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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Die Renaissance des Schriftstellers und Philosophen Albert Camus

Camus: Ein "Linker wider Willen"

Von Günther Fischer

Paris, 10. Arrondissment. Die rue Albert Camus ist eine kleine unscheinbare Seitenstraße, die unweit des idyllisch renaturierten und von vielen Booten befahrenen Canal St. Martin verläuft und bald in die rue Georg Friedrich Händel übergeht: Mehr erinnert selbst in der Millionenstadt Paris nicht an Albert Camus. Und so oder ähnlich ist es in ganz Frankreich: Ein paar Straßen, viele Plätze und jede Menge Schulen sind nach dem Nobelpreisträger des Jahres 1957 benannt. Als streitbarer Intellektueller und heroischer Moralist, der er Zeit seines Lebens gewesen ist, war er aber in Vergessenheit geraten.

Bis vor kurzem. Vier Jahrzehnte nach seinem dramatischen Unfalltod am 4. Jänner 1960 besinnt sich Frankreich wieder auf den Schriftsteller Albert Camus. Und das nicht ohne Grund: Seit dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 ist aggressives, auch fundamentalistisches Argumentieren und Handeln wieder gerechtfertigt. Die Amerikaner marschieren mit ihren Soldaten am Golf auf, die Briten geben die willigen Claqueure, und im Jänner 2003 bat auch der französische Staatspräsident Jacques Chirac seine Soldaten, sich auf den Fall der Fälle vorzubereiten. Während El Kaida die Welt terrorisiert und US-Präsident Bush sie an den Rand eines neuen Krieges führt, wirken Camus' besonnene Ideen wie die von der "Unverletzbarkeit der menschlichen Person", wieder bestürzend aktuell.

Eintreten für humane Werte

Die Rückkehr dieses engagierten Denkers, der sich als "Linker wider Willen" verstand, ist um so bemerkenswerter, als es gerade sein gegen Menschenverächter, selbstgerechte Weltverbesserer und Kriegstreiber gerichteter Humanismus war, der einst alle Seiten gegen ihn aufbrachte - Linksintellektuelle ebenso wie staatstragende rechte Politiker und Philosophen. Sein hartnäckiges und unnachgiebiges Eintreten für humane Werte, sein Engagement gegen Maßlosigkeit, Überheblichkeit, Dogmen und Gewalt veranlasste während des für Frankreich so traumatischen Algerienkrieges sogar Jean-Paul Sartre, von ihm abzurücken.

Auslöser dieses wohl heftigsten Streits, der je unter französischen Intellektuellen ausgetragen wurde, war Camus' 1952 erschienener Essay "Der Mensch in der Revolte". Zuvor aber hatte er schon in den "Carnets", seinen Tagebüchern, festgehalten: "Der Gewalttat ihre Eigenart als Bruch, als Verbrechen bewahren - das heißt, sie nur akzeptieren, wenn sie mit persönlicher Verantwortung verbunden ist." Ein grundlegender Gedanke, der Notwehr wohl erlaubt, Krieg aber verbietet. Damit grenzte sich Camus entschieden von der staatlich organisierten und legitimierten politischen Gewalt ab, wie er sie durch das nationalsozialistische Deutschland und dann in den Herrschaftspraktiken der Sowjetunion und der von ihr dominierten Staaten kennen gelernt hatte. Im Essay selbs verfolgte Camus dann sein politisch-moralisches Hauptthema, das staatlich sanktionierte Großverbrechen mit ideologischer Rechtfrtigung, von seiner Entstehung am Beginn des 19. Jahrhunderts bis zu seinen traurigen Höhepunkten, den Massenmorden im Zeichen natinalsozialistischer und stalinistischer Ideologien.

Gerade damit aber hatte er einen sehr sensiblen Punkt im Denken und Verhalten der ihn umgebenden Pariser Intellektuellen getroffen: Die Existenz von Konzentrationslagern in der Sowjetunion war als Tatsache bekannt. Darüber, wie man sich zu ihr zu verhalten habe, wurde im Sartre-Kreis erbittert gestritten. Camus hatte seine Haltung unmissverständlich klar gemacht: Er werde diesen Tatbestand benennen und verurteilen. Sein Kontrahent in der Debatte um "Der Mensch in der Revolte" hingegen, Jean-Paul Sartre, hielt eine eindeutige Stellungnahme zum stalinistischen Terror für inopportun, da für ihn das Bestehen der Sowjetunion immer noch Garant einer erwünschten revolutionären Veränderung war. Was Camus in den "Carnets" zu der sarkastischen Bemerkung veranlasste: "Zu denken ist die Geschichte leicht, einzusehen aber schwer für all jene, die sie am eigenen Leib erfahren."

