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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Ein Porträt der französischen Krimi-Schriftstellerin Fred Vargas

Die literarische Archäologin

Von Peter Landerl

Ein älterer Mann sitzt im Herbst auf einer feuchten Bank an der Place de la Contrescarpe. Nachdem er seine Arbeit verloren hat, bringt er nun seine Tage damit zu, auf einer der vielen Pariser Bänke zu sitzen, um das Treiben der Leute zu beobachten. Der Bank an der Place de la Contrescarpe hat er, der alle seine Bänke katalogisiert, die Nummer 102 gegeben. Er nimmt ein Buch und einen Stapel Papier aus einer Plastiktasche und beginnt zu arbeiten.

Er übersetzt ein Buch über das Dritte Reich vom Deutschen ins Französische. Auf der Schulter des Mannes sitzt eine Kröte. Sie heißt Bufo. Der Mann ist Elsässer, darum wird er, obwohl er eigentlich Ludwig heißt, von allen Louis genannt. Als er zufällig einen Blick auf ein Baumgitter wirft, fällt ihm ein kleines, weißes Etwas auf. Er betrachtet es genauer und stellt fest, dass es ein von einem Hund verdauter menschlicher Zehenknochen ist. Wo ein verdauter Zehenknochen ist, da muss auch eine Leiche sein, schließt er messerscharf, und beginnt nachzuforschen.

So setzt, kurz gefasst, der Kriminalroman "Das Orakel von Port-Nicolas" ein. Der Zehenknochen wird den alten Mann, der Kehlweiler heißt und ein ehemaliger Polizeiinspektor ist, sowie drei arbeitslose Historiker bis in die Bretagne führen, wo sie tatsächlich die zum Zeh gehörige Leiche finden und nach abenteuerlichen Ermittlungen den Mord aufklären.

Fred ist eine Frau

Wer lässt sich solch ungewöhnliche Plots einfallen? Fred Vargas. Der Name ist ein Pseudonym. Fred ist kein Mann, sondern eine Frau, der Vorname die Abkürzung von Frédérique, Vargas nennt sie sich nach der von Ava Gardner gespielten gleichnamigen "barfüßigen Gräfin". Auch ihre Schwester Jo, Malerin von Beruf, hat sich den Namen Vargas zugelegt. Gemeinsam mit ihrem Bruder hat Fred Vargas ein starkes Interesse an Geschichte: Er ist Fachmann für den Ersten Weltkrieg, sie arbeitet als Archäologin in Paris, spezialisiert auf mittelalterliche Tierfunde.

Ihre Krimis schreibt die 47-Jährige in den Ferien, weil sie sich neben ihrer archäologischen Arbeit auch noch um ihren zwölfjährigen Sohn kümmert. Mit Literatur beschäftigt sie sich, weil sie in ihrer Musikausbildung, beim Akkordeonspielen, nicht recht vorankam und neben der ernsten Arbeit als Archäologin zum Ausgleich ein anderes Metier betreiben wollte.

Dafür, dass die Literatur eigentlich nur ihre Nebenbeschäftigung ist, ist der immense Erfolg von Fred Vargas in Frankreich umso bewundernswerter. Allein ihr letzter "rompol", wie sie ihre Krimis nennt ("rompol" ist die Abkürzung der französischen Bezeichnung "roman policier"), verkaufte sich über 250.000-mal, die Rezensionen waren hymnisch. Sie hat den Preis der Leserinnen von "Elle" und den französischen Buchhändlerpreis gewonnen. Mittlerweile sind ihre bisher acht Krimis in zwölf Sprachen übersetzt worden, und die Begeisterung für Vargas schwappt auch auf Deutschland über, wo sie am 30. September beim Krimi-Festival "Mord am Hellweg" in Unna den Deutschen Krimi-Preis 2004 entgegennehmen und zum ersten Mal in Deutschland lesen wird. In Österreich ist sie allerdings noch ein Geheimtipp.

Was macht die "Magie Vargas", wie "Le Monde" schrieb, aus? Es ist wohl das liebenswerte Figurenuniversum, das sich in ihren Romanen tummelt. Ihre Helden sind schrullige Außenseiter, eigensinnig, ein bisschen ver- und der Welt entrückt. Vargas lässt ihre Fälle nicht nur von einem einzigen, sondern von verschiedenen Ermittlern lösen, teils miteinander und in wechselnden Konstellationen, was für den Leser umso spannender ist.

Neben dem schon erwähnten Ex-Inspektor Kehlweiler ermittelt der verwirrte, seiner Intuition folgende Jean-Baptiste Adamsberg, der gerne durch Paris spaziert, nachdenkend und für seine Kollegen ein unentschlüsselbares Rätsel bleibend. Unter anderem ermittelt er in "Es geht noch ein Zug von der Gare du Nord". Da tauchen eines Morgens auf den Pariser Trottoirs rätselhafte blaue Kreidekreise auf, in denen verschiedene Gegenstände liegen. Während seine Kollegen die Sache einem harmlosen Spinner zuschreiben, wittert Adamsberg Böses - und er behält Recht, als der erste Tote in einem Kreis liegt.

