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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Zum 100. Geburtstag des Dichters Reinhold Schneider

Reinhold Schneider: Ein nachdenklicher Beobachter

Von Oliver Bentz

Man muss den Vorhang schon beiseite ziehen, um zu sehen, wo er einst Tag für Tag saß, der Schriftsteller Reinhold Schneider, als er in den Monaten um die Jahreswende 1957/58 an seinem "Arbeitsplatz" im "Café Prückel", Ecke Stubenring/Dr.-Karl-Lueger-Platz sein letztes Buch verfasste: "Winter in Wien" ist das Werk betitelt und enthält, in apokalyptisches Dunkel gehüllt, Schneiders Aufzeichnungen aus dieser Zeit. Nach seinem Tod hat man ihm zu Ehren neben seiner Stammnische (in der Ecke gegenüber der Mehlspeisentheke), die Reinhold Schneider vom Ober immer freigehalten wurde, ein Porträtfoto angebracht. Nachdenklich blickt der Schriftsteller, den Kopf zur Seite geneigt, mit leeren Augen aus diesem schwarz gerahmten Bild herab, das Leiden der Welt verinnerlicht.

Fast sinnbildlich könnte das heutige Schattendasein des Bildes im Kaffeehaus für das Schicksal der über 120 Bücher des vor 100 Jahren, am 13. Mai 1903, in BadenBaden als Sohn eines Hoteliers geborenen Schriftstellers stehen. Denn so wie das Porträt vor der vergilbten Wand mit der Zeit wohl mehr und mehr in Vergessenheit geriet, schwanden auch die Schriften Reinhold Schneiders in den Jahrzehnten nach seinem Tod mehr und mehr aus dem literarischen Gedächtnis. Und wie heute der vom Zigarettenrauch gebräunte Vorhang normalerweise den Blick auf das Bild verdeckt, hat sich auch ein Schleier des Antiquierten über Schneiders bedeutungsschwere, mit vielen historischen und religiösen Anspielungen angereicherte Romane, Erzählungen und Stücke gelegt. Schneider und Wien

Für sein Schauspiel "Der große Verzicht" war Reinhold Schneider 1957 mit dem Preis der Bregenzer Festspiele ausgezeichnet worden. Die Vorgespräche zur geplanten Uraufführung des Stücks durch das Burgtheater im Jahr darauf führten ihn im Sommer des Jahres das erste Mal nach Wien, in die Stadt, "die Stern und Verlockung für mich war in den frühesten Jahren und die zum ersten Mal zu betreten ich erst diesen Sommer den Mut fand". Die Erfahrungen dieses ersten Besuchs bewogen ihn dazu, im Winter wiederzukommen, denn Wien hatte "wie zu erwarten oder zu befürchten war, das Netz über mich geworfen", und "zog mich nach wenigen Monaten zurück".

Vom 5. November 1957 bis 6. März 1958 hielt sich Reinhold Schneider dann in Wien auf, wo er "keine Begegnungen" suchte, sondern sich ganz "der Strömung" der Stadt überließ. Auch in der Pension Arenberg am Stubenring, in der er in dieser Zeit wohnte, findet sich heute noch sein Porträtfoto in der Galerie berühmter Gäste gegenüber der Rezeption. An der Eingangstür erinnert zudem eine Gedenktafel an den Aufenthalt des "Schriftstellers, Christen und Europäers", der hier an "Winter in Wien" arbeitete. Auf ihr wird einer der zentralen Sätze aus diesem Werk zitiert: "Es geht nicht um einen Austausch mit dem unauslotbaren Phänomen Wien, sondern um ein Hören, Empfangen, um die lernende Existenz in dieser Stadt."

Die Eindrücke, Erlebnisse und Reflexionen seines Aufenthalts hielt Schneider auf Anregung des Herder Verlages in Tagebuchform fest. In einer Art Suche nach der verlorenen Zeit zog es Schneider zu den Stätten der Babenberger und der Habsburger, deren jahrhundertelange Herrschaft er bewundernd den Entwicklungen seiner Zeit entgegenstellte, die er auf dem "Weg zum Untergang" sah. Sinnbildlich für das Abfallen der Gegenwart gegenüber der imperialen Vergangenheit wurde für ihn die Tatsache, dass "statt der Kaiser (heute) die Atombehörde in Wien residiert".

Die politische und gesellschaftliche Entwicklung zeichnete er in düsteren Farben, wobei vor allem die Technisierung des Lebens und die rasante Entwicklung der Wissenschaften sein Misstrauen weckten. Mit ihnen sah er auch die Unmenschlichkeit der politischen Macht anwachsen. Die Existenz von Atomwaffen begriff er als den "Selbstmord der Welt".

Von körperlichen Gebrechen und Schwermut des Gemüts gezeichnet, blickte Schneider in "Finsternisse" und auf "Dunkelwolken" und sah in alltäglichen Beobachtungen und in kleinen Zeitungsmeldungen von Katastrophen aus aller Welt, die er bei der Lektüre in den Kaffeehäusern entdeckte und über die er ausführlich in seinen Aufzeichnungen berichtete, den Beweis für seine düstere Weltsicht. "In die Mitte des Jahrhunderts hinein und aus ihr heraus geschrieben, mit seinem Schrecken im Genick und vor Augen", so der Autor Arnold Stadler bewundernd über "Winter in Wien", fragt Schneider, "was das für eine Welt ist, auf der wir leben, und mit was für Menschen darauf, unsicher, ob der Mensch ein Mensch oder ein Unmensch ist, ungewiss, ob verloren oder aufgehoben in der Unendlichkeit."

Augenfällig wurden für Reinhold Schneider das zu Ende gehende Zeitalter bürgerlicher Kultur in Europa und der "Verfall glaubens- und staatloser Gesellschaftstrümmer, die natürliche Neigung zum Chaos, die von ordnenden Gegenkräften nicht mehr aufgehalten wird", während des Betrachtens der alle Werte verneinenden, nihilistischen amerikanischen Gegenwartsstücke, die in den großen und kleinen Theatern der Stadt reichlich gegeben wurden. Glücksmomente bescherten ihm nur die Besuche von diversen Operettenaufführungen, die sich der bisher diesem Genre wenig aufgeschlossene Schriftsteller hier gönnte, und die Begegnungen mit befreundeten Menschen wie Felix Braun, Franz Theodor Csokor, Oskar Maurus Fontana, Hans Fronius oder der Familie des verstorbenen Schriftstellers Richard von Schaukal.

Macht, Geist und Glauben

Wer war dieser Reinhold Schneider, der in "Winter in Wien" einerseits so liebend auf diese Stadt und ihre Geschichte blickte und aus dem andererseits während dieses Schauens in so "beängstigender Eindringlichkeit die Qual seines Welterlebens" (Claus Ensberg) herausbrach, dass er selbst konstatierte, "in Wien" sei "mit (ihm) Unsagbares geschehen"?

Schneiders Vorfahren gehörte das bekannte Hotel "Messmer" in Baden Baden, auf dessen Balkon über 40 Jahre lang seine Majestät Kaiser Wilhelm und dessen Gattin Auguste die Huldigung der Einheimischen und der Kurgäste entgegengennahmen. Dem Abriss des Hauses im Winter 1957 im Zuge des damals in Deutschland grassierenden Stadterneuerungswahns wohnte der Schriftsteller als nachdenklicher Beobachter bei. Er thematisierte das Verschwinden des Gebäudes, in dem er einen großen Teil seiner Kindheit und Jugend verbracht hatte, in dem Buch "Der Balkon", dem Resümee einer Epoche im historischen und persönlichen Rahmen, welchem er den Untertitel "Aufzeichnungen eines Müßiggängers in Baden-Baden" gab.

Nach dem Abitur versuchte sich Schneider vergeblich in verschiedenen Berufen und wollte sich 1922, im Todesjahr des durch die Inflation verarmten Vaters, in einer durch Schopenhauer- und Nietzsche-Lektüre noch verschärften Untergangsstimmung das Leben nehmen. Lange Zeit dauerte es, bis er sich von dieser persönlichen Krise einigermaßen erholt hatte und inneren Halt in der urchristlichen Glaubenskraft fand. Seit 1928 lebte er als freier Journalist und Schriftsteller u. a. in Potsdam, wo er im Haus des deutschen Kronprinzen verkehrte. Auf seinen zahlreichen Reisen, die ihn mehrfach nach Portugal, Spanien, Italien sowie nach England und Skandinavien führten, sammelte er das Material und die atmosphärischen Stimmungen für seine geschichtskritischen Bücher.

Die Historiografie war das Genre, in dem sich Schneider am wohlsten fühlte. Zentrale Themen seines Werks sind Macht und Gnade sowie die Spannung zwischen Weltreich und Gottesreich. Geschichte vollzieht sich für Schneider zwischen Macht, Geist und Glauben, wobei er die negativen Aspekte der Macht betont und ihnen das Opfer und den Verzicht entgegen hält.

Der Vereinzelung des Menschen in der modernen Gesellschaft stellte Schneider die heroischen Lebensformen der Vergangenheit gegenüber. So im kurz vor der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland erschienenen Buch "Die Hohenzollern", in dem er vor dem Hintergrund der aufkommenden Hitler-Diktatur für die Wiedergewinnung des monarchistischen Denkens warb. Als Schneider 1935 den abgedankten Wilhelm II. im holländischen Exil besuchte, zeigte er sich vom Kaiser enttäuscht: "Aus der echten Repräsentanz (. . .) war Wilhelm II. im Suchen nach dem Effekt in das Leere geglitten."

Widerstand gegen Hitler

Nach kurzer Sympathie für den Konservatismus von Papen'scher Prägung wandte sich Schneider schon wenige Wochen nach der "Machtergreifung" gegen den Nationalsozialismus und wurde einer der Hauptrepräsentanten des katholischen Widerstands gegen Hitler. Unter dem Eindruck der Vorgänge, die ihm aus dem Konzentrationslager Dachau bekannt wurden, entstand 1934 seine Erzählung "Der Tröster" über das wagemutige Wirken des Jesuiten Friederich von Spee gegen den Hexenwahn und das Leiden der Verfolgten. Mit seinem 1938 erschienenen Buch "Las Casas vor Karl V. - Szenen aus der Konquistadorenzeit" wandte er sich gegen die Verfolgung der Juden und sein Essayband "Macht und Gnade. Gestalten, Bilder und Worte in der Geschichte" (1941) wirkte hinein in die studentische Widerstandsgruppe der "Weißen Rose" und in den "Kreisauer Kreis", zu dessen Vertretern er auch persönliche Kontakte hatte.

Reinhold Schneiders Bücher durften seit dem Jahr 1940 nicht mehr verkauft werden, kursierten aber in hektographierter Form in Oppositionskreisen, unter Soldaten der Wehrmacht, wo sie von Heeresgeistlichen verteilt wurden, ebenso wie unter den Häftlingen in den Lagern der Nazis. Der Schriftsteller wurde, so Friedrich Heer, zum "Helfer Ungezählter inmitten der Barbarei". Noch kurz vor Kriegsende ließen die braunen Machthaber wegen des 1944 durch einen Pfarrer veröffentlichten Bandes "Das Gottesreich in der Zeit. Sonette und Aufsätze von Reinhold Schneider" einen Hochverratsprozess gegen Schneider einleiten, dessen Durchführung aber vom Ende des "Dritten Reiches" verhindert wurde.

Mit eben dem Engagement, mit dem er sich mit seinen Mitteln dem "geistigen Sanitätsdienst" im Nazi-Reich verschrieben hatte, trat Schneider nach 1945 gegen den Kalten Krieg auf und appellierte immer wieder an das Gewissen der Völker. Er protestierte gegen die Wiederbewaffnung in der Bundesrepublik sowie gegen die weltweite atomare Aufrüstung und hielt ketzerische Reden gegen Rom und die Entwicklungen der katholischen Kirche seiner Zeit, deren Ansicht vom "gerechten Krieg" er scharf zurückwies. Damit brachte er Teile der deutschen Öffentlichkeit gegen sich auf und wurde "einmal als Jude, dann als Kommunist" oder "als geistig umnachtet" heftig angefeindet und verleumdet.

So auch, als er im Februar 1951 in der Ostberliner Zeitschrift "Aufbau" den Appell veröffentlichte, dass "ein geteiltes Volk, das in der Gefahr des Bruderkrieges ist und dessen Land zum Schlachtfeld der Welt werden kann", sich nicht bewaffnen dürfe. "Gestern abend", beschreibt Schneider sarkastisch die heimische Reaktion auf seine Initiative, "rief das Ordinariat an, ob ich noch da sei: Eine Zeitung habe gemeldet, ich hätte bereits einen Posten in Russland angetreten. So kämpft 'man'". Die zahlreichen Ehrungen, die Schneider kurze Zeit später erhalten sollte (so bekam er u. a. 1952 den Orden "Pour le mérite" und 1956 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels sowie zahlreiche Ehrendoktorate) täuschen heute über die Hetzkampagnen hinweg, denen der Autor - vor allem auch von Seiten der katholischen Presse - in einem der hässlichen Konflikte zwischen Geist und Macht in der frühen Bundesrepublik ausgesetzt war.

Dies alles ging nicht spurlos an Reinhold Schneider vorbei, denn in der angeheizten Hysterie war "eine Verteidigung nicht möglich. Das Ziel ist erreicht: man wagt nicht mehr mit mir zu arbeiten". In Anbetracht dieser Erfahrungen und der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit wurde Reinhold Schneider wieder vom Pessimismus seiner Jugend überfallen, der dann auch die späten Bekenntnisbücher bestimmt, von denen "Winter in Wien" das letzte werden sollte.

Vier Wochen nach seiner Rückkehr aus Wien stürzte Reinhold Schneider am Karsamstag auf dem Heimweg von der Freiburger St.-Cyriaks-Kirche auf die Straße. Einen Tag später, am 6. April 1958, erlag er der schweren Schädelverletzung, die er sich dabei zugezogen hatte. Kurz vor seinem Tod hatte er

noch die druckfertige Fassung von "Winter in Wien" vollenden können.

Literaturhinweise: Eine Neuausgabe von Reinhold Schneiders "Winter in Wien" erschien soeben im Herder Verlag, Freiburg, 300 Seiten.

Im Insel Verlag ist eine Sammlung von Essays, Erzählungen und Gedichten Reinhold Schneiders erschienen: "Der Wahrheit Stimme will ich sein." Insel Verlag, Frankfurt. Herausgegeben von Karl-Josef Kuschel und Carsten Peter Thiede, 250 Seiten.

Freitag, 09. Mai 2003 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 12:17:00

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