und Franz Kafkas "In der Strafkolonie".

Diese Erzählung Kafkas ist seine grausamste und mitsamt ihrer Entstehungs- und Aufführungsgeschichte diejenige, die am deutlichsten mit dem Ersten Weltkrieg verbunden ist. Darin wird der im Namen eines Systems herbeigeführte Tod in seiner Sinnlosigkeit entlarvt und am zerfleischten Körper der Zwang zur ewigen Infragestellung des Lebens beschworen. Die Evokation Wiens geht weit über ein oberflächliches Gruseln hinaus, da für Rodoreda das Wien-Erlebnis und die Lektüre der "Strafkolonie" durch die Einsicht verbunden sind, dass das Leidenslabyrinth des Daseins ohne Ausweg ist. Auch die Anrufung der Natur, der Parkanlagen oder der Gärten bietet in diesem Text keine Lösungen an.

Der lange Weg zu sich

Dabei liebte die Autorin Gärten und Blumen sehr. Sant Gervasi, ein damals bereits eingemeindetes Dorf vor Barcelona am Fuße des Tibidabos, war die ländliche Umgebung, in der Mercè Rodoreda abgeschirmt von den Konflikten der Zeit aufwuchs. Fast alle Häuser hatten Gärten, und hinter dem großväterlichen Haus lag sogar ein verwahrloster gräflicher Park, ein idealer Spielplatz.

Neben dem belesenen Vater wird der Großvater für sie zur wichtigsten Bezugsperson. Mit seiner Enkelin pflegt er hingebungsvoll die beiden hauseigenen Gärten, gemeinsam pflanzen sie Kamelien und Mimosen – eine Lieblingserinnerung Rodoredas. Doch bestimmen auch Geldsorgen Mercè Rodoredas Leben. Die Grundschule kann sie nicht abschließen, da sie zuhause gebraucht wird, und so lernt sie nie dividieren. Als sie 12 Jahre alt ist, stirbt der Großvater, und bald darauf kommt einer ihrer Onkel, ein "Amerikaner", ins Haus. Die Liebe zum Großvater überträgt sie kurzerhand auf den um 14 Jahre älteren und mit der anziehenden Aura des Reichtums versehenen Mann. Die Zuneigung verwandelt sich im Lauf der Jahre in erotisches Verlangen. Auch aus ökonomischen Überlegungen heiratet Rodoreda an ihrem 20. Geburtstag diesen Mann, mit dem sie kurz darauf ihr einziges Kind hat.

Doch Mercè findet sich mit dem konventionellen Glück als Mutter nicht ab. War einst der Garten ihr Freiraum, ist es jetzt das Schreiben. Die 1930er Jahre bringen in Spanien die formelle Gleichberechtigung der Frau, die Medien befassen sich verstärkt mit der neuen, freien Frau. Rodoreda arbeitet bald für Kultur- und Jugendzeitschriften und begeistert sich für die Ikone der Unangepassten, Marlene Dietrich, der sie 1932 einen Artikel widmet.

Durch den Journalismus erhält Rodoreda Zugang zum pulsierenden Barcelona. In diesen Jahren erscheinen auch ihre ersten beiden Romane, (die sie später nicht mehr gelten lässt) und "Aloma", der einen damals angesehenen Literaturpreis gewinnt, und den sie 1969 grundlegend überarbeitet. Es geht hier sehr zeitgemäß um psychologischen Realismus und Gesellschaftskritik, am Beginn von "Aloma" heißt es: "Mir ekelt vor der Liebe". Die Welt der Protagonistinnen steht der althergebrachten Gesellschaft diametral gegenüber. Unterdrückung und Ausbeutung der Frau führen in diesen Werken ins innere Exil eines Lebens mit der Literatur oder in den Wahnsinn und zum Selbstmord der Opfer.

Nach den entbehrungsreichen Jahren im französischen Exil, das Rodoreda mit dem Lyriker und Übersetzer Prats zusammenführt, steht ihr von Anfang der fünfziger Jahre an mit der gemeinsamen Wohnung in Genf mehr Platz zur Verfügung. Sie findet Ruhe und kann sich verstärkt dem Schreiben zuwenden. Den früheren Erzählungen und Romanen, die teilweise erst später publiziert werden oder gar in der Schublade liegen bleiben, merkt man noch den Einfluss des Neorealismus an. Bald jedoch gewinnt eine prononciert subjektive Erzählhaltung die Oberhand, wie sie auch bei Virginia Woolf oder Katherine Mansfield zu finden ist.

Im wohl bekanntesten Roman Rodoredas, "Auf der Plaça del Diamant", tanzt man regelrecht auf dem Inneren Monolog der Protagonistin durch ein Stadtteilfest in den Roman hinein. Die Lebendigkeit und Poetizität der Sprache überzeugen und stellen das Anliegen, die Unterdrückung und die Überlebensmöglichkeiten der Frau zu thematisieren, in neuer Form dar. Die Befreiung aus der männlichen Tyrannei fordert von den Protagonistinnen, jeglichen Identitätsentwurf als Gefängnis zu erkennen und dennoch die Kraft für den lebenslangen Kampf um Freiräume aufzubringen.

Die dafür nötige Energie liefert in Werk wie Leben der Kontakt zur Natur und die Hinnahme der dabei deutlich werdenden Vergänglichkeit. In dem an der Costa Brava gelegenen Örtchen Romanyà, wo man heute noch das Haus und den Garten besichtigen kann, in denen Rodoreda ihre letzten vier Lebensjahre verbracht hat, bietet sich der Autorin ein imposanter Blick auf Meer und Pyrenäen. Alte Freundinnen aus der Zeit des Bürgerkrieges haben sich ebenfalls dorthin zurückgezogen, und im Austausch mit ihnen, die sich für Esoterik begeistern, baute Rodoreda ihre Bilderwelten.

Heute gibt es in Romanyà einen Rodoreda-Weg, der auf 12 Stationen Natur- und Kulturdenkmäler der Gemeinde verbindet. Anlässlich des Gedenkjahres 2008, in dem dramatisierte Versionen von "Aloma" und "Auf der Plaça del Diamant" zur Aufführung gebracht und mehrere Wanderausstellungen organisiert wurden, hat man auch eine virtuelle Ausstellung ins Netz gestellt, die umfassendes Bild-, Ton- und Textmaterial (auch auf Deutsch) bietet.

Folgende Bücher von Mercè Rodoreda sind im Suhrkamp Verlag Frankfurt erschienen: "Aloma", "Der Tod und der Frühling", "Der zerbrochene Spiegel", "Weil Krieg ist", "Der Fluß und das Boot. Erzählungen", "Reise ins Land der verlorenen Mädchen. Poetische Prosastücke". Alle aus dem Katalanischen übersezt von Angelika Maass.

"Auf der Plaça del Diamant", übersetzt von Hans Weiss.

Die virtuelle Ausstellung findet sich auf: http://www.lletra.cat/expo/mercerodoreda/

Informationen rund um den Rodoreda-Weg auf: http://www.santacristina.net/turisme

Werner Garstenauer, geboren 1975, Autor, Germanist und Deutschlektor in Barcelona.

Printausgabe vom Samstag, 27. Dezember 2008
Online seit: Dienstag, 23. Dezember 2008 16:50:00

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