Der Angriff auf Camus' moralische Streitschrift und auf seine Person kam aus der von Sartre geleiteten Zeitschrift "Temps modernes". Sartres Verriss des Camus'schen Essays endete mit der Ankündigung des Abbruchs jeglicher Kommunikation - die Verletzung, die er Camus damit zufügte, erwies sich als irreparabel, die beiden Denker waren von nun an geschiedene Leute. Seine Bitterkeit über den Opportunismus und das Meinungsdiktat des Sartre-Kreises vertraute Camus erneut den "Carnets" an: "Emporkömmlinge des revolutionären Geistes, Neureiche und Pharisäer der Gerechtigkeit. Sartre, der Mensch und der Geist, nicht loyal . . ." Der übermächtige Sartre-Kreis vom "Rive Gauche" diktierte in den folgenden Jahrzehnten das intellektuelle Geschehen Frankreichs und trug wesentlich dazu bei, dass Camus' Werk langsam aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwand. Der Lauf der Geschichte bestätigte schließlich Camus' scharfe Kritik am Marxismus und der Sowjet-Diktatur und rückte den zunehmend nach linksaußen abgedrifteten Widersacher Sartre spät, aber doch ins hintere Glied.

Engagierter Journalismus

Zahlreiche Neuveröffentlichungen begleiten jetzt die Rückkehr des Mannes, dessen Denken zu seinen Lebzeiten bisweilen auch als "Rotkreuz-Moral" (so sein Widersacher und Sartre-Parteigänger Francis Jeanson) diffamiert worden war. Nicht nur sind alle seine Romane und Essays in den Buchhandlungen präsenter denn je, mit "Camus à Combat" liegen auch erstmals alle 165 Artikel des Journalisten Camus vor, die dieser zwischen dem 21. August 1944 und dem 3. Juni 1947 als Chefredakteur und Verfasser unzähliger prägnanter Leitartikel der Résistance-Organs "Combat" veröffentlicht hatte. Seine gewissenhaften Analysen zur französischen Innen- und Außenpolitik, zur schwierigen Rückkehr seines Landes in die Demokratie, zur Kolonialpolitik, zu den Rechten, Pflichten und Aufgaben einer neuen Presse und zu seinem Traum von internationalen Organisationen, die den Frieden in der Welt garantieren könnten, haben bis heute nichts an Gültigkeit verloren. Es war kaum mehr bekannt, dass Camus selbst als Journalist Wegweisendes geleistet und schon sehr früh auch Regeln fürs Journalistenhandwerk aufgestellt hat: "Ein Journalist ist
der Geschichtsschreiber jedes einzelnen Tages. Zweifelhafte Wahrheiten darf er nicht als gesicherte Wahrheiten darstellen, Unsicherheiten soll er zugeben, und keines Systems Diener oder Partei soll er sein."

Wieder erschienen sind auch die "Réflexions sur le terrorisme" und die "Chroniques algériennes". Die Aufzeichnungen des aus dem algerischen Mondovi stammenden Camus erstrecken sich über 20 Jahre - von 1939, als sich noch niemand dafür interessierte, bis 1958, als die ganze Welt über diese ehemalige französische Kolonie sprach. "Keine Sache rechtfertigt den Tod Unschuldiger", lautete das Urteil von Camus schon, als Frankreich noch über den Algerienkrieg stritt. Und: Es gebe keinen Zweck, der alle Mittel heiligt: "Falsche Ideen enden im Blut der anderen."

Radio France Culture sendete eine ganze Reihe von Beiträgen, die das Werk dieses Ausnahmedenkers von allen Seiten beleuchtete. Selbst die Zeitschriften staunten: "Da schau her, Albert Camus ist wieder da. Dabei hatte man doch geglaubt, ihn gut an seinen Ruhm angekettet zu haben", wunderte sich das Pariser Wochenmagazin "Le Point". Es ließ sich im November 2002 eine Seite lang über den Mann aus, der den Menschen als von Gott verlassen und auf sich selbst zurückgeworfen beschrieb (in Büchern wie "Der Mythos von Sisyphos" oder "Die Pest"): "Man hatte ihn in die Schulbücher eingesperrt, auf die Seiten der Enzyklopädien verdammt, im Verlies der so genannten großen Männer eingekerkert." Aber: Seine Prosa spreche uns mehr denn je an, hieß es in diesem Beitrag weiter, "denn was er geliebt hat, ist liquidiert worden: der Sinn für Brüderlichkeit." Auch die Tageszeitung "Le Monde" widmete dem Autor eine ganze Reihe von Beiträgen und bescheinigte ihm, stets "unbeirrt für ein abwägendes Denken und Handeln" eingetreten zu sein.