Adamsbergs Liebe ist Camille, eine Komponistin, die zwischendurch auch als Installateurin arbeitet und sich beim Lesen von Heimwerkerkatalogen entspannt. Doch obwohl die beiden füreinander bestimmt sind, können sie nicht miteinander leben, sie verlassen und treffen einander immer wieder. So etwa auch, als Camille mit ihrem kanadischen Freund Lawrence einen Sommer in den provenzalischen Alpen verbringt. Sie komponiert für eine Fernsehserie, er beobachtet Wölfe, um eine TV-Dokumentation zu drehen. Plötzlich zieht ein Wolf, der in der Öffentlichkeit zum Wolfsmenschen mutiert, mordend umher, reißt erst Schafe, dann einen Menschen. Camille heftet sich, zusammen mit einem alten Schäfer und einem Bauernjungen, an die Fersen des Mörders, doch er entwischt ihnen immer knapp, sodass sie schließlich Adamsberg um Hilfe bittet. Erzählt wird diese Verfolgungsgeschichte in dem Roman "Bei Einbruch der Nacht".

Unfreiwillige Detektive

Sehr skurril sind die unfreiwilligen Hobbydetektive Marc, Lucien und Mathias, von allen nur die drei Evangelisten genannt. In "Die schöne Diva von Saint-Jacques" treffen sich die drei arbeitslosen Historiker zum ersten Mal. Einer ist Spezialist für den Ersten Weltkrieg, der zweite für das Mittelalter, der dritte für Frühgeschichte. Auf fachlicher Ebene herrschen Konkurrenz und Geringschätzung vor, menschlich harmonieren die drei, weil sie alle "in der Scheiße" sitzen, weil sie sich - denn die Wissenschaft wirft kein Geld ab - nur mühsam mit Putzen oder Kellnern durchs Leben schlagen und daher aufeinander angewiesen sind. Sie renovieren eine alte vierstöckige Bruchbude, jeder erhält ein eigenes Stockwerk, oben thront der alte Vandoosler, ein ehemaliger Polizist mit dunkler Vergangenheit. Als im Garten der Nachbarin, einer Opernsängerin, plötzlich ein neu gepflanzter Baum steht, bittet sie beunruhigt die Historiker um Hilfe. Kurz darauf ist sie verschwunden, und die drei Evangelisten, dirigiert von Vandoosler, sind zu Ermittlern geworden.

Über ihre ungewöhnlichen Figuren sagt Vargas: "Diese Welt und ihre Personen sind für mich vollkommen natürlich. Sicher, ich verforme die Wirklichkeit bewusst ein bisschen, oder auch sehr, um mich in einer Welt wiederzufinden, in der ich mich wohl fühle." Die französische Zeitung "Libération" schrieb über die Figuren: "Vargas zieht dem schwarzen Kriminalroman die sanfte Verschrobenheit ihrer Helden vor, die alle ein wenig Loser, ein bisschen einsam, nicht immer nur sympathisch, aber ungeheuer lebendig sind."

Das typisch Französische an Vargas' Romanen ist wohl, dass ihre Einzelgänger nicht hilflos und allein bleiben, sondern - wie viele gemeinschaftsliebende Franzosen - sich finden und zusammenschließen, um geeint der grauen, kalten Welt zu trotzen. Sie gewähren einander Unterschlupf, sind füreinander da - humane Gesten in der Konkurrenzgesellschaft.

Was die Krimis von Vargas so lesenswert macht, sind neben den spannenden Kriminalplots die kleinen Spuren, die sie als gelernte Archäologin geschickt zu legen versteht und die ihre akribischen Ermittler lesen und deuten können. Sie alle haben den "anderen Blick", der auf das scheinbar Nebensächliche gelenkt ist, weil sie Außenseiter und Träumer sind, keine "normalen" Menschen mit Arbeit, Haus und Familie, sondern solche, denen das Leben übel mitgespielt hat. Vargas ködert Ermittler und Leser mit kleinen Rätselchen, Morde passieren nie im Affekt, sondern sind lange geplant und sorgfältig vorbereitet, die Aufklärung erfordert Witz und Verstand.

Im zuletzt erschienenen Roman, "Fliehe weit und schnell", tauchen wieder einige Sonderlinge auf: Joss Le Guern, ein Bretone und ehemaliger Kapitän, arbeitet an der Pariser Straßenkreuzung Edgar-Quinet-Delambre als Ausrufer. Nachdem er als Kapitän zweimal Schiffbruch erlitten hat und wegen Körperverletzung im Gefängnis gesessen ist, geht er nach Paris und wird, nachdem ihm sein Urgroßvater in einer feucht-fröhlichen Nacht erschienen ist, wie sein Vorfahre Ausrufer, d. h. er verliest dreimal am Tag vor versammelten Passanten Lokalnachrichten, die die Betreffenden gegen Bezahlung vorher in eine Urne zu stecken haben.

Normalerweise werden Dinge zum Verkauf angeboten, Geburtstagswünsche bestellt oder Veranstaltungen angekündigt. Nun aber verliest Joss sonderbare Meldungen unbekannter Herkunft: von kleinen Tieren, die sich rasend schnell verbreiten, ist in einem alten Französisch die Rede. Decambrais, ein alter Bücherwurm, der vom Spitzendecken-Klöppeln lebt, hört mit Aufmerksamkeit zu und dechiffriert schließlich die Meldungen: Es sind Ausschnitte aus alten Pestberichten. Decambrais und Le Guern verständigen Kommissar Adamsberg, der sich der Sache annimmt. Gleichzeitig nämlich waren auf Pariser Türen spiegelverkehrte Vieren aufgetaucht, die in Pestzeiten auf Türen und Fensterrahmen aufgemalt wurden, um die Bewohner von der Pest zu verschonen.

Adamsberg ahnt Schlimmes: "Ein stummer Angriff. Und ein bedrohlicher." Dann wird die erste Leiche gefunden: nackt, mit schwarzen Flecken und von Rattenflöhen, den Überträgern der Pest, gebissen, in einer Wohnung, an deren Tür keine verkehrte Vier aufgemalt worden ist. Ein Anhaltspunkt für Adamsberg. Doch in Paris bricht Panik aus, tausende Menschen malen täglich die verkehrte Vier auf ihre Türen, der mediale Druck steigt, als weitere Leichen gefunden werden.

Adamsberg tappt im Dunkeln, und auch mit seiner Geliebten Camille läuft es schlecht. Sie erwischt ihn bei einem Seitensprung und flüchtet, weint sich bei Danglard, Adamsbergs engstem Mitarbeiter, aus. Dieser meint, Gott müsse eine schlechte Nacht gehabt haben, bevor er Adamsberg erschuf, und deshalb Satan um Mitarbeit gebeten haben. Gott gab Adamsberg Intuition, Sanftmut, Schönheit und Anpassungsfähigkeit, der Satan gab ihm Gleichgültigkeit, Sanftmut, Schönheit und Anpassungsfähigkeit. Nicht einfach zu verstehen! Die gottgegebene Intuition bringt den Kommissar jedenfalls beim Betrachten des Aufblitzens der kleinen Meereswellen im Hafen von Marseille auf die Spur des Pestverursachers, der jedoch nicht der Mörder ist. Adamsberg muss weitersuchen.

Code und Geheimnis

Vargas hält am Schema des Kriminalromans fest: "Man muss den Code verschleiern, darf ihn aber nicht zerstören. Und dafür gibt es nur eine Möglichkeit: an allem arbeiten, was den Kriminalroman wie jeden anderen Roman nährt: das Leben, die Wörter, ihre Musik." Neben den unglaublichen, aber realistisch wirkenden Kriminalplots entwickelt sie verästelte Beziehungsgefüge, erzählt fesselnde Geschichten über ihre poetischen Charaktere, sodass nicht allein der Mord und seine Ermittlung im Zentrum des Erzählens stehen. Das Geheimnis der "Magie Vargas": ein gallischer Zaubertrank aus Einfühlungsvermögen, Menschenliebe, Humor, historischem Wissen, Spannung und Fantasie.

Auch nach ihren ungeheuren Erfolgen denkt Vargas nicht daran, ihren Job als Archäologin an den Nagel zu hängen und sich ganz dem Schreiben zu widmen: "Das einzig Wichtige an dieser Sache mit den Büchern ist für mich, dass ich danach wieder an meinen Arbeitstisch zurückkehre und aufs Neue zu schreiben beginne, bescheiden und ganz normal, als wenn es jedesmal das erste Buch wäre."

Darum wird es leider noch ein wenig dauern, bis ein neuer "rompol" zu lesen sein wird, wie "Le Monde" kürzlich bedauernd feststellte.

Im Berliner Aufbau-Verlag sind bisher folgende Romane von Fred Vargas auf Deutsch erschienen: Bei Einbruch der Nacht, Das Orakel von Port-Nicolas, Der untröstliche Witwer von Montparnasse, Die schöne Diva von Saint-Jacques, Es geht noch ein Zug von der Gare du Nord, Im Schatten des Palazzo Farnese, Fliehe weit und schnell.

Freitag, 17. September 2004 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 12:13:00

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