Abwägendes Denken

In diesem abwägenden Denken liegt Camus' größte Bedeutung für die Gegenwart: Er hat den Abschied von allen Rechtfertigungsideologien schon zu Zeiten vollzogen, da das noch nicht, wie nach dem Fall des Kommunismus, als geistiges Sonderangebot zu haben war. Wie er einst den Nationalsozialismus bekämpft hatte, so weigerte er sich später, dem Stalinismus und jeder anderen im Zeichen der Revolution oder des Klassenkampfes herrschenden Barbarei die Absolution zu erteilen. "Für den Künstler gibt es keine privilegierten Henker", lautete Camus' Verdikt. Und: "Man darf nicht zwischen guten und bösen Konzentrationslagern unterscheiden." Ein berühmt gewordener Satz, bei dem man heute durchaus an den US-Stützpunkt Guantanamo-Bay im Osten Kubas denken sollte, in dem die US-Militärs afghanische und pakistanische Gefangene internieren und ihnen lange Zeit das Recht auf zivile Behandlung verweigerten.

Dank seiner moralischen Integrität war Albert Camus nicht zu vereinnahmen: Der Kapitalismus hat trotz seiner Kommunismus-Kritik in ihm keinen Apologeten gefunden, auch nicht die amerikanische Atombombe auf Hiroshima. Noch im Krieg erkannte er das Unheil einer tödlich strahlenden Zukunft. Was Camus aber Zeit seines Lebens vorlebte, war die lautere Haltung eines unbeugsamen Humanisten: Selbst der schlimmste Feind ist noch ein Mensch . . . Wo auch immer momentan Krisenherde bestehen, Lösungen mit der Waffe gesucht werden - ob in Nahost, in Tschetschenien oder anderswo: Camus' Warnung vor einer international akzeptierten Kultur der Gewalt gilt unvermindert.

Ein streitbares Leben:
Albert Camus wurde am 7.11. 1913 in Mondovi (Algerien) geboren. Er war ein Jahr alt, als sein Vater im Ersten Weltkrieg starb. Die Mutter zog mit den beiden Kindern nach Algier. 1930 erlitt Camus als Gymnasiast seinen ersten Tuberkuloseanfall. Von 1933 bis 1936 studierte er in Algier Philosophie. Er heiratete Simone Hue, die Ehe wurde bald gelöst. Camus trat 1934 der KP Algeriens bei, jedoch ein Jahr später wieder aus. Er gründete das "Théâtre du travail",, als Journalist prangerte er die kolonialen Ungerechtigkeiten in Algerien an.

1939 meldete sich Camus zum Militär, wurde aber wegen gesundheitlicher Probleme abgelehnt. 1940 heiratete er Francine Faure. 1942 ging er endgültig nach Frankreich und trat dort der Widerstandstruppe "Combat" bei. Der Roman "L'étranger" (Der Fremde) und der Essay "Le mythe de Sisyphe" (Der Mythos von Sisyphos) werden veröffentlicht. Camus erlangte erstmalig literarisches Ansehen.

Ende 1943 arbeitete er als Lektor beim Verlag Gallimard und veröffentlichte den ersten "Brief an einen deutschen Freund". Er wurde mit Sartre bekannt und war Mitbegründer der Zeitung "Combat". 1944 fand die Uraufführung des Dramas "Le malentendu" (Das Missverständnis) in Paris statt.

1946 reiste Camus nach Amerika und sprach vor Studenten in New York. Als 1947 der "Combat" den Besitzer und die politische Richtung wechselte, verließ Camus die Zeitschrift. Der Roman "La peste" (Die Pest) wurde mit dem "Preis der Kritik" ausgezeichnet.

1948 und 1949 wurden die Dramen "L'état de siège" (Der Belagerungszustand) und "Les justes" (Die Gerechten) veröffentlicht. 1951 erschien die Essaysammlung "L'homme révolté" (Der Mensch in der Revolte), worauf Camus nach einer Auseinandersetzung den Kontakt zu Sartre abbrach. 1952 trat Camus aus der UNESCO aus, da Franco-Spanien dort aufgenommen worden war. 1957 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur zuerkannt. Am 4. 1. 1960 starb Camus in Frankreich bei einem Autounfall.

Literatur: "Camus à Combat". Gallimard

(Cahiers Albert Camus), 746 Seiten.

"Réflexions sur le terrorisme". Nicolas Philippe, 128 Seiten.

"Chroniques algeriennes", 1939-1958». Poche, 212 Seiten.

Camus' Hauptwerke (u. a. "Der Fremde", "Die Pest", "Der Mythos von Sisyphos", "Der erste Mensch") sind auf Deutsch und Französisch lieferbar.

Freitag, 07. Februar 2003 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 12:17:00